Namensschwestern und sonst nichts? – Betrachtungen zu Galatea und Galateia

Mythische Figuren haben in aller Regel einen Namen, seien sie nun so bekannt wie Helena, Herakles oder Theseus, die Gegenstand unzähliger Darstellungen aller Genres sind, oder so unbekannt wie Oreithyia, Orseis oder Orsedike, die mittlerweile ihr Dasein nur noch in mythologischen Handbüchern wie Apollodors Bibliothek fristen. Allerdings gibt es eine prominente Ausnahme: Die Frauenstatue, die ein gewisser Pygmalion auf Zypern aus Elfenbein schuf, schöner als alle anderen Frauen. Ihr Schöpfer verliebte sich in sie, und als er die Götter bat, sie mögen ihm doch eine Frau geben, die ihr gleich sei, erbarmte sich Aphrodite, die Göttin der Liebe und belebte das elfenbeinerne Mädchen. Pygmalion nahm sie zur Frau und hatte mit ihr eine Tochter.

Das Motiv vom Künstler – vom Mann – der eine ideale Frau erschafft, hat seither zahlreiche Wandlungen und Deutungen durchgemacht. Im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, setzte sich dann auch ein Name für die bislang meist Namenlose durch: Galatea. So nannte sie der Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) in seiner lyrischen Szene Pygmalion (entstanden 1762 / 1771). Die Geschichte Galateas seit der Aufklärung ist nicht nur eine Geschichte glückender oder scheiternder männlicher Bemühungen und die Bildung der jungen Frau, sondern auch eine der Emanzipation von eben diesen Bemühungen, eine Emanzipation vom männlichen Blick. Jüngster Beleg dafür war die Ausstellung „Die schaffende Galatea. Frauen sehen Frauen“ in der Kunsthalle “Talstrasse“ in Halle (Saale) von Mitte Juli bis Mitte Oktober 2019 (vgl. dazu auch den im Mytho-BLOG veröffentlichten Beitrag „Von Bildern und Mythen: Die schaffende Galatea“).

Durch Rousseaus „Taufakt“ bekam Pygmalions Geschöpf auch eine Namensschwester, die ihren Namen freilich ungleich länger trägt: Galateia – so die griechische Form dieses Namens (Galatea ist die lateinische). Sie ist eine Nereide, d. h. eine Tochter des griechischen Meeresgottes Nereus. Ihr Name wird in die Nähe von galéne = Meeresstille, Sonnenglanz bei ruhigem Wasser, gestellt (in der Tat heißt eine ihrer Schwestern Galene), oder aber er wird als „die Milchweiße“ übersetzt, da der erste Teil ihres Namens als „Milch“ gedeutet werden kann. Um die mythischen Biographien Galateias und Galateas soll es im Folgenden gehen.

Die lange Zeit namenlose Dame aus Elfenbein ist freilich, streng genommen, gar keine mythische Gestalt, wenn wir unter einem Mythos eine traditionelle Geschichte verstehen wollen, die sozusagen in aller Munde ist oder einmal war und die keinen feststellbaren Autor hat, dafür aber immer wieder neu erzählt und künstlerisch bearbeitet wurde. Die Geschichte von Pygmalion und der Statue stammt vom römischen Dichter Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. – 17/18 n. Chr.) – meist kurz Ovid genannt. Er erzählt sie im zehnten Buch seiner bis zum Jahre 8 n. Chr. entstandenen Metamorphosen (Verse 243 – 297), in denen er griechische und römische Mythen kunstvoll verkettet und mit eigenen Erfindungen anreichert. Diese Dichtung ist für mehr als anderthalb Jahrtausende die Hauptquelle antiker Mythologie für das Abendland gewesen (erst mit der Renaissance begann die Erschließung und Übersetzung griechischer Dichtung und Mythographie) und in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen. Die nachantike Geschichten Galateas und Galateias sind ohne Ovid schlicht nicht denkbar.

