Ich bin die ägyptische Sphinx. Hat man es mit vielen von meinem Schlag zu tun, so spricht man von den Sphingen. Mein Körper ist der eines Löwen, denn er symbolisiert meine besondere Stärke. Meist krönt ein menschliches Haupt meinen tierischen Leib, doch hin und wieder erscheine ich auch mit dem Kopf eines Widders, eines Falken oder eines Sperbers.
Manchmal bin ich männlich und manchmal auch weiblich, doch in der Fachsprache gelte ich immer als ein männliches Wesen. Um die Sache zu vereinfachen, möchte ich mich aber an dieser Stelle als ein feminines Wesen vorstellen.
Woher mein Name stammt, darüber ist sich die Wissenschaft nicht so richtig einig. Wahrscheinlich stammt er vom griechischen Wort „spingo“ ab, was so viel wie „erwürgen“ oder „festbinden“ bedeutet. Dass man mich heute Sphinx nennt, habe ich also den Legenden um meine enge Verwandte der griechischen Sphinx zu verdanken. Möglichweise geht mein Name aber auch auf das ägyptische Wort „spanch“ zurück, was so viel heißt wie „das, was das Leben empfängt“. Eigentlich ist das auch nicht so wichtig, da mein ursprünglicher ägyptischer Name „Hu“ lautet, was „Beschützer“ bedeutet. In der arabischen Sprache werde ich „Abu el-Hol“ genannt, „der Vater des Schreckens“.
Für die einen galt ich als Beschützer und Empfänger des Lebens, für die anderen stand ich für den Schrecken schlechthin. Als gesichert gilt jedoch, dass ich als Wächterfigur vor den prächtigen Tempelanlagen und monumentalen Begräbnisstätten der Könige und Pharaonen Wache hielt. Häufig wurden die steinernen Abbilder meiner Gestalt mit Königen, Pharaonen und Göttern verbunden. Zu meinen besonderen Kennzeichen gehören die Sonnenscheibe, die Ureusschlange, die Pektorale und die Doppelkrone.
Am Westufer des Nils bewache ich seit vielen tausend Jahren die Pyramiden von Gizeh. Dort wurde mein Abbild in eine monolithische Kalksteinstruktur gehauen. Auf meinem menschlichen Haupt trage ich ein königliches Kopftuch. Meine Nase ist leider im Laufe der Zeit verschwunden. Wie sie verloren ging, bleibt wohl für immer im Dunkel der Geschichte verborgen. Auch soll ich einst einen Bart getragen haben.
Wie alt die Sphinx von Gizeh wirklich ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Eventuell gab Pharao Cheops oder dessen Sohn Chephren während der 4. Dynastie, etwa um das Jahr 2600 vor Christus, die Fertigung der monumentalen Statue in Auftrag.
Ab der 12. Dynastie, etwa um das Jahr 2000 vor Christus, kamen bildhauerische Abbildungen meiner Gestalt in Ägypten in Mode. Meist wurde ich ab dieser Zeit mit einem menschlichen Haupt und einer Löwenmähne abgebildet. Die Skulpturen waren in der Regel maskulin, denn mit ihnen wurden ausschließlich männliche Pharaonen verbunden. Die 18. bis 20. Dynastie bildete das Neue Reich in Ägypten, etwa im Zeitraum zwischen den Jahren 1550 und 1070 vor Christus. Von da an repräsentierten die Sphingen auch weibliche Herrscher und Königinnen. Auch stellte man ab dieser Zeit die Skulpturen häufig stehend oder schreitend dar und man gestaltete sie mit Armen und Händen.
Heutzutage bin ich in den Museen rund um die Welt zuhause. Wer mich kennenlernen möchte, dem empfehle ich einen Besuch im Ägyptischen Museum in Berlin. Dort erwartet die Sphinx der Shepenwepet II ihre Gäste.
Die Ägpytische Sphinx dankt ihrem Autor Andreas Erler.
Mehr zu lesen über mich gibt es bei:
Christiane Zivie-Coche. Sphinx: Das Rätsel des Kolosses von Gisa. Primus-Verlag: Darmstadt, 2004.
Farid Atiya, Abeer el-Shahawy. Das Ägyptische Museum von Kairo. Ein Streifzug durch das Alte Ägypten. Gizeh: Farid Atiya Press, 2005.
Günter Helmes, Søren Eberhardt. Antikenrezeption und Geschlechterdifferenz. Sphingen bei Helene Böhlau, Else Lasker-Schüler, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. In: Helmut Scheuer, Michael Grisko: Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900. Kassel: Kassel Univ. Press, 1999.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.