Das Fabelwesen des Monats Januar

Der Löwe

Mein Name ist Labbu. Das ist assyrisch, ein Dialekt der akkadischen Sprache, den man vermutlich seit dem 2. oder 3. Jahrtausend v. Chr. im nördlichen und mittleren Mesopotamien gesprochen hat. Labbu, das bedeutet: Löwe. Doch im Grunde höre ich diesen Namen gar nicht gern. Denn in der Bibliothek des Königs Assurbanipal existieren die Fragmente eines Mythos von Labbu, einem löwen- und schlangenartigen Ungeheuer, das geschaffen wurde, um die Menschen zu vernichten. Erst durch einen Pfeil, verschossen von den Göttern, konnte das Biest schließlich getötet werden.

Darüber bin ich sehr froh, denn im Grunde mag ich die Menschen. Auch weil sie mich – wunderbar lateinisch – „Panthera leo“ getauft und zum König der Tiere erklärt haben. Ein Ehrentitel, dem ich vor allem dem „Physiologus“ (übersetzt: Naturforscher) zu verdanken habe, einer frühchristlichen Naturlehre, von dem man sagt, sie sei im Mittelalter das meistgelesene Buch neben der Bibel gewesen. Obwohl ich nicht lesen kann, habe ich mir sagen lassen, die Texte seien zumeist allegorisch und der Heilsgeschichte der Christen verpflichtet. Doch das kümmert mich nicht, denn ich finde darin einen besonderen Platz, und zwar gleich an erster Stelle. Es ist also nur folgerichtig, dass ich beim Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie 2020 das Fabelwesen des Monats Januar bin.

„Zu Beginn werden wir sprechen vom Löwen, dem König der Tiere. […] Der Physiologus sagte vom Löwen, er habe drei Eigenheiten. Seine erste Eigenheit ist diese: Wenn er im Gebirge umhergeht, weht ihm die Witterung der Jäger zu, und er verwischt seine Spuren mit dem Schweif, damit die Jäger nicht seiner Fährte folgen, sein Lager finden und ihn einfangen. […] Seine zweite Eigenschaft des Löwen: Wenn der Löwe in seiner Höhle schläft, wachen seine Augen; denn sie bleiben geöffnet. Dies bezeugt auch Salomon im Hohelied, indem er sagt: ‚Ich schlafe, doch mein Herz wacht.‘ […] Die dritte Eigenheit des Löwen: Wenn die Löwin ihr Junges gebiert, bringt sie es tot zur Welt und umsorgt das Junge, bis der Vater am dritten Tag herbeikommt, ihm ins Gesicht bläst und es so zum Leben erweckt. […] Schön also hat Jakob gesagt: ‚Er legt sich nieder und schläft wie ein Löwe und wie das Junge eines Löwen; wer wird ihn erwecken?'“ (Physiologus, 1, S. 5-7)

Schon die älteste bekannte Kultur (Aurignacien, Jungsteinzeit, ca. 30.000 v. Chr.) machte Bekanntschaft mit mir und verewigte mich auf Höhlenwänden. Das gefällt mir gut, denn bis heute habe ich den weltweiten Ruf, ein stolzes und mächtiges, aber auch starkes und sehr mutiges Tier zu sein. Leider kann man mich heute nur noch im Zoo, in Afrika oder Teilen von Indien bewundern, sieht man einmal von Statuen oder Bildern in Museen und Büchern ab, dabei durchstreifte ich in der Antike weite Teile Südosteuropas, Kleinasiens und den Vorderen Orient. Ja, ich war weit verbreitet. Und berühmt und berüchtigt sowieso. In vielen Kulturen hat man mich verehrt bzw. verehrt man mich immer noch. Auf der indonesischen Insel Bali etwa bin ich als Barong, der König der guten Geister, bekannt. Um das kosmische Gleichgewicht zu wahren, kämpfe ich gegen Rangda, die Königin der Dämonen. In rituellen Tänzen, die auch bei Touristen sehr beliebt sind, wird unsere ewige und die Welt ordnende Feindschaft zum Ausdruck gebracht.