Vom König zum Künstler

Vor Ovid ist Pygmalion, wie ein Fragment des hellenistischen Schriftstellers Philostephanos von Kyrene besagt, ein König auf Zypern, der sich so sehr in das Kultbild der Aphrodite verliebt, dass er versucht, Sex mit ihm zu haben. Die zypriotische Kultur war nicht griechisch, wenngleich sie zu Ovids Zeit längst hellenistisch überformt war. Die beiden wichtigsten Heiligtümer der Aphrodite, die ja einen orientalischen Hintergrund und eine komplexe Geschichte hat (ihre orientalischen Pendants sind auch Kriegsgöttinnen, wovon sich in zumindest einigen Aphrodite-Kulten Reste erhalten haben), lagen auf Zypern: die Städte Paphos und Amanthus. Es ist vermutet worden, dass hinter der versuchten geschlechtlichen Vereinigung Pygmalions mit der Statue eine Kultlegende steckt, in der es eigentlich um den Hieros Gamos, die heilige Hochzeit geht, die der König und eine Priesterin in Vertretung der Gottheit rituell vollziehen (die Statue als Kultbild vertritt ja auch gewissermaßen die Göttin). Aber das wäre ein anderes Thema. Bemerkenswert ist noch, dass Pygmalion auch Urgroßvater des Adonis ist, des jugendlichen Liebhabers der Aphrodite, der von einem Eber getötet worden war und nun jedes Jahr für eine kurze Zeit aus der Unterwelt zu ihr kommen durfte, bevor er wieder zurück musste. Die Feier seiner Wiederkehr und die Klage über seinen Tod waren Teil der jährlichen Adonien, die besonders auf Zypern begangen wurden.

Ovids Quelle im Falle Pygmalion ist verloren gegangen. Was Philostephanos über diesen berichtete, wissen wir nur durch eine entsprechende Erwähnung in der „Mahnrede an die Heiden“ des Philosophen und Kirchenvaters Clemens von Alexandria (150 bis ca. 215 n. Chr.). Clemens prangert darin die Verführung lüsterner Menschen durch die Kunst und die Anbetung von Götterbildern, die Idolatrie, an. Und für Galatea – die elfenbeinerne Dame, die damals natürlich noch keinen Namen hatte – scheint es überhaupt kein Vorbild zu geben. Sie ist offenbar Ovids ureigene Erfindung. In den Metamorphosen wird Pygmalion nicht als König apostrophiert, er ist anscheinend ein Künstler, denn die künftige Galatea, das Bild aus Elfenbein, dem er eine Gestalt gibt, „wie keine Frau auf Erden sie haben kann“, (248) und in das er sich – angewidert von der ordinären Promiskuität der Frauen seiner Stadt – verliebt. Nachdem Aphrodite, die bei Ovid natürlich Venus heißt, die Statue zum Leben erweckt hat und diese die Augen aufschlägt, erblickt sie „zugleich mit dem Himmel (…) den Mann, der sie liebt (294)“. Sie wird eine offenbar hingebungsvolle Ehefrau. Von Willens- oder anderen Äußerungen ihrerseits ist nicht die Rede. Fazit also: Es geht um die Macht der (männlichen) Liebe – oder man könnte auch sagen, um einen Fall von amour fou, verrückter Liebe, der dank göttlicher Gnade gut ausgeht.

Auf dem Weg durch die Jahrhunderte

Nach dem Ende der Antike schien Ovids Wirkung aufgehört zu haben. Bis zum 11. Jahrhundert jedenfalls hören wir zu Pygmalion und den Metamorphosen überhaupt nahezu nichts. Dann aber tritt Ovid einen Siegeszug an, der nach den Worten des Literaturwissenschaftlers Francesco Munari in der Geschichte der westlichen Literatur nur wenige Parallelen haben dürfte. Ovid wird interpretiert – theologisch oder moralisch, seine Geschichten sind lehrreiche – im Einzelfalle auch abschreckende – Exempel. Für die theologische Auslegung ist die Allegorie das Mittel der Wahl, oder die Mythen werden auf pseudohistorische Weise rationalisiert – wenn man denn nicht im Falle Pygmalions Perversität, Magie oder Dämonie am Werke sieht. Humanismus und Renaissance haben kein Interesse an allegorischen Auslegungen mehr, die den ovidischen Text überwuchert hatten. Nun interessierte das Original und das ästhetische Interesse begann, sich zu entwickeln. Nicht mehr Geistliche, sondern Philologen mit ihren Erklärungen zum Text und Dichter als Übersetzer waren jetzt am Werke. Kommentiert wurde natürlich weiter. Im Falle Pygmalions spielten Vorwürfe der Abgötterei und der Perversität jetzt keine Rolle mehr: Seine Geschichte war ein positives Exempel für Beharrlichkeit oder dafür, dass „ein keusches und schamhaftes Eheweib von Gott gegeben wird und erbeten sein muß“ (Georgius Sabinus in seiner kommentierten Ausgabe der Metamorphosen von 1555). Und Pygmalion und die Statue werden zum häufigen Sujet bildkünstlerischer Darstellung, anders als in der Antike und im Mittelalter. Im Barock erobert der Stoff auch die Bühne, als Oper, Ballett oder Singspiel. Bis dann, es wurde oben bereits gesagt, die Aufklärung das Interesse stärker auf die Statue richtet, auf Galatea, die Entwicklung ihres Bewusstseins, ihres Fühlens und Wollens. Ein komplizierter Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist, auch wenn der Name Galatea seltener fällt. Aber ohne Ovid und seine Schöpfung wäre nichts von alledem denkbar gewesen.

