Nietzsche, Bataille und – al-Ghazali?! Zur Rolle der Musik in der islamischen Mystik

In meinem letzten Beitrag habe ich versucht, das Verständnis von Kunst, besonders in Hinblick auf Musik und Fest, gemäß Nietzsche und Bataille zu skizzieren. Dabei spielte die Unterscheidung von Dionysischem und Apollinischem bei Nietzsche einerseits und die von „verschwenderischem Aufbrausen“ und „bewahrender Besonnenheit“ bei Bataille andererseits eine zentrale Rolle. Erstaunlicherweise findet man nun eine sehr ähnliche Auffassung auch in einem Kontext wieder, der zeitlich deutlich früher zu verorten ist – im Mittelalter – und in einem deutlich anderen religiös-kulturellen Kontext beobachtet werden kann, nämlich innerhalb des Islams.

Musik in islamischen Kulturen – Ein heterogenes Bild

Landläufig sind im Islam – zumal in seinen orthodoxeren Ausprägungen, von der Koranrezitation einmal abgesehen – das Singen und die Musik, wie das Berauschende allgemein, eher verpönt, denn das Verspielte, mit dem Rausch Assoziierte passt nicht recht mit der für richtig erachteten Frömmigkeit zusammen. Allerdings fand bzw. findet eine rigorose Auffassung nur bedingt Realisierung in den vielfältigen Kulturen und Gesellschaften, die gemeinhin als islamische Welt verstanden werden. Entsprechend konnte sich die Musik innerhalb dieser Welt, welche als „Schmelztiegel der Tonkunst“ fungierte, schon im 7. und 8. Jh. zu einer Blüte entwickeln (Thoraval, S. 251) und sich späterhin ausdifferenzieren. Neben der üblichen „weltlichen“ Musik, welche ihre Wurzeln in vorislamischer Zeit hat, sei an dieser Stelle insbesondere auf die Rolle der Musik bei den islamischen Mystikern, den Sufis, verwiesen. Unter den Sufis hat die Musik – gemäß soziokulturell-geographischen Verschiedenheiten – einen mehr oder weniger sicheren Platz innerhalb der religiösen Praxis gefunden, wofür die tanzenden Derwische nur das populärste Beispiel sind (vgl. hier allgemein Frembgen, S. 167-179). Einige Sufis haben dabei auch interessante theoretische Betrachtungen über die Rolle der Musik angestellt, wovon im Folgenden die Ausführungen von al-Ghazali herausgegriffen sein sollen.

Al Ghazali – Eine vielseitige Persönlichkeit

Al-Ghazalis Verortung hat nicht selten Diskussionen darüber ausgelöst, ob er denn nun Theologe, Jurist, Philosoph oder Mystiker sei. Gemäß einer gewissenhaften Zusammenschau seiner Werke kann man eine eindeutige Zuordnung zu einer der Komponenten aber kaum redlich vornehmen. Vielmehr finden sich Aspekte aller dieser Charakterisierungen wieder, nicht zuletzt auch solche der Mystik. Und in eben diesem Kontext befasst sich al-Ghazali auch mit dem Thema Musik, im 18. Buch „Über die Gepflogenheiten des Hörens und der Ekstase“ seines Großwerkes „Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“ (Überblick zu Buch 18 vgl. Walther, S. 387-397).

Dass im Islam durch die eingangs erwähnte Rigorosität ein Rechtfertigungsdruck hinsichtlich des Hörens von Musik (samāˁ) besteht, wird deutlich daran, dass die Frage nach der Erlaubtheit von Musik bei al-Ghazali in einem nicht unerheblichen Teil von Buch 18 abgehandelt wird. Gemäß Lewisohn ist das ganze Buch „devoted to the defence of samāˁ” (Encyclopaedia of Islam, Bd. XI, S. 23), und al-Ghazali kommt darin schließlich zu einer sehr maßvollen Einschätzung: „Music and Singing is [sic] sometimes absolutely forbidden and sometimes permissible and sometimes disliked and sometimes to be loved“ (al-Ghazali, On music and singing, Teil 3, S. 13). Dieses Urteil mag manchem vielleicht uneindeutig anmuten, doch ist es letztlich sehr differenziert und zeigt bereits auf der islamrechtlichen Ebene die aufgeschlossene Haltung al-Ghazalis zur Musik an.

