Was hat der Sommer 2022 mit der Waage der Maat aus dem altägyptischen Totengericht gemeinsam? Er scheint nicht ins Gleichgewicht kommen zu können, steigt auf in Anfällen unerträglicher Hitze, um sogleich in fast herbstlich anmutende Kühle zu stürzen. Ähnliches beobachtet man derzeit im sozialen Miteinander, in der Gesellschaft und vor allem im europäischen oder gar weltweiten Geschehen dieser Tage – das Auf und Nieder der Extreme wirkt gefühlt bewusster, bedrohlicher und bedrückender denn je. Es will kein Gleichgewicht auf der Waage aufkommen, keine Begegnung „der Mitte“.
Schon die griechischen Philosophen wie Sokrates, Platon oder Aristoteles machten sich Gedanken, was denn diese „Mitte“ sei und verwiesen dabei auf die zerstörerischen Kräfte von Zuviel oder Zuwenig. Auf der Vorderseite des Orakels von Delphi sollen sich neben der berühmten Inschrift „gnôthi seautón“ (Erkenne dich selbst) auch die Worte „medèn ágan“ (Nichts im Übermaß) befunden haben. Ähnliche Gedanken finden wir auch im Buddhismus („der mittlere Pfad“) oder bei Konfuzius – aber auch im Hinduismus, im Judentum, Christentum und im Islam. Was aber ist die Mitte? Die alten Ägypter fanden in der Waage für sie das vielleicht nachdrücklichste Symbol, nicht nur zum Wiegen von verstorbenen Seelen (mithilfe einer Feder), ob diese im Leben das rechte Maß gehalten hatten und damit würdig waren, im Jenseits weiter zu existieren (oder aber von der Krokodilgöttin Ammit, der Totenfresserin, verschlungen zu werden). Die Waage stand auch symbolisch für die Maat, das ägyptische Konzept von Recht, Wahrheit, Gerechtigkeit, Staat und Weltordnung – ein unveränderlicher Zustand, dessen Gleichgewicht es aufrecht zu erhalten galt und das, so die Vorstellung, vor allem durch menschliches Fehlverhalten bedroht wurde. Nicht gänzlich ungefährlich, was die Auslegung betraf und mit heutigen Forscheraugen vielleicht so etwas wie ein mythisch-rituell-religiös-politisches Utopia. Wiewohl ein Konzept, über dessen Ansätze sich nachzudenken lohnt und das uns erneut zu der bereits gestellten Frage führt: Was ist die Mitte? Meinen wir damit unser eigenes inneres Gleichgewicht? Die Fähigkeit, Kompromisse aushandeln zu können? Oder gar einen Ort, an dem wir uns versammeln und wo sich unsere Interesse wie Schnittmengen überlagern?
Mitglieder des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie hat es ungeachtet des Jahresthemas „Magie“ (oder gerade deshalb) dieser Tage zu einer Exkursion auf die Berliner Museumsinsel verschlagen, in die vom Titel her einigermaßen unmittig anmutende Ausstellung „Schliemanns Welten – Sein Leben, seine Entdeckungen, sein Mythos“ anlässlich von Heinrich Schliemanns 200. Geburtstag. Johann Ludwig Heinrich Julius Schliemann (1822-1890) – der Name ist den meisten wohl ein Begriff. Wir denken dabei vielleicht an Mykene, den Königssitz des mythischen Königs Agamemnon, mit seinem Löwentor (der einzige transportable Abguss desselbigen aus Leipzig ist in der Ausstellung zu sehen), an die berühmte Fotografie von Schliemanns zweiter Gattin Sophia mit dem Geschmeide aus dem Schatz des Priamos, vor allem aber an Troja, die legendäre Stadt aus der Ilias des Dichters Homers – Filmfans wohlbekannt durch die nicht unumstrittene Hollywoodadaption von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 2004.
