Ich bin der Greif. Mein Name kommt vom griechischen Wort „grys“, was „krumm“ bedeutet. Ich nehme an, das hat damit zu tun, dass ich einen hakenförmigen Schnabel habe. Ich besitze den Kopf und die Vorderbeine eines Adlers und den Körper, die Hinterbeine und den Schwanz eines Löwen. Frühe Schriftsteller aus Griechenland und Rom scheinen sich über meine Flügel nicht einigen zu können. Plinius der Ältere war die erste Person, die sie in einem schriftlichen Bericht aus dem Jahr 77 n. Chr. erwähnte, und viele Gelehrte stimmen ihm zu. Aber Aristeas, Aischylos und Herodot, deren Werke Plinius als Quellenmaterial verwendete, erwähnen sie nicht. Um ehrlich zu sein, ich bin ein kleines Rätsel. Bereits 3000 v. Chr. findet man Bilder von mir auf Kunstwerken im Nahen Osten, vor allem aber in der mykenischen Kunst der Bronzezeit.
Mein Bildnis wurde auch auf Goldartefakten verwendet oder ist als Tätowierung auf dem mumifizierten Körper eines Nomaden zu sehen, der in einem Grab aus dem fünften Jahrhundert vor Christus in Pazyryk (Südsibirien) gefunden wurde. Obwohl ich ein beliebtes Motiv war, ist über mich aus dieser Frühzeit wenig bekannt; es gibt keine Geschichten, die zu den Bildern passen. Erst um 675 v. Chr., als ein griechischer Dichter namens Aristeas die Länder der Issedonier am Fuße des Altai-Gebirges besuchte, kam meine Geschichte ans Licht. Die Issedonier sagten ihm, dass es meine Aufgabe sei, die Goldvorkommen in der Nähe meiner Heimat zu bewachen. Demnach lebte ich im Altai- und im Tien-Shan-Gebirge entlang der „Seidenstraße“. Dort gibt es Gold, und ich muss es vor den haarigen, einäugigen Arimaspen und anderen, die es stehlen wollen, schützen. Aristeas benutzte meine Geschichte, und schrieb ein Gedicht über mich und meine Artgenossen, das später von Gelehrten zitiert wurde, doch jetzt verloren ist. Trotzdem tauchten Informationen von mir in den Werken von Aischylos („Der gefesselte Prometheus“, 460 v. Chr.), Herodot, Ktesias von Knidos (400 v. Chr.), Plinius dem Älteren („Naturgeschichte“, 77 n. Chr.), Apollonius von Tjana, Pausianus (170 n. Chr.) und Älian (200 n. Chr.) auf. Interessanterweise legen all diese Werke nahe, dass ich ein echtes Tier und kein mythologisches Wesen bin, und dass ich in den Bergen lebe, um sowohl das Gold als auch meine Jungen zu bewachen.
Mit der Zeit änderte sich jedoch die Art und Weise, wie die Menschen mich sahen und verstanden. Ich wurde vom Tier zum Symbol und vom Symbol zu einer Geschichte. Im frühen Mittelalter stand ich stellvertretend für Christus. Isidor von Sevilla (600 n. Chr.) sagte, Christus sei wie der Löwe in Macht und Stärke und wie der Adler bei seiner Himmelfahrt. Ich schätze, die Verbindung ist ziemlich natürlich, da ich beides bin. Ich werde mit hoher Intelligenz in Verbindung gebracht und mir wird sogar nachgesagt, dass ich die Fähigkeit habe, in die Zukunft zu sehen. Dieselben Eigenschaften machten mich auch zu einem beliebten heraldischen Symbol. Was gibt es Besseres, um Feinden die eigene Stärke zu zeigen, als mit meinem Bild auf dem Schild? Auch jenseits meiner Heimat erzählte man sich Geschichten über mich. Ich tauchte in mittelalterlichen Volksmärchen auf, wie zum Beispiel in „Hagen und die Prinzessinnen“ (wahrscheinlich Anfang des dreizehnten Jahrhunderts), wo ich einen Jungen stehle, um meine Jungen zu ernähren. Hagen muss mich besiegen, bevor die Geschichte endet. Ich bevölkere sogar die Werke der Brüder Grimm, obwohl ihre Märchen viel später erschienen sind. Die Geschichte „Die Greifen“ unterstreicht erneut, dass ich sehr klug bin und auf jede Frage eine Antwort weiß. Es wird aber auch erwähnt, dass ich vor allem Christen esse, was meiner Meinung nach ziemlich widersprüchlich zu meinem frühen Symbol als Christus zu sein scheint.