Sufisches Hören von Musik – Vom bloßen Reiz zur Entrückung

Interessanter als diese in den Bereich des islamischen Rechts hineinreichenden Einschätzungen sind für uns hier aber die Abschnitte, die sich mit den Zuständen beim Musikhören auseinandersetzen. Al-Ghazali unterscheidet hierbei vier Arten. Die erste Art des Hörens ist dasjenige, welches nach dem physischem Gepräge erfolgt, also einen physischen Reiz auslöst, der Vergnügen bereiten kann. Dies sei aber nicht spezifisch menschlich, sondern allen Wesen mit Gehör eigen (vgl. al-Ghazali, On music and singing, Teil 2, S. 705). Im zweiten Fall des Hörens spielten dann schon die Zustände und das Bewusstsein des Menschen eine wichtige Rolle, doch stehe hier immer noch der Genuss als Kreatur im Vordergrund (ebd. S. 705f). Die dritte Art ist die, mit welcher das sufische Hören von Musik eigentlich anhebt, die Beziehung zum Göttlichen einfließt (ebd. S. 706) und der Mensch seelisch und geistig berührt wird (vgl. die Erzählung S. 708f). Dabei erfährt der Mensch aber noch wechselhafte Zustände. In der vierten Form des Hörens schließlich spielen diese wechselhaften Zustände und Stufen kaum mehr eine Rolle und in ihr werden Entwerden, fanā‘ und Ekstase, wağd, erfahren (ebd. S. 716ff, 719ff und Teil 3, S. 5ff). Der Hörer wird also von seiner individuell-subjektiven Disposition entgrenzt, Ich-Bewusstsein und bewusstes Wollen lösen sich auf.

Die Nähe zu Nietzsche und Bataille

In letzterem tritt die nun die Nähe zum Entwurf von Nietzsche bzw. Bataille hervor. Denn auch bei diesen beiden geht es ja wesentlich um die zumindest zeitweise Entgrenzung des Individuums in seiner Beschränktheit im Rahmen des Festes. Bei al-Ghazali ist der räumlich-zeitliche Rahmen sehr ähnlich durch das Hören und Tanzen bei der Darbietung von Musik gegeben. Das Entwerden beim ektstatischen Hören hat aufgrund der Entgrenzung– ebenfalls ähnlich zu Bataille – den Charakter des Entwerdens vom Dinglich-Dinghaften bzw. der Auflösung des Dinghaften: „Whenever anyone passes away from himself, he must pass away from all besides himself; then it is as though he passed away from everything“ (al-Ghazali, On music and singing, Teil 2, S. 716). Der Hörer versinkt letztlich im Einen, was zumindest formal an Batailles Rückkehr zur Immanenz des Seins erinnert. Interessanterweise ist das Entwerden bei al-Ghazali nicht nur auf die äußerlich-materielle Welt bezogen, sondern bedeutet auch die Loslösung von inneren Zuständen und Formen, der Sufi entwird auch von seinem Bewusstsein und der betrachtender Tätigkeit (ebd. S. 716f). Der letzte Zustand des wağd, der Ekstase, beinhaltet teils einen unheimlichen Charakter des Gewaltvollen – wie er abermals bei Batailles Konzept eine wesentliche Rolle spielt – wenn es z. B. heißt: „and the blood flowed from his legs […]. And he lived after that a few days and died.“ (ebd. S. 717; Schilderung außergewöhnlicher Sufi-Bräuche, inklusive Rauschmittelgebrauch allgemein bei Frembgen, S. 180ff). Wie auch immer die Ekstase aber nun beschaffen sein mag, sie obliegt nicht den Möglichkeiten und der Kontrolle des Menschen, „if it should last, human strength could not endure it“ (al-Ghazali, On music and singing, Teil 2, S. 717).

Letztere Einschätzung erfährt an anderer Stelle im Text eine Ergänzung, was die Parallele zu Nietzsche und Bataille nochmals verstärkt. Es heißt, dass „whenever volition returns to him [dem ekstatischem Tänzer] let him return to his stillness and to his repose“ (al-Ghazali, On music and singing, Teil 3, S. 4). Al-Ghazali schreibt weniger später noch deutlicher, dass „the force of ecstasy moves the external manifestations, and the force of reason and self-restraint controls them, and sometimes one of them overcomes the other“ (ebd. S. 5f). Es gibt also einen Kampf zwischen der Kraft der Ekstase und der Kraft der Vernunft bzw. des Zusammenhaltens (tamāssuk). Der Mensch kann phasenweise überwältigt werden und völlig außer sich sein, dann aber auch wieder die Kontrolle durch sein willentlich-rationales Bewusstsein zurückgewinnen und Herr seines Ausdrucks sein. Dies erinnert ganz deutlich an Nietzsches Unterscheidung zwischen Dyonysischem und Appolinischem bzw. zwischen Batailles nicht beherrschbarem Aufbrausen und kontrollierender Besonnenheit.