Galateia, die Nereide hingegen, wird bereits in der Theogonie des griechischen Dichters Hesiod (8. / 7. Jhd. v. Chr.) und der Ilias seines ungefähren Zeitgenossen Homer erwähnt. Wahrscheinlich ist sie eine traditionelle Figur (vielleicht eine der unzähligen griechischen Lokalgottheiten), da diese beiden Epiker im Wesentlichen mit traditionellem Material arbeiten und Göttinnen nicht einfach erfinden. Bei Hesiod ist „die schöne Galateia“ (Theogonie, 250) eine von 50 Töchtern, die Nereus mit der Okeanos-Tochter Doris hat, Homer, der Galateia „hochberühmt“ nennt (Ilias 18, 45) kommt nur auf 30. Als Nereide ist sie eine Schwester der Thetis, der göttlichen Mutter des Achilleus, der sterblich ist, weil er einen Sterblichen (Peleus) zum Vater hat, und der als der tapferste Held der Griechen im Kampf um Troja fallen wird. In der Theogonie werden sie und die anderen Nereiden lediglich aufgezählt, in der Ilias weinen sie und ihre Schwestern mit Thetis, die ja das Schicksal ihres Sohnes kennt, und über dessen aktuellen Kummer (18, 65 f). Mehr erfahren wir über sie nicht.

Eine Satire mit Folgen

Das ändert sich einige Jahrhunderte später. Philoxenos (435/34 – 380/79 v. Chr.), der eine Zeit lang auf Sizilien Hofdichter bei Dionysios I. von Syrakus war, bevor er in Ungnade fiel, bringt in einer kurzen dramatischen Szene die schöne Nereide mit dem Kyklopen Polyphem zusammen, jenem menschenfressenden Scheusal, dem Odysseus und seine Gefährten nur mit List und knapper Not entkommen können, nachdem er einige von ihnen verspeist hat und sie ihm schließlich sein mitten in der Stirn sitzendes Auge ausgestochen haben. Bei Philoxenos ist Polyphem unsterblich in Galateia verliebt und wirbt um sie, die aber schlägt ihm ein Schnippchen, indem sie mit seinem Widersacher Odysseus durchbrennt. Das Ganze spielt in der Nähe des Ätna – vielfach wurden ja die Stationen der Irrfahrt des Odysseus in und um Sizilien und Süditalien lokalisiert – und es ist eine böse Satire auf Dionysios I., der seine Stadt als Tyrann beherrschte, schlechte Verse schrieb, auf die er sich viel einbildete, und dem Philoxenos eine Geliebte ausgespannt hatte. Die Kontrastierung eines ungeschlachten Tölpels, den sein täppisches Werben grausam komisch macht, mit einer geschmeidig-schönen jungen Frau hat in der Folgezeit viele Dichter angeregt, auch lange nachdem der Anlass der ursprünglichen Satire vergessen war. Von Aristophanes (ca. 442 – ca. 386 v. Chr.) bis Theokrit, (um 270 v. Chr.), von Vergil (70 – 19 v. Chr.), Horaz (65 – 68) und Properz (ca. 57-15 v. Chr.) ist viel komisches oder auch lyrisches Kapital aus der ungleichen Paarung geschlagen worden, wobei der Kyklop nicht stets der Genasführte war, sondern durchaus auch Erfolg haben konnte, wie das z. B. eine Wandmalerei in Pompeji recht unzweideutig illustriert. Dabei war er nach der Meinung des hellenistischen Dichters und Gelehrten Kallimachos von Kyrene (310 – 240 v. Chr.) und des Historikers Timaios von Tauromenion (ca. 356 – 260 v. Chr.) zum Stammvater der Galater geworden, eines keltischen Volkes, das mit seinen Raubzügen um 270 v. Chr. in Griechenland für Wirren sorgte, bis es in Kleinasien sesshaft wurde.