Im Jahr 1646 erklärte Sir Thomas Browne mich zu einer imaginären Kreatur, einem Mischwesen. Er und andere Gelehrte glaubten, dass ich eine Allegorie für eine Vielzahl unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Eigenschaften sei. 1652 schlug ein Wissenschaftler namens Andrew Ross vor, dass ich eine Erklärung oder ein Versuch gewesen sein könnte, ein reales, aber ungewöhnliches Tier aus meiner Heimat zu beschreiben, aber seine Argumente wurden von seinen Kollegen, die im Allgemeinen mit Browne übereinstimmten, meist ignoriert. Trotz meiner Einstufung als imaginär besaß ich immer noch meinen Platz im Volksglauben und unter den Gelehrten; verschiedene von ihnen versuchen bis heute Erklärungen oder Vorschläge zu entwickeln für das, was ich bin und wie meine Geschichten zustande gekommen sind. 1993 schlug Adrienne Mayor vor, dass ich tatsächlich ein Dinosaurier sein könnte; der Protoceratops, der einen schnabelförmigen Schädel, vier Gliedmaßen und einen Schwanz hat. Überreste dieses speziellen Dinosauriers wurden in den Wüsten am Fuße des Altai- und des Tien-Shan-Gebirges gefunden; genau die gleichen Bergregionen, in denen meine Geschichte vor all den Jahren auf der Reise des Aristeas begann.
Der Greif dankt seiner Autorin Colleen Nichols.
Mehr über mich lesen, können Sie bei:
Adrienne Mayor. Guardians of the Gold. Archaeology. 47(6). 1994. S. 52-59.
Adrienne Mayor/Michael Heaney.Griffins and Arimaspeans. Folklore. 104 (1/2). 1993, S 40-66.
Josepha Sherman. Hagen and the Princesses. Storytelling: An Encyclopedia of Mythology and Folklore Vol. 1-3. Armonk: M. E. Sharpe Inc. 2008, S. 210.
Karen Duve/Thies Völker, Lexikon berühmter Tiere. Eichborn Verlag: Frankfurt, 1999.
https://fairytalez.com/the-griffin/
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Fortsetzend zu meinem vorausgesendeten Gedanken der Potnia Theron, der Herrin der Tiere in der minoischen Kulur Kretas, die es in anderen Kulturen auch in männlicher Form als Herr der Tiere gibt, dürfte die logische Konsequenz meiner Betrachtungen sein, dass diese als Vergöttlichung des Tierkreises, des kosmischen Zodiakos einzuordnen sind.
Damit dürfte ein Rätsel der Vorgeschichtsforschung gelöst sein.
I. Marzahn
Ergänzend zu meinem gestrigen Kommentar möchte ich darauf verweisen, dass die erwähnte Reliefdarstellung aus dem Archäologischen Museum Heraklion mit zwei an eine zentrale Säule (Allsäule) geketteten, antithetischen Greifen im Prinzip den Darstellungen der Potnia Theron, der Herrin der Tiere entspricht. So gibt es einen minoischen Siegelstein, der die Potnia Theron unter einer Doppelaxt und einer doppellinigen, sinusförmig geschwungenen Struktur zeigt, flankiert von zwei ebenfalls antithetischen Greifen. Die von Sir Arthur Evans als double snake fram bezeichnete, sinusförmige Doppellinie mit jeweils abgesetzten Enden, könnte die jahreshältige Ekliptik symbolisieren. Auch die minoische Doppelaxt für dieses Prinzip der vier Sonnenwenden, die an die zentrale Allachse gebunden sind. Wobei der so symbolisierte Jahreslauf der Sonne ja mit dem der Ekliptik identisch ist.
