Die Wendung von „Jekyll und Hyde“ als Metapher für die Dualität von Gut und Böse, Normal und Seltsam, Rechtschaffen und über die Stränge schlagen, hat sicher jeder schon einmal gehört oder salopp gebraucht, um das Verhalten von jemanden zu beschreiben, welches von der sonst gewohnten Norm dieser Person abweicht. In ihr schwingt die Berührung mit einer ureigenen Frage mit, die am Ende nur jeder für sich selbst beantworten oder nicht beantworten kann: Wer sind wir? Und wenn ja, wie viele? Und sind wir uns dieser „wirs“ eigentlich bewusst?
Beim traditionellen Halloween-Leseabend haben Mitglieder des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie Auszüge aus Robert Louis Stevenson 1886 erschienener Schauernovelle „Der seltame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ gelesen. Interessanterweise war des eben dieses Werk und nicht die vier Jahre zuvor als Fortsetzungsgeschichte erschienene „Schatzinsel“ (später Stevensons berühmtestes Werk), welche dem Autor zum Durchbruch verhalf. „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ verkaufte sich vor allem im ersten halben Jahr rund 40.000 Mal, quasi ein Beststeller für damalige Verhältnisse, und sicherte damit auch die finanzielle Unabhängigkeit von Stevenson, der aus einer Familie von Leuchtturmbauern stammte und sich als Unternehmer und Ingenieur eher den profitablen und praktischen Dingen des Lebens verschreiben sollte, als der Schriftstellerei nachzugehen.
Jekyll und Hyde entstanden denn auch nicht in geplanter Absicht oder mit der Intention einer großen Erzählung, sondern innerhalb von zweimal drei Tagen. Die erste in eben drei Tagen verfasste Version fiel der Zensur von Stevensons Frau Fanny zum Opfer, da in ihr zu wenig „Allegorie“ enthalten sie. Daraufhin entstand Version zwei, die noch heute eine der komplexesten Geschichten des Autors darstellt. Schaudern inbegriffen. Einerseits durch die düstere Atmosphäre, in der die Handlung spielt (zumeist abends oder in der Nacht), typisch für viktorianische Erzählungen, man denke hier auch an Brom Stokers „Dracula“ oder den Klassiker „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens. Andererseits zieht uns die Geschichte als Leser ungewöhnlich intensiv in das innere Erleben der Figuren hinein, es gilt ein Rätsel zu lösen, aber dieses Rätsel manifestiert sich nicht nur auf der real sichtbaren, physischen Ebene, sondern betrifft auch die Seele, wobei sich die wahre Tragik der gesamten Episode (und damit der eigentliche Plot-Twist, wie man heute sagt) im Grunde auf der letzten Seite voll entfaltet.
Zunächst beginnt das Ganze mit einer seltsamen Begebenheit, von der rückblickend im Gespräch zwischen den Anwalt Mr. Utterson und einem Mr. Enfield, der im Verlauf der Geschichte kein größere Rolle mehr spielt, berichtet wird. Ein ungehobelter Kerl, der sich wie ein Berserker benommen hat und wie ein bösartiger, manierenloser Zeitgenosse daherkommt, hat rücksichtslos ein Mädchen niedergetrampelt. Jeder, der mit diesem Menschen zu tun hat oder ihm auch nur angesichtig wird, verspürt Abneigung gegen ihn. Soweit, so brutal. Die Wendung nimmt ihren Lauf, als sich herausstellt, dass dieser Unhold (er nennt sich Mr. Edward Hyde) mit Dr. Henry Jekyll in Verbindung steht (u. a. berücksichtigt dessen Testament diesen Hyde). Jekyll ist ein angesehener Londoner Arzt, erfolgreich und renommiert, von untadeligem Ruf und zudem ein guter und vertrauensvoller Freund. Dass er mit einer so gegenteiligen Kreatur wie Hyde in Verbindung steht, scheint unmöglich. Und doch möglich. Denn Detail um Detail wird offenbart, dass es sich bei Jekyll und Hyde um ein- und dieselbe Person handelt. Gut und Böse getrennt (auch hinsichtlich ihres Gewissens) und doch in zwei Menschen vereint. Jekyll erinnert mit seinen Formeln und seinem Laboratorium an einen modernen Dr. Faust auf der Suche nach der Weltformel. Doch alles, was er findet, ist Mephisto, der kein Teufel im Getrieberad einer christlichen Himmel-und-Höllen-Symbolik darstellt, sondern der ans Licht gebrachte Schatten seiner eigenen Person. Ein Schatten, der alle finsteren Möglichkeiten auslebt, die sein Alter Ego verdrängt hat – ob Bosheit, Zorn oder Mord.
Oder, wie es Dr. Jekyll in seiner eigenen gruseligen Darstellung des Falls berichtet: „Früher heuerten Menschen Banditen an, die ihre Verbrechen ausführten, während ihre eigene Person und ihr Ruf geschützt blieben. Ich war der allererste, der das zu seinem Vergnügen tat. Ich war der erste, der sich unter den Augen der Öffentlichkeit so abstrampeln konnte mit einer Last aus warmherziger Achtbarkeit, nur um im nächsten Augenblick wie ein Schuljunge alles Geborgte von sich zu werfen und kopfüber ins Meer der Freiheit zu springen. Für mich, mich in meinem undurchdringlichen Mantel, war die Sicherheit vollkommen. Denk doch – es gab mich ja nicht einmal! Ich musste nur in mein Laboratorium entkommen, nur ein, zwei Sekunden haben, um den Trank zu mischen und zu schlucken, der jederzeit bereitstand – egal, was er getan hatte, Edward Hyde verschwand wie der Atemhauch auf einem Spiegel, und an seiner Stelle, in aller Ruhe daheim, die mitternächtliche Lampe in seinem Studierzimmer herunterdrehend, ein Mann, der es sich leisten konnte, über Verdrächtigungen zu lachen, säße Henry Jekyll.“ (S. 79)
Gerade das Faszinosum der Trennung des Selbst hat den Jekyll-und-Hyde-Stoff auch für das Theater und Musical, vor allem aber für den Film zu einem spannenden Erzählstoff gemacht. Denn neben all den seelischen Abgründen, ist es doch eine Frage, die besonders fasziniert: Wenn wir im Besitz eines Tranks wären, der uns in zwei Wesen spaltet, die in ihren zwei Formen dieses Selbst von uns vervollkommenen (eine interessante Anspielung von Stevenson an Platons Kugelmenschenmythos), würden wir ihn trinken?
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
Robert Louis Stevenson. Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Reclam, Ditzingen 2020.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„Wer sind wir? Und wenn ja, wie viele? Und sind wir uns dieser „wirs“ eigentlich bewusst?“
Man kann leicht bemerken, dass jeder „mehrere“ ist. Ständig denken wir oder führen sogar Selbstgespräche. In Gedanken sind wir immer mindestens ZWEI, nämlich „Teufelchen und Engelchen“ (Dualismus -> gut und böse). Da zanken wir uns immer mit uns selber herum.