Gestattest du mir, dass ich mich dir vorstelle? Ich bin der Mantikor. Ich bin ein persisches Mischwesen mit dem Körper eines Löwen, dem Gesicht eines Menschen und dem Schwanz eines Drachen. Manchmal wurde mir auch ein Löwengesicht zugeschrieben und anstatt eines Drachenschwanzes trug ich in den vielfältigen Überlieferungen über meine physische Gestalt oft auch den Schwanz eines Skorpions. Sogar die Flügel eines Vogels gehörten bisweilen zu meinen Attributen. Mit meinem zimtrot schimmernden Fell bin ich eine beeindruckende Erscheinung. Mein besonders kräftiges Gebiss besteht aus drei hintereinander liegenden Zahnreihen.
Gute Zähne brauche ich, denn ich bin auch als der Menschenfresser bekannt. Erstmals in Erscheinung trat ich in den persischen Sagen des 5. Jahrhunderts v. Chr., in denen ich als „Martiyaxvāra“ bezeichnet wurde. Das ist persisch und bedeutet so viel wie „Menschenfresser“, daher mein Name.
Ein Kostverächter bin ich nicht: Hin und wieder lasse ich mir ein Menschlein schmecken, gern auch viele auf einmal. Vor allem aber stehen die Tiere des Waldes auf meinem Speisezettel. Mein Jagdrevier ist der undurchdringliche indische Dschungel. Dort lauere ich meinen Opfern auf.
Mit meinen Fähigkeiten und außergewöhnlichen Begabungen hebe ich mich deutlich von anderen Fabelwesen ab. Ich bin in der Lage, mit meinem Schwanz todbringende oder betäubende Stachel auf meine Opfer zu schießen, die das Gift des Upas-Baumes (giftiges Maulbeergewächs) enthalten. Man munkelt sogar, ich könne Pfeile aus meiner Mähne heraus verschießen. Kommt mir jemand zu nahe, so packe ich ihn mit meinen kraftvollen Klauen, zerreiße ihn in tausend Stücke, und mit meinen messerscharfen Zähnen zerfleische und fresse ihn schließlich. Mit gewaltigen Sprüngen kann ich jedes Opfer im Handumdrehen einholen. Dies sind schon bemerkenswerte Begabungen, doch das Beste ist meine besondere Intelligenz. Während andere Fabelwesen kaum bis drei zählen können, wurde ich mit einem Intellekt beschenkt, der dem eines Menschen gleicht. Und genau da liegt meine Stärke.
Ich kann sprechen wie ein Mensch und bin teuflisch schlau und listig. Mit meiner lieblichen, sonoren Stimme singe ich fröhliche Lieder oder erzähle spannende Geschichten. So locke ich meine Opfer in die Falle.
Doch nicht immer erwiesen sich die wohlschmeckenden Menschen als leicht zu erbeutende Opfer. Mit Elefanten machten sie Jagd auf mich und trieben mich in die dunkelsten Regionen des Waldes. Denn meine giftigen Stacheln sind nicht imstande, die dicke Haut eines Elefanten zu durchdringen.
All das Dunkle und Böse in den düsteren Abgründen der menschlichen Seele wurde mir angedichtet. Im Mittelalter stand ich, der Mantikor, als Symbol für Tyrannei, Unterdrückung und Neid, und schließlich galt ich sogar als eine Verkörperung allen Bösen.
Halte Ausschau, mein Freund, und gib gut acht. Irgendwo lauere ich noch heute in den tiefen Wäldern, singe Dir die lieblichsten Lieder, erzähle Dir die tollsten Geschichten und lulle Dich ein mit meiner vertrauenerweckenden Stimme. Und richtigen Moment, wenn Du es am wenigsten erwartest, packe ich zu.
Der Mantikor dankt seinem Autor Andreas Erler.
Mehr Informationen über mich findest du unter:
Norman Hall: Lexikon der Fabelwesen der alten Welt – Von Kobolden, Elfen, Feen und Zwergen. Verlag neobooks.
Marion Michaela Steinicke: Apokalyptische Heerscharen und Gottesknechte – Wundervölker des Ostens vom Untergang der Antike bis zur Entdeckung Amerikas. Dissertation, Humboldt Universität Berlin, 2005.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.