In China kennt man mich dagegen als „shí“ (Löwe) oder auch als „shíshīzi“, den Steinlöwen, obwohl ich oft aus Bronze oder Eisen bestehe. Als „shíshīzi“ bin ich sehr beliebt, denn ich bewache die Eingänge von Häusern, aber auch von alten historischen Gebäuden. Bitte macht euch nicht über das Aussehen meines Kopfes lustig. Da ein Löwe wie ich in China unbekannt war, haben die Bildhauer mein Äußeres mit dem des Pekinesenhundes vermischt. Je mehr Locken ihr in meiner Mähne seht, desto höher ist der Rang des Hausbesitzers. Dabei wache ich meistens nicht allein, sondern habe, wie sich das gehört, Gesellschaft, nämlich weibliche. Ich sitze auf der rechten Seite seines Eingangs und halte einen Ball in der rechten Pranke. Auf dem Ball stehen oft Glückssymbole, was also bedeutet, dass ich meinem Hausherrn und dessen Familie Glück bringe. Aber auch Kraft und Einheit. Meine steinerne Partnerin sitzt auf der anderen Seite des Eingangs und mir zur Linken. Unter ihrer linken Pranke hält sie unser Junges, was Wachstum und Wohlbefinden symbolisiert. Gemeinsam sind wir ein unschlagbares Team und können es locker mit bösen Geistern und unheilvollen Einflüssen aufnehmen. Löwen sind und bleiben Rudeltiere. Zum chinesischen Neujahrsfest nehmen sogar Menschen (natürlich in Kostümen) unseren Platz ein und tanzen den „Löwentanz“ in den Straßen. Ein Ritual, was uns sehr stolz macht. Ob in China, Indien, Tibet, Korea, Japan oder Südostasien – die Menschen sind uns wohlgesonnen und wir den Menschen. Sogar ein ganzer Stadtstaat ist nach uns benannt: Singapur. Der Name entstammt dem Alt-Indischen (Sanskrit). Singha bedeutet (सिंह siṃha) Löwe und Pura (पुर pura) „Stadt“.

Allerdings kann es vorkommen, dass man den einen oder anderen Einzelgänger in meiner Sippe findet. Denn, das Beispiel vom Labbu-Mythos zeigt es, nicht alle Löwen sind den Menschen freundlich gesinnt. Während ich mich in Disneys „Der König der Löwen“ zumeist von meiner Schokoladenseite präsentieren darf, geht es im Film „Der Geist und die Dunkelheit“ leider nicht so beschaulich zu. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Im Jahr 1898 töteten zwei meiner Artgenossen sehr viele Arbeiter beim Bau einer Eisenbahnstrecke im heutigen Kenia. Und auch in den Mythen haben die Menschen manchmal zu Recht Angst vor mir. Der Löwe von Nemea zum Beispiel trieb lange auf der Peleponnes sein Unwesen, fraß Tier und Mensch. Angeblich repräsentiert er den Tod und die Unterwelt. Auf jeden Fall war er ein zähes Biest, bis es Herakles in der ersten seiner Zwölf Arbeiten schließlich gelang, ihn zu töten. Schon in jungen Jahren hatte dieser Held eine Begegnung mit meinesgleichen. Dem Löwen von Kithairon zog er das Fell ab und stellte sich daraus einen Umhang her. Seinen Kopf trug er als Helm. Bei meinem Artgenossen in Nemea verhielt er sich ähnlich, denn das Fell machte den Träger unverwundbar. In Apollodors Mythologischer „Bibliothek“ aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. liest sich die wenig rühmliche Szene so:

„Nachdem er [Herakles] in Nemea angelangt war und den Löwen aufgesucht hatte, schoß er zunächst mit Pfeilen nach ihm; da er aber merkte, daß dieser unverwundbar sei, verfolgte er ihn mit erhobener Keule, bis der Löwe sich in eine auf beiden Seiten offene Höhle flüchtete. Nun verrammelte Herakles die eine Öffnung, rückte durch die andere dem Tier zu Leibe, schlang den Arm um seinen Nacken, schnürte ihm die Kehle zu und hielt ihn fest, bis er erstickte.“ (Apollodor, II, 74)

Auch der persische Mantikor trägt meinen Körper (ganz ähnlich wie die Sphinx), hat aber einen Menschenkopf und oft auch einen Drachen- oder Skorpionschwanz. Er ist intelligent und kann Worte sprechen. Aber ihm zu begegnen möchte ich keinem von euch Zweibeinern wünschen, denn Martiyaxvāra („Martikhoras“) bedeutet „Menschenfresser“. Also nehmt euch in Acht.