Interessant sind aber jeweils drei runde Buckel auf den Flügeln beider Greife. Ich denke, sie bezeichnen die drei aufeinanderfolgenden, finsternisrelevanten Mondphasen innerhalb desselben Finsternisfensters, also zweimal Neu- und einmal Vollmond dazwischen bzw. umgekehrt. Liege ich mit dieser Vermutung richtig, ist der minoische Greif mit dem Zeitraum von etwa 33 Tagen zu identifizieren, den wir heute „Finsternisfenster“ nennen, den man aber auch salopp als Finsternismonat bezeichnen kann. Üblicherweise treten pro Jahr immer zwei Finsternisfenster im Abstand von rund 6 synodischen Mondmonaten zueinander ein (Siehe Haube des Lilienprinzen). Deshalb treten die Greife in der minoischen Kunst meist paarig und antithetisch auf. Die Potnia Theron entspricht damit entweder auch der Allachse, dem Jahreszeitraum, der Ekliptik, dem Zeitraum eines ganzen Finsternisjahres (346,62 Tage) oder einer ähnlich entscheidenden Größe im kosmischen Kreisen von Licht und Finsternis. Hier besteht noch Forschungsbedarf.
I. Marzahn
Der Greif tritt, wie dargelegt, vor allen in der minoischen Kultur in Erscheinung. Das Mischwesen aus Adler und Löwe ist vermutlich angelehnt an den ägypt. Sphinx, der sich als ekliptikaler Portalwächter einordnen lässt an den Sphärenübergängen des Sonnenlaufs zwischen Ober- u. Unterwelt. Auch der minoische Greif scheint ein ekliptikal verbundenes Geschöpf. Noch ist jedoch dessen Funktion völlig unklar. War er Teil kosmischer Finsternissymbolik oder genau gegenteilig dem Licht im ekliptikalen Bereich zugeordnet. Er erscheint geflügelt und ebenso ungeflügelt, weil er auf der Ekliptik sowohl kosmisch als ach chtonisch, d.h. unterweltbezogen sein kann.
Die seltsame Kopfbedeckung des sogenannten ‚Lilienprinzen‘ von Knossos gehört eigentlich zu einem Greif, wie kritische deutsche Wissenschaftler die Darstellung monieren. Am Hut erkennt man 5 kleine und einen großen, brillenartigen Schlaufenknoten. Diese sechs Symbole stehen sehr wahrscheinlich für die 5 bzw. überwiegend 6 synodischen Monate eines Finsternissemesters, nach denen sich etwa halbjährlich die Finsternisfenster öffnen. Ist diese Interpretation korrekt, wären die Greife wohl dem Umlauf der beiden gegenüberliegenden Finsternisknoten der Mondbahn gewidmet bzw. symbolisieren sie diesen. Analog dazu zeigt ein Relief im Archäolog. Museum Heraklion zwei sich gegenüberstehende Greife, die an die Allsäule gekettet sind. Das symbolisiert mit einiger Wahrscheinlichkeit den verborgenen Kreislauf der Finsternisknoten.
Analog zu dieser Bedeutung flankieren sie im Thronraum von Knossos den „Himmelsthron“. Wer diesen Thronstuhl inne hatte, war vermutlich ein profunder Kenner der Finsternisrhythmik und des Knotenumlaufs, ein Seher bzw., wie die „Kleine Pariserin“ aus dem Klappstuhlfresko von Knossos mit dem riesigen Schulterknoten und den schönen, auffallend großen Augen, eine Seherin.
Ferner ist die minoische Bilder- und Siegelwelt voll von Knotensymbolen, die beinahe sämtlich im gleichen Kontext des Umlaufs der Finsternisknoten betrachtet werden müssen.
I. Marzahn
Danke für diesen informativen Text! Es war ein sehr interessantes Erlebnis, mal in einer anderen Person zu lesen.
Danke für diese Erkenntnis.
Ps: Sie haben mir in der Schule sehr geholfen…
Hallo, ich möchte meinen Gedanken mal ganz nüchtern und knapp zusammenfassen. Ich halte es für möglich das dieses Wesen eine schamanische Darstellung ist. Der Schamanismus ist sehr alt. Die Katzenartigen waren in allen Teilen der Kulturen beliebte Tiere für Schamanen. Die symbolische Darstellung der Adler hat bestimmt eine tranzendente Bedeutung.