Eine universelle Kontinuität?

Zusammengefasst kann man bei den hier skizzenhaft geschilderten Ansätzen von Nietzsche-Bataille und al-Ghazali das Modell einer parallelen Struktur herausarbeiten. Diese ist gekennzeichnet durch das Gefüge aus erstens dem künstlerischem und musikalischem Ausdruck, zweitens durch dessen Darstellung und Wahrnehmung in einem dafür vorgesehenen, zeitlich-räumlich begrenzten Rahmen (Fest, Konzert) und drittens durch die dabei mögliche Erfahrung außerordentlicher geistig-seelischer Zustände wie Rausch bzw. Ekstase, die ihrerseits ebenfalls wieder Ähnlichkeiten zueinander aufweisen. Das Vorhandensein dieser parallelen Struktur deutet auf ein ähnliches Verständnis und ähnliche Erfahrung von Musik und Fest hin, trotz der jeweils sehr unterschiedlich geprägten Gesellschaften und des immensen zeitlichen Grabens von etwa 900 Jahren. Wo dabei ideen- bzw. mentalitätsgeschichtliche Wurzeln und Beeinflussungen liegen, kann an dieser Stelle unmöglich erörtert werden. Zudem stellt sich grundsätzlich die Frage, wie verschiedenartig die Musik sein kann und von welcher Beschaffenheit sie sein muss, um die entsprechende Wirkung zu erzielen.

Wie auch immer nun aber die jeweilige konkrete Musik und die Kultur, in der sie gespielt wird, aussehen mögen: Zumindest scheint es so, dass es eine erstaunliche Kontinuität und menschliche Grunddispositionen in Bezug auf die Wirkung von Musik und die damit korrespondierenden Zustände gibt. Das ist eine Hypothese, die weiterer Prüfung bedarf, um nicht einem diffusen Universalismus zu verfallen. Allerdings erscheint diese sowohl angesichts beeindruckender Entdeckungen der Musikarchäologie nicht ganz fern zu liegen, wenn man also geschichtlich sehr weit zurückgeht, als auch hinsichtlich bemerkenswerter Erscheinungen der Gegenwart durchaus plausibel zu sein, z. B. der überraschenden Affinität zwischen Krishna-Spiritualität und diversen Hardcorepunk-Spielarten (vgl. hier „Krishnacore“). Dem Ganzen bleibt also nachzuspüren.

Ein Beitrag von Dr. Markus Walther


Eingangsbild: Zeitgenössischer Tanura-Tänzer.


Literaturhinweise:

Als Bezugstext habe ich die mir einzig bekannte Übersetzung aus dem Arabischen von MacDonald in Englisch genutzt und zitiert. Zusätzlich habe ich eine gebräuchliche arabische Ausgabe verzeichnet. Die Texte sind in der online-Bibliothek www.ghazali.org als pdf verfügbar.

Al-Ghazali, Über die Gepflogenheiten des Hörens und der Ekstase, 18. Buch in: Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften.

Arabisch: siehe Iḥyāˁulūm ad-dīn, Lajna-Edition, Kairo 1937-1938; S. 1125-1189.

Übersetzung: MacDonald, D.B., On music and singing, 3 Teile in: JRAS 1901; S. 195ff (1. Teil), S. 705ff (2. Teil) und JRAS 1902; S. 1ff (3. Teil).

Encyclopaedia of Islam, Band XI, Leiden 2002.

Frembgen, J.W., Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam, München 2000.

Thoraval, Y. Lexikon der islamischen Kultur, Darmstadt 1999.

Walther, M., Zeitvorstellungen zwischen Philosophie, Theologie und Mystik, Würzburg 2018.


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Nietzsche, Bataille und – al-Ghazali?! Zur Rolle der Musik in der islamischen Mystik“

  1. Man kann den Islam nicht von den Kulturen trennen. Der Islam muss gelebt werden! Gelebt wird aber in einer Kultur! Verbote und Gebote müssen immer im gesammelt Zusammenhang gesehen werden.

    1. Ja, eben diesen Kontext des Islam zur jeweiligen Kultur habe ich versucht einleitend ganz knapp in Erinnerung zu rufen, in Abgrenzung gegen landläufige/allgemeine Vorstellungen.

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