Troja, der Mythos, dem Schliemann ein historisches Kreuz auf der Landkarte gab und es damit von den Mythen in die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts teleportierte. „Sobald ich sprechen gelernt, hatte mir mein Vater die großen Taten der homerischen Helden erzählt. Ich liebte diese Erzählungen; sie entzückten mich, sie versetzten mich in hohe Begeisterung.“ (Wehry, Auf Homers Spuren nach Troja, Mykene und Tiryns, In: Schliemanns Welten, S. 137)
Nun ist bis heute nicht endgültig bewiesen, ob die Ausgrabungsstätte im türkischen Hissarlik Tepe (Westtürkei, in der Landschaft der Troas) um die eigentliche, historisch belegte Stadt Ilion tatsächlich mit dem Homerischen Troja übereinstimmt oder es sich hierbei um Schliemanns Troja handelt. Das Kreuz auf den Karten bleibt. Und der Mythos bleibt weiter Mythos. Schliemann war zudem nicht der einzige, der Hissarlik mit Troja in Verbindung brachte. Der britische Diplomat Frank Calvert und der Schotte Charles MacLaren waren die ersten, die dort gruben bzw. die den Ort als möglichen realen Handlungsort mit Homers Epos in Verbindung brachten. Calvert war es denn auch, der Schliemann auf den Hügel von Hissarlik aufmerksam machte. „Zunächst hatte er recht erfolglos den Hügel von Bali Dagh bei Bunarbaschi, nur wenige Kilometer südlich von Troja, untersucht, und war wohl kurz davor, die Türkei unverrichteter Dinge wieder zu verlassen.“ (Heeb, Heinrich Schliemann in Troja, in: Schliemanns Welten, S. 157) Der Tipp sollte sich lohnen, denn obwohl die Grabung ab 1871 zunächst schleppend verlief und u. a. Funde wie Phallus-Idole und Tongefäße zutage förderten, gelang im Jahr 1873 die Bergung des „Priamosschatzes“. Dieser befand sich in einer hölzernen Kiste, was Schliemann zu der Mutmaßung veranlasste: „Dass man den Schatz bei furchtbarer Lebensgefahr, in zitternder Angst zusammengepackt hat, davon zeugte unter anderem auch der Inhalt der grössten silbernen Vase, in welcher ich ganz unten zwei prachtvolle Diademe, ein Stirnband und vier herrliche, höchst kunstvoll gefertigte Ohrgehänge von Gold fand; darauf lagen 56 goldene Ohrringe höchst merkwürdiger Form und 8750 kleine goldene Ringe, durchbohrte Prismen und Würfel, goldene Knöpfe usw., die offenbar von andern Schmucksachen herrührten; darauf folgten sechs goldene Armbänder, und ganz oben lagen die beiden kleineren goldenen Becher.“ (zit. ebd. S. 162)
Es würde Schliemann aber bei weitem nicht gerecht werden, sein archäologische Wirken auf Troja zu beschränken. Ebenso bedeutsam waren die Grabungen in Mykene, Tiryns und Orchomenos. Einer seiner größten Verdienste war – laut der Archäologin, die uns durch die Ausstellung führte – dass er nicht nur die Diskussionen um den Mythos Troja befeuert hat, sondern auch die Bronzezeit, also die Zeit vor der klassischen Antike, für die Forschung interessant machte und weiter in den Fokus rückte. Schliemann, der Selfmademan, Kosmopolit, Millionär, der die Kontinente bereiste (und vor allem in St. Petersburg sein Vermögen aufbaute) und sowohl in Städten wie Sacramento oder Paris als auch in Athen lebte – ein Getriebener, so scheint es, den die Faszination der alten Geschichten um Götter, Menschen und Kriege nie losgelassen hat, sodass er beschloss, ihrem wahren Kern auf die Spur zu kommen. Es war ein Traum. Ein Traum, dem nicht einmal Grabungsverbote und Strafzahlungen etwas anhaben konnten.
Schliemann, der aus armen Verhältnissen stammte und 1890 unerwartet an den Folgen einer Ohrenoperation verstarb, galt als ein sehr guter Sprachkenner – basierend auf der „Methode Schliemann“, die darauf beruhte, dass er sich beim Erlernen einer neuen Sprache Zuhörer einlud und mit diesen sprach – Hörverständnis war für die Teilnehmenden nicht erforderlich, sie hatten einzig zu nicken. Am 27. April 1869 wurde Schliemann zudem an der Universität Rostock promoviert, ein Indiz dafür, dass er, vornehmlich als Autodidakt, auch in akademischen Kreisen Anerkennung und Austausch suchte.
Der erste Teil der Ausstellung ist vornehmlich der Biografie Schliemanns auf der Spur und man erfährt, dass er durchaus schon in jungen Jahren einen gewissen Hang zur erzählerischen Dramatik besaß, u. a. bei der Schilderung einer Überfahrt nach Venezuela 1841 auf dem Dreimaster Dorothea. Das Schiff strandete aufgrund schlechten Wetters vor der niederländischen Insel Texel. Alle Passagiere konnten gerettet werden. Für den 19-jährigen Schliemann selbst besaß das Ganze allerdings sowohl apokalyptische als auch heldenhafte Züge. Erst in späteren biografischen Schriften schildert er die Begebenheit nüchterner. Schliemann, ein Mythenerzähler? Diese Frage wird während des Rundgangs durchaus aufgeworfen. Schließlich war es seine Liebe (vielleicht sogar Obsession?) zu Geschichten, die ihn seine zahlreichen Grabungsprojekte realisieren ließ.
Mit seinem Homer und später seinem Pausanias in der Hand suchte er nach der historischen Wahrheit zwischen den Zeilen und grub bzw. zerschnitt dabei den real-landschaftlichen Grund wie der Konditor eine Torte, um dadurch Schicht um Schicht an Verlorenem freizulegen (der als „Schliemanngraben“ bekannte Tiefschnitt). Damit wurde er zu einem Begründer der modernen Feldarchäologie. Eine Tatsache, welche die Ausstellung mit unzähligen Grabungsobjekten oder Nachbildungen (u. a. der sogenannten Maske des Agamemnon, heute im Nationalmuseum Athen) Rechnung trägt.
Sogar ein Blick in Bestandteile von Schliemanns Arbeitszimmer in seiner Athener Villa wird den Besuchern gewährt, ein Schreibtisch mit Greifen und anderen mythischen Tieren inbegriffen. Von der Villa, die heute noch in der griechischen Hauptstadt besucht werden kann und die im Inneren ebenfalls den antiken Mythen Rechnung trägt, ist der Ballsaal im Miniaturformat in der Ausstellung nachempfunden. Bemerkenswert vor allem die Decke, in der Schliemann als Putte (mit Brille) verewigt ist. Zudem war der Raum der zentrale Ort für Empfänge, Soireen und den intellektuellen Austausch. Ein Versammlungsort für die interessierte (und durchaus auch vermögende) sowie intellektuelle und gesellschaftliche Elite der Zeit. Eine Mitte zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwischen Geschichten und Gesprächen. Eine Tradition, die wir als Besucher nach dem Durchstreifen von Zeit und Mythen im Café des Neuen Museums bei einem Kaffee (und dem ein oder anderen Bier) gern aufgegriffen haben. Philosophen, Historiker, Anglisten, Ethnologen, Künstler, Kulturinteressierte und Schriftsteller – auch das kann (und muss) eine Mitte sein. Aber was ist nun eigentlich die Mitte? Sie ist weder Zuviel noch Zuwenig, weder Oben noch Unten. Und vielleicht muss sie jeder von uns und vor allem jede Zeit von neuem (er)finden.
Wir laden alle Interessierten herzlich ein, sich der Suche beim Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie anzuschließen.
Ihr Team vom MYTHO-Blog
Ausstellungshinweis:
Schliemanns Welten. James Simon Galerie und Neues Museum Berlin. 13.05. 2022 bis 06.11.2002.
Literaturhinweis:
Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. E.A. Seemann, Leipzig 2022.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
danke, ein sehr anschaulicher Eindruck von der Ausstellung!