Tragik und Triumph

Ovid hat in seinen Metamorphosen auch diese Geschichte aufgegriffen (13, 738 – 898) und ihr einen Akzent gegeben, der bis in die Neuzeit nachwirkte. Bei ihm hat Galatea – er schreibt den Namen der Nereide natürlich lateinisch – einen Liebhaber: Acis, den Sohn des Gottes Faunus und der Flussnymphe Symaethis. Der verliebte und mörderisch eifersüchtige Polyphem – er möchte Acis die Eingeweide bei lebendigem Leibe herausreißen, seine Glieder zerstückeln und sie über Felder und Wogen verstreuen – entdeckt die Liebenden. Er reißt ein Stück eines Berges ab und wirft es nach den beiden. Galatea flieht in ihr Element, ins Wasser, jedoch Acis wird erschlagen – und in einen Flussgott verwandelt. Zahllose Opern und Singspiele haben seit der Zeit der Renaissance diesen Stoff auf die Bühne gebracht, viele Komponisten – unter denen Händel wohl der größte war – haben zu häufig belanglosen Libretti schöne bis großartige Musik geschrieben. Wichtiger aber war wohl der Beitrag der Malerei. Ausgehend von der Beschreibung des – vielleicht fiktiven – Gemäldes „Der Kyklop“, die sich in den Eikones (Die Bilder) des griechischen Philosophen Flavius Philostratos (ca.165/170; -ca. 249 n. Chr.) findet, haben Raffael und nach ihm viele Künstler bis ins 19. Jahrhundert das Motiv der triumphierenden Galatea entwickelt, die auf einem Muschelwagen an dem Kyklopen vorbeizieht, umgeben von allerlei fabelhaften Meereswesen, die sich amourös betätigen, während sie selbst – meist nackt dargestellt – gleichsam unberührt wirkt.

Der große Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818 – 1897) nannte in seinem Cicerone (1858) Rafaels Galatea „das herrlichste aller modern-mythologischen Bilder. Hier ist die allegorisch gebrauchte Mythologie kein konventioneller Anlass zur Entwicklung schöner Formen, sondern was Raffael geben wollte, ließ sich überhaupt nur in diesem Gewande ganz rein und schön geben. Welcher bloß menschliche Hergang hätte genügt, um das Erwachen der Liebe in seiner vollen Majestät deutlich darzustellen?“ Goethe hat die klassische Walpurgisnacht im Faust II mit dem Triumph Galateas enden lassen: „Und ringsum ist alles vom Feuer umronnen; / So herrsche denn Eros, der alles begonnen!“ (8478 f). Er greift in der klassischen Walpurgisnacht auf teils sehr eigenwillige Weise antike Naturphilosophie auf. Aber seine Gestalten – und eben auch Galatea – stehen auch für seelische Kräfte, für Konfigurationen des Unbewussten, die persönliche Reifung und Horizonterweiterung befördern können, wenn man sich ihnen mit Bewusstheit und zugleich Behutsamkeit nähert – nicht zudringlich und damit zerstörerisch wie Polyphem. Und darin berühren sich Galatea und Galateia: Beide vertragen Zudringlichkeit nicht …

Ein Beitrag von Christoph Sorger

Literaturhinweise:

Aurnhammer, Achim / Martin, Dieter (Hrsg.). Mythos Pygmalion. Texte von Ovid bis John Updike. Reclam: Leipzig, 2003.

Dinter, Annegret. Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Winter: Heidelberg, 1979.

Dörrie, Heinrich. Die schöne Galatea. Heimeran: München, 1968.

Hesiod. Theogonie. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart, 1999.

Homer: Ilias. Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Roland Hampe. Reclam: Stuttgart, 1979.

Ovid. Metamorphosen. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Reclam: Stuttgart, 1994.

Philostratos: Eikones (Die Bilder). Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Otto Schönberger. Heimeran: München, 1968.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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