Das Fabelwesen des Monats September

Wolpertinger

Es gibt nicht nur mich als Einzelwesen – wir sind viele, aber ein jeder von uns ist einzigartig. Wir sind sehr geheimnisvolle, sehr scheue und nachtaktive Wesen. Zumeist sieht man von uns nur ausgestopfte Exemplare in bayerischen Gasthäusern, Kneipen oder in Souvenirläden, denn kaum jemand bekommt einen von uns leibhaftig zu Gesicht; wir sind eigentlich unsichtbar. Und dennoch kennt uns in Bayern jeder! Und sehr viele Menschen auf der ganzen Welt haben schon von uns gehört. Wir sind schon seit über 200 Jahren fester Bestandteil der bayerischen Folklore. Auch die Gebrüder Grimm haben uns bereits in ihrer Sammlung „Deutsche Sagen“ unter Nr. 275 in einer Sage von 1753 als „Krischer“ erwähnt: „Johann Peter Kriechbaum, Schultheiß der Oberkainsbacher Zent, erzählte den 12. März 1753: Im Bezirk, genannt die Spreng, halte sich ein Geist oder Gespenst auf, so allerhand Gekreisch als wie ein Reh, Fuchs, Esel, Hund, Schwein und anderer Tiere, auch gleich allerhand Vögel führe, dahero es von den Leuten der Krischer geheißen werde. Es habe schon viele irregeleitet, und getraue niemand, sonders die Hirten nicht, sich in dasigen Wiesen aufzuhalten. Ihm sei neulich selbst begegnet, als er nachts auf seine Wiese in der Spreng gegangen und das Wasser zum Wässern aufgewendet, da habe ein Schwein in dem Wäldchen auf der Langenbrombacher Seite geschrien, als ob ihm das Messer im Hals stäke. Das Gespenst gehe bis in den Holler Wald, wo man vor sechzehn Jahren Kohlen brennen lassen, über welches die Kohlenbrenner damals sehr geklagt und daß sie vielfältig von ihm geängstigt würden. …“ Daher stammt auch die Bezeichnung „Kreißl“, die sich vor allem in Franken gehalten hat. Aber die echten Bayern nennen uns liebevoll Woibaddinga. Wir sind ihr heimliches Wappentier. Möglicherweise hat unser Name etwas mit der Walpurgisnacht zu tun. So steht im Großen Brockhaus Lexikon von 1994, Bd. 24: „Wolperdinger – mundartlich mit Walper verwandt, einer Entstellung von Walpurgisnacht, was so viel bedeutet wie „sich zwischen Welten bewegen“. Wir sind sozusagen übernatürliche Wesen, die zwischen unserer und der geistigen Welt hin und her wandeln.

Unser Lebensraum sind die bayerischen Wiesen, Wälder und Gebirge, wo es genug leckere Kräuter und Wurzeln gibt. Wir sind vor langer Zeit aus einer Liebelei zwischen einem Hasen und einem Rehbock entstanden. Mit einem gehörnten Hasenbaby fing alles an, und heute treiben es die Tiere im Wald bunt mit- und durcheinander. So haben wir alle die Merkmale von verschiedenen Tieren geerbt wie Marder, Hecht, Fuchs, Ente, Fasan oder Dachs. Unser Kopf gleicht ein wenig dem eines Hasen Aber wir haben ein kleines Geweih oder Hörner und scharfe Raubtier- und Nagezähne. Neben den Vorderläufen zeigen wir prächtige Eichelhäherflügel. Aber ich habe auch schon Wolpertinger mit Fledermausflügeln und Entenfüßen getroffen. Wir sehen gefährlich aus, sind aber harmlos und einfach schön! Teile unserer Körper haben magische Kräfte, vor allem für Liebeszauber und zur Beseitigung körperlicher Unschönheiten kann man sie verwenden. So sind uns ständig Jäger auf den Fersen, gegen die wir uns mit einem bestialischen Geruch, den wir zur Verteidigung verspritzen, zur Wehr setzen. Der lässt sich auch mit Duschgel und Seife nicht abwaschen, er verschwindet erst nach sieben Jahren.
Am liebsten springen wir mit großen Hüpfern in den Bäumen herum, denn wir haben sogenannte „Hangbeine“. Das heißt, dass der rechte Hinterlauf etwas kürzer ist als der linke. Deshalb bewegen wir uns auf dem Boden auch etwas schwerfällig und kurvig. Vielleicht sind wir deshalb bei den bayerischen Politikern als Ratgeber so beliebt und können ihnen bei sehr wichtigen politischen Entscheidungen helfen, was wir sehr diskret, aber auch sehr tatkräftig tun.  

Mit unserem hoch entwickelten Feingefühl haben wir in den letzten Jahren auch in die Fußballergebnisse eingegriffen und so dem FC Bayern München zu seinen Siegen verholfen.

Wir sind auch sehr einfühlsam und geschickte Berater in allen Lebenslagen und für alles Unerklärliche in Bayern verantwortlich. Schon seit ewigen Zeiten fragen uns junge Frauen und Männer um Rat. Um Antwort zu erhalten, sollte man sich in bayerischer Tracht um Mitternacht zu einer Waldlichtung begeben. Als Opfergabe muss man eine Maß Bier und einen Teller mit einer Auswahl an Leberkäse und Weißwurst ins Unterholz stellen. Wir kommen dann vorsichtig herbei und stärken uns. War alles lecker, dann können sie unseren Rat erhalten.
Unser Speichel hat eine magische Wirkung: auf die Haut getröpfelt, wachsen an diesen Stellen kräftige Haarbüschel, die erst nach sieben Jahren wieder verschwinden. Wem fällt da nicht sofort ein bayerischer Finanzpolitiker ein, für dessen Augenbrauen wir verantwortlich waren. Viele Politikerköpfe schmücken üppige Haarbüschel, die Burschen können sich dank unserer Bemühungen überall sehen lassen. Dagegen können wir üppig gefüllte schwarze Kassen unsichtbar machen.

Die Mannsbilder sind oft sehr ungeschickt, wenn es um die Schönen und Angebeteten geht. So wünschen sich die hübschesten Bayernmädel, einen echten Wolpertinger zu sehen. Aber wir sind sehr schwer zu fangen, und wenn wir uns überhaupt zeigen, dann nur im dunklen Walde um Mitternacht. So brauchen die Mädel einen Beschützer, der sie zur Beobachtung begleitet. Die Pärchen legen sich im Gras auf die Lauer, aber wenn wir dann hervorkommen, dann sehen sie uns nicht. Sie sind derweil mit anderen Dingen beschäftigt – das haben wir noch immer gut hinbekommen! Ohne uns wären die Bayern schon längst ausgestorben!

Um unsere Verdienste zu würdigen, gibt es in Mittenwald das erste Internationale Wolpertinger Museum der Welt. Auch im Münchener Jagd- und Fischereimuseum sind Vertreter unserer Familien zu sehen. In Kunst und Literatur stehen wir oft als Metaphern für das Unerklärliche, Unergründliche, für Furchtlosigkeit und diplomatischen Takt. Und dennoch behaupten die ignoranten Wissenschaftler, es gäbe uns nicht: Wir wären die Frucht unseriöser bayerischer Tierpräparatoren.

 

Wolpertinger bedankt sich bei seiner Autorin Birgit Scheps-Bretschneider

 

Mehr über mich erfahren Sie hier:

Deutsche Sagen, hrsg. von den Brüdern Grimm. Rütten und Loening Berlin 1983, S. 141f.

Fischer, Ernst und Riehl-Heyse, Herbert: Bayern braucht Wolpertinger. Eine dramatische Reportage erlebt von Heike Brink. Ehrenwirt, München 1977.

Schallweg, Peter: Der Wolpertinger, das bayerische Urviech. Rosenheimer Verlag, Rosenheim 1994