Jynx

Da ist es wieder. Dieses Gefühl. Können Sie es spüren? Schmetterlinge scheinen ihr Unwesen im Bauch zu treiben. Sie können kaum essen und nur schwer einschlafen. Ständig ist da dieses kaum wahrnehmbare Seufzen. Hoffen und Bangen. Die perfekte Dysbalance zwischen Chaos und Happy End, Taschentuchalarm und innigen Küssen. Das Herz flattert in der Brust wie ein Vogel. Sie sagen: Das muss Liebe sein. Ich sage: Das bin ich! Nennen Sie mich Iynx. Oder auch Jynx. Ich bin der Zauber schlafloser Nächte. Ich bin der Gesang wohltönender Querflöten und die real gewordene Fantasie erotischer Verheißung. Ich bin der Liebesvogel!

Im Gegensatz zu manch anderem Fabelwesen meiner Kategorie (wie dem glückbringenden Löwen oder dem furchterregenden Fenriswolf) bin ich nahezu unbekannt. Dabei habe ich einen berühmten mythischen Vater: Pan, den Hirtengott, der gern auf seiner siebenröhrigen Flöte spielte, der Natur frönte und zuweilen den Herden (und den Hirten) einen wahrhaft „panischen“ Schrecken bereitete, wenn man seine Mittagsruhe störte. Auch für Furchtbarkeit, Wollust und Ekstase war mein Vater bekannt, und auf alles andere als erotisch anmutende Weise hat das auf mich abgefärbt. Aber beginnen wir von vorn. Zunächst einmal möchte ich betonen: Ich war nicht immer ein Vogel. Und als ob das mit meinem bocksbeinigen Vater nicht schon aufreibend genug wäre, bin ich nicht mal sicher, wer meine Mutter ist. In Frage kommen die Nymphe Echo, die von Zeus zur Ablenkung seiner Göttergattin Hera eingespannt wurde, damit er ungehindert seinen Amouren frönen konnte. Einmal begegnete Echo auch meinem Vater Pan. Weil sie aber seiner Leidenschaft nicht nachkommen wollte, wurde er rasend, und die Hirten zerrissen sie und verstreuten ihre Gliedmaßen in der ganzen Welt. Auch Peitho könnte meine Erzeugerin sein, die Göttin der erotischen Überredung, und manchmal glaube ich, dass sie an meinem Unglück die eigentliche Schuld trägt. Wie wäre ich sonst auf die Idee gekommen, die Verführerin zu spielen, damit Zeus der Herapriesterin Io verfällt? Natürlich hat das seine Gemahlin im Olymp rasend gemacht. Und zur Strafe hat Hera mich aufgespürt und in einen Vogel verwandelt. Ich wäre vielleicht heute immer noch einfach „nur“ ein Vogel, hätte nicht Aphrodite mein flaumig verborgenes Potenzial erkannt. Mein Gesang ist wohltönend, schwirrend und flötenartig. Damit sorge ich für die passende, verheißungsvolle Stimmung bei nächtlichen Stelldicheins. Und bindet man mich auf ein Rädchen und lässt mich mithilfe zweier Schnüre schwirren, können meine weichen Federspitzen alle jene körperlichen Stellen berühren, die für Lust besonders zugänglich sind. Zugegeben, so kreuzweise auf ein paar Speichen geschnürt zu werden, ist schon recht rabiat und alles andere als tier- und vogelfreundlich.

Laut dem Dichter Pindar war es die Zauberin Medea, die als eine der Ersten in den Genuss meines Zaubers gekommen ist, den der Argonaut Jason benutzte, um sie in Liebe entbrennen zu lassen. Leider bewirkt mein Zauber aber im Großen und Ganzen einen zeitlich doch eher begrenzten Rausch, nicht die ewige Liebe. Denn für die beiden – und noch mehr für ihre Kinder – ging die Liaison bekanntlich sehr traurig und dramatisch aus. Vielleicht haben sie auch einfach die falschen Zaubersprüche aufgesagt, denn das ist beim Rädchendrehen enorm wichtig. Neben Liebe und Erotik sagt man mir nämlich auch tatsächliche magische Fähigkeiten nach, weswegen ich auch als „Rad der Hekate“ bezeichnet werde, nach der griechischen Göttin der Magie, der Totenbeschwörung, der Übergänge und der Wegekreuzungen. Zum Einsatz kam ich bei Beschwörungen und der Wahrsagerei, u.a., wenn es darum ging, mit den Daimones – Wesen, die zwischen Menschen und Göttern vermitteln konnten – in Kontakt zu treten. Diese Vielseitigkeit schätze ich sehr. Und gehe jetzt mal davon aus, dass ich bei den eben erwähnten magischen Rädern nur als Namenspate fungiert bzw. nur ein paar einzelne Federn für das Ritual gespendet habe.

Unzählige Menschen haben zu ergründen versucht, was für ein Vogel ich denn nun eigentlich bin. Einige, darunter der berühmte Naturforscher Linné, meinten in mir den Wendehals (Jynx torquilla) zu erkennen – warum auch immer, denn dieser gibt so hämisch-schaurige Laute von sich, dass er entzückte Paare eher verschreckt. Dasselbe gilt für die Nachtschwalbe (auch Ziegenmelker genannt), die merklich schnurrt, der man aber nachsagt, sie würde des nachts an den Eutern von Ziegen saugen. Schon eher könnte ich mich mit der Zwergeule anfreunden, denn ihr Gesang klingt lieblich und sehnsuchtsvoll, und man sagt ihr einen sehr liebevollen Umgang in Partnerschaften nach. Wie dem auch sei: Dieses Rätsel harrt noch der Entschlüsselung, und das ist mir ganz recht so.

Was mich vor allem in der postmodernen Zeit etwas stört – zusätzlich zu meinem recht dürftigen Bekanntheitsgrad – ist die Verwendung meines Namens für irreale Alter Egos. So ist unter dem Namen Jynx ein Pokémon bekannt, das definitiv kein Vogel ist, sondern ausschaut wie eine Aufblaspuppe mit pinkfarbenen Lippen und langem blonden Haar. Die Stimme, obwohl menschlich angelegt, besteht aus Schreilauten und einer Sprache, die noch nicht enträtselt wurde, weshalb sich dieses Wesen – oder dieser Namensdieb – mit tänzelnden Bewegungen ausdrückt und Gegner durch Küsse in den Schlaf lullt. Damit kann ich nun wirklich nicht einverstanden sein!

Ich bin verführerisch. Ich bin geheimnisvoll. Ich bin und bleibe der Liebesvogel. Und das ist auch gut so.

Jynx dankt der Autorin Dr. Constance Timm.

 

 

Mehr über mich zu lesen, gibt es bei:

Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd. 5. Metzler Verlag: Stuttgart, 2013, Sp. 1366 f.

Pindar. Olympian Odes, Phytian Odes. Loeb Classical Library. Ed. and transl. by William H. Race. Harvard University Press: Cambridge Mass., 1997.

Josef H. Reichholf: Einhorn, Drache, Phönix – Woher unsere Fabelwesen kommen. S.Fischer: Frankfurt, 2015.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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