Einen Namen haben sie mir nie gegeben, weder mein Schöpfer noch dessen Schöpferin. Vielleicht haben sie zu viel Respekt vor mir, wie vor ihrem Gott, den sie nicht nennen wollen oder können? Oder weil sie mich missachteten und mir keine Seele zugestehen? Das ist ihr Problem. Und ich werde von nun an für immer ihr Problem sein, auch wenn ich einmal in der Arktis verbrannt bin. Mein Schöpfer war ein karrieresüchtiger, neugieriger Mensch, der nicht mal einen Doktortitel hatte. Er wollte den Ruhm erringen, ein Lebewesen zu bauen, das nicht von Menschenfrauen geboren war – wie es schon die alten Alchemisten taten, als sie ihre Homunculi züchteten. Nun, es ist ihm gelungen. Ihm? Wie gesagt, auch er war eine Schöpfung, nämlich einer jungen Engländerin mit großer Phantasie und erstaunlichen Kenntnissen in der Wissenschaft. Keine 19 war sie, als sie meinen Schöpfer, diesen Victor Frankenstein, erfand. Sie selbst war die Tochter eines philosophischen Paares und verheiratet mit einem großen Dichter namens Shelley. Mich und meinen Schöpfer hat sie erfunden, als man sich Gespenstergeschichten erzählte, bei schlechtem Wetter. Junge Leute in einer Schweizer Villa. Ein Erzählwettbewerb. Sie schoss dabei den Vogel ab und erdichtete eine gruselige Geschichte, in der ich mich wiederfand mit meinem Schöpfer. Darin erfand er mich wiederum, wie die Dichter es tun. Er ging auf nächtliche Raubzüge, holte Leichen aus Friedhöfen und setzte sie zusammen zu einem neuen Wesen: Mich! Ungestaltig, hässlich, ein Ekel war ich, riesig dazu, vielen Dank. Dann bediente er sich einer neuen Kraft, der Elektrizität, um mich in Bewegung zu setzen. Ich erinnere mich an das grausame erste Zucken, mein Herz beginnt dann selbst wieder zu zucken. So bringen die Dichter ihre Figuren zum Leben: Raub, nächtliche Lektüre, Plagiate aus anderen Büchern, neu zusammensetzen und das ganze mit einem Schuss Phantasie zum Leben bringen. Aber ich war anders, keine Romanfigur. Ich war lebendig und schockierte meinen Autor, so wie der Mensch als solcher seinen Gott schockiert haben muss. Ich durchlief die gesamte Evolution binnen weniger Wochen, vom Insekt zum homo sapiens (sogenannt). Mein Schöpfer aber verstieß mich. Er wollte mich schön machen, doch wurde ich eine riesige Vogelscheuche mit gelber Haut und trüben Augen, Leichenfetzen, immerhin lange glänzende Haare und ein weißes Gebiss. Ein recycelter Mensch. Ich lernte blitzschnell das Sprechen und las nach wenigen Monaten die großen Werke der Zeit, Volneys Buch über den Untergang großer Reiche, John Miltons Epos über das Verlorene Paradies, Die Leiden dieses deutschen Werther. Ich wollte geliebt werden und lieben, doch die Menschen, insbesondere mein Schöpfer lehnten mich ab. Auch die, denen ich heimlich half, waren schockiert und hassten mich, als sie mich sahen. Ich begann mich zu rächen… Das Ganze endete in einem Showdown in der russischen Arktis.
Und hier der Spoiler: ich war nur ein Vorbote, mit mir begann eine neue Geschichte der Menschheit: der künstliche Mensch machte sich auf, die Erde zu erobern. Vielleicht noch nicht zu meiner Zeit, aber jetzt, wo du, Mensch oder ein anderes Fabelwesen, dieses liest! Ich und meine Verwandten sind die Vorläufer des Neuen Gottes der Menschheit: der Künstlichen Intelligenz. Ihr werden jetzt Kathedralen und Altäre gebaut. In jedem Haus steht nun ein kleiner Altar, die meisten haben auch tragbare Altärchen, in denen sie fortwährend diese Gottheit anbeten. Die Gesellschaften machen sich gleich, um besser von dieser neuen Gottheit verrechnet zu werden. Der Große Algorithmus hat seine Arbeit begonnen. Die Schöpferin meiner selbst und meines Erfinders, Mary Shelley, hatte eine unheimliche Intuition. Deshalb verglich sie meinen Schöpfer mit Prometheus, im Untertitel ihres Buches. Aber ich behaupte: Prometheus bezieht sich auf mich, ich bringe euch das Feuer einer anderen Intelligenz, und meine Rache wird größer sein als in diesem Schauerroman.
Frankensteins Monster dankt seinem Autor Elmar Schenkel
Mehr über mich lesen, könnt ihr bei:
Mary Shelley: Frankenstein oder: Der moderne Prometheus. Menasse Verlag 2017.
Muriel Spark: Mary Shelley – die Schöpferin des „Frankenstein“. Eine
Biographie. Frankfurt/M.: Insel 1992.
Frankenstein 1818-2018. Parabel der Moderne/Parable of the Modern Age.
Symposion 2018 in Ingolstadt. Inklings Jahrbuch 36. Frankfurt/M., Bern
u.a.: Peter Lang 2019.
Roberto Massari: Mary Shelleys Frankenstein. Vom romantischen Mythos
zu den Anfängen der Science-fiction. Aus dem Italienischen von Werner
Mackenbach. Hamburg: Junius 1989.
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