Viel lieber ist mir da doch meine Rolle in einer Geschichte der „Attischen Nächte“ des römischen Schriftstellers Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.). Der Sklave Androkulus wurde von seinem Herrn immer wieder misshandelt, bis er eines Tages fliehen konnte und sich in einer Höhle versteckte. Aber die Höhle wurde von meinesgleichen bewohnt. Da mein Artgenosse aber durch einen Dorn verletzt war, half Androklus und entfernte den Dorn. Der Löwe teilte mit ihm fortan seine Beute und als Androklus lange Zeit später von Soldaten gefangen genommen und zum Tode durch die Damnatio ad bestias verurteilt wurde, erkannte mein Rudelgefährte ihn wieder und leckte ihm die Hände. Die Christen waren von dieser Geschichte so gerührt, dass sie einem der ihren, dem heiligen Hieronymus, auch einen Löwen zur Seite gaben, der nach der Entfernung des Dorns sein treuer Gefährte wurde. Auf vielen Abbildungen bin ich mit ihm gemeinsam dargestellt und auch dem Evangelisten Markus stehe ich treu zur Seite. In Venedig, wo seit dem 9. Jahrhundert dessen Gebeine ruhen, schütze ich die Stadt mit Flügeln, Buch und erhobener Pranke. Überhaupt sind Bilder von mir auf vielen Wappen und Flaggen zu sehen. Ich bin gewissermaßen dafür geboren, das Symbol der Mächtigen zu sein. Es gibt sogar zwei Sternbilder von mir. Den Löwen (Leo), den schon die alten Ägpytern jedes Frühjahr ins Auge fassten und den Kleinen Löwen (Leo Minor), der eine Neuschöpfung des 17. Jahrhunderts ist und nur zwei oder drei Sterne umfasst. Da muss ich noch einmal mit den Astronomen ein Hühnchen rupfen.

Auch in der Literatur bin ich häufiger zu Gast. Wer kennt nicht die Fabeln von Äsop und anderen Dichtern, das „Gut gebrüllt Löwe“ aus Shakespeares Sommernachtstraum oder den blutigen Schleier von Thisbe, der für das Ende einer epischen Liasion sorgte? Eine unschöne Verwechslung, an der ich keine Schuld trage. Ich schwöre bei der Feder von Ovid, der den Stoff als Erster zu Papier brachte, dass ich das Mädchen nicht gefressen habe.

Am besten gefalle ich mir in meiner neuen Wahlheimat Berlin. Dort bin ich im Pergamonmuseum zu beiden Seiten der Prozessionsstraße zu bestaunen, die zu der Rekonstruktion des babylonischen Ishtar-Tors führt. Mit erhobenem Kopf, erhaben schreitend, die spitzen Zähne sichtbar und umgeben von blendendem Blau bin ich ganz in meinem Element. Beschützer und Wächter. Symbol von Ishtar, Göttin der Liebe und des Krieges. Tagtäglich schreiten Besucher aus aller Welt an mir vorbei. Sie hören mein stummes Gebrüll und halten mein Bild mit ihren Kameras für die Ewigkeit fest. Und vielleicht gebe ich dem einen oder anderen dabei ja auch ein bisschen Glück mit auf den Heimweg.

Der Löwe dankt seiner Autorin Constance Timm.


Mehr Informationen über mich finden Sie unter:

Die griechische Sagenwelt. Apollodors Mythologische Bibliothek. Aus dem Griechischen von Christian Gottlob Moser und Dorothea Vollbach. 2. Aufl. Sammlung Dieterich: Leipzig, 1992.

Josef H. Reichholf. Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabeltiere kommen. Fischer: Frankfurt, 2012.

Karl Kerényi. Die Mythologie der Griechen. Götter, Menschen & Heroen. 11. Aufl. Klett-Cotta: Stuttgart, 2019.

Physiologus. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart, 2005.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Das Fabelwesen des Monats Januar“

  1. Guten Abend,

    ich lese hier nun schon seit einiger Zeit kreuz und quer durch Ihren Mytho-Blog und möchte mich dafür bedanken, was sie den Interessierten kostenlos zur Verfügung stellen.
    Beim Geist und der Dunkelheit, den Film habe ich vor einigen jahren gesehen, musste ich spontan denken, vielleicht haben die beiden Löwen sich ja nur gewehrt und ihren Lebensraum verteidigt. Zur Ehrenrettung der beiden Löwen.

    Mit freundlichen Grüßen, Gesa Johannssen

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