Ich bin das berühmteste Pferd der griechischen Mythologie, unschuldig weiß, mit kräftigen Flügeln ausgestattet, und ein Kind unglücklicher Leidenschaft. Meine Mutter war Medusa, die sterbliche Gorgone, die mit Poseidon eine Affäre hatte. Dieser war nicht nur als Gott des Meeres bekannt, sondern auch Gott der Pferde. Das sieht man heute vor allem an Objekten der bildenden Kunst. Manchmal wird sein Streitwagen von Delfinen, oft genug aber von Hippokampen, Meerespferden mit Schuppen und Fischschwänzen, gezogen.
Als Athene, Göttin der Weisheit, der Strategie, des Kampfes und der Kunst, Poseidon und Medusa nun in einem ihrer Tempel quasi in flagranti erwischte, verwandelte sie meine vormals bildschöne Mutter in eben jenes Ungeheuer mit Schlangenhaar, welches den Betrachter zu Stein erstarren ließ. Es war der Held Perseus, der sie schließlich köpfte. Und hier nun beginnen die Erzählungen über meine Geburt. Der griechische Dichter Hesiod schreibt, ich entsprang Medusas Nacken direkt nach dem tödlichen Hieb. Und ich war nicht allein. Mit mir erblickte mein Bruder Chrysaor, der Krieger mit dem goldenen Schwert, das Licht der Mythenwelt. Der Römer Ovid wiederum meinte, ich sei aus den Blutstropfen geboren, die nach der Enthauptung zur Erde fielen. Wie es auch gewesen sein mag, ich dürstete nicht nach Rache am Tod meiner Mutter. Im Gegenteil begnügte ich mich damit, der Liebling der Musen zu sein, weshalb man mir viele Jahrhunderte später den Beinamen „Dichterpferd“ verlieh. Und das, obwohl mir das Verse schmieden nicht sonderlich liegt. In der Stadt Leipzig, die es zu meinen mythischen Lebzeiten noch gar nicht gab, existiert gar seit 1974 eine Literaturreihe mit meinem Namen („Der durstige Pegasus“). Vielen Dank! Ich fühle mich geehrt.
Mein regulärer Tagesablauf war im Grunde immer relativ sorglos. Oft graste ich friedlich an der pirenischen Quelle und wehrte den einen oder anderen Mutigen ab, der versuchte, mich zu reiten. Ohne Erfolg versteht sich. An eben jener Quelle war es denn auch, als der korinthisch-lykische Held Bellerophon mich fand. Hesiod zufolge stammte Bellerophon aus Korinth und sein ursprünglicher Name soll „Hipponoos“ gelautet haben, was so viel bedeutet wie Pferdeversteher. Da man mir neben der Inspiration auch eine gewisse Weisheit nachsagt, und natürlich um die folgenden Ereignisse richtig wiederzugeben, zitiere ich die Geschichte aus der mythologischen „Bibliothek“ des Apollodor:
„Bellerophontes, der Sohn des Glaukos und der Enkel des Sisyphos, hatte, ohne es zu wollen, seinen Bruder Deliades […] getötet. Stheneboia, von Liebe zu ihm entflammt, schickte ihm eine Einladung zu einer heimlichen Zusammenkunft. Auf seine Weigerung hin aber verleumdete sie ihn bei Proitos [König von Tiryns] und gab vor, Bellerophontes habe ihr eine schamlose Einladung zugesandt. Daraufhin schickte Proitos, der keinen Zweifel in die Aussage seiner Gattin setzte, jenen mit einem Brief zu Iobates [König von Lykien], worin er diesen aufforderte, den Bellerophontes aus dem Weg zu räumen.
Iobates gab ihm infolge dieses Schreibens den Auftrag, die Chimaira zu töten, in der Überzeugung, daß er seinen Untergang durch dieses Tier finden würde, dessen Bezwingung für eine ganze Schar, geschweige für einen einzelnen, eine sehr schwierige Aufgabe war. Es hatte nämlich das Vorderteil eines Löwen, den Schwanz eines Drachen und drei Köpfe, von denen der mittlere, ein Bockshaupt, Feuer spie. Mit der vereinten Kraft dreier Tiere verwüstete dieses Ungetüm das Land und zerriß die Viehherden. […]
Bellerophontes bestieg nun den Pegasos, in dessen Besitz er war, ein geflügeltes Pferd, von Medusa und Poseidon abstammend, erhob sich in die Luft und erlegte von ihm herab die Chimaira mit Pfeilen.“ (Appollodor, II 30-32)
Nach dieser wahrhaft abenteuerlichen Heldentat blieb ich dem Bellerophon treu und kämpfte mit ihm gegen die Amazonen und Solymer. Die Gelehrten sind sich nicht völlig einig darüber, ob mein Vater Poseidon mir auftrug, Bellerophon beizustehen oder ob es diesem tatsächlich gelang, mich an der pirenischen Quelle einzufangen. Auf jeden Fall rächte sich der Held an Königin Stheneboia (auch als Anteia bekannt), indem er sie auf einen Ritt mit mir mitnahm und sie dabei als Strafe für ihre Lügen ins Meer stürzte. Den Himmel hat Bellerophon gar mit mir zu erstürmen versucht. Doch mit dem Himmel ist das so eine Sache, mit dem kenne ich mich aus, soll ich doch Blitz und Donner zum Göttervater Zeus gebracht haben und ihm die Blitze im wahrsten Sinne des Wortes immer noch nachtragen. Als sich Bellerophon nun in die luftigen Sphären der Götter aufschwang, schickte Zeus eine Bremse, die mich stach, sodass ich den Helden abwarf. Aber vielleicht ist das auch nur poetische Freiheit, wird doch eben diese Geschichte im „Bellerophontes“, einer Tragödie des Euripides, beschrieben.
Ebenfalls sagt man mir nach, ich habe durch meinen Hufschlag zwei Brunnen erschaffen. Hippokrene (oder Rossquelle) heißt einer davon, und Dichter, die seine Wasser aufsuchen, sollen – ganz im mythologischen Sinne – von Apollon und den Musen geküsst werden, auf dass sie mehr Poesie schreiben und vielleicht ja sogar über mich.
Natürlich komme ich auf Wappenbildern vor. Und sogar ein Sternbild gibt es von mir. Im Herbst kann es besonders ausgiebig beobachtet werden. Damit stehe ich quasi stellvertretend für meine Artgenossen, denn obwohl ich in der Mythologie der Griechen berühmt bin, gibt es ähnliche wie mich auch in anderen Kulturen und Mythen.
Kuda Sembrani wird ein Artgenosse von mir in Indonesien genannt. Er ist das Reittier des indischen Meeresgottes Varuna, und anstelle eines wohlgeformten Kopfes, wie ich ihn mein Eigen nenne, trägt er das Haupt eines Seeungeheuers. Auch der Prophet Mohammed besaß ein geflügeltes Reittier, Burak (Buraq), „der Leuchtende“. Der Legende nach ist er so weiß wie ich und besitzt Flügel wie ich, doch sein Kopf ist der es eines Menschen; während einer einzigen Nacht flog Mohammed mit ihm in den Himmel und wieder zurück. Auch seine Nachtreise von Mekka nach Jerusalem soll er mit Buraq bestritten haben. In Korea kennt man mich als Chollima, als Tianma in China oder als Tarksyha im indischen Rigveda. Und dann sind da ja noch die geflügelten Pferde auf dem Wandrelief des etruskischen Tempels von Tarquinia aus dem 3. oder 4. Jahrhundert v. Chr.
Ich bin also, das kann ich ganz unbescheiden sagen, beinahe so etwas wie ein globales Phänomen. Wobei Wissenschaftler meine Vorfahren im Reich der Hethiter (vornehmlich Kleinasien) und im assyrischen Raum vermuten. Oder vielleicht doch nicht? Ich finde, ein paar Geheimnisse müssen sein. Immerhin machen die doch meinen Mythos aus und sind der Grund, weshalb Jung und Alt noch heute über mich sprechen.
Pegasos dankt seiner Autorin Constance Timm.
Mehr über mich erfahren Sie hier:
Die griechische Sagenwelt. Apollodors Mythologische Bibliothek. Aus dem Griechischen von Christian Gottlob Moser und Dorothea Vollbach. 2. Aufl. Sammlung Dieterich: Leipzig, 1992.
Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 4. Metzler: Stuttgart, 2013.
Hesiod. Theogonie. Herausgegeben und übersetzt von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart, 1999.
Jorge Luis Borges. Einhorn, Spinx und Salamander. Das Buch der imaginären Wesen. 3. Aufl. Fischer: Frankfurt, 2004.
Karl Kerényi. Die Mythologie der Griechen. Götter, Menschen & Heroen. 11. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart, 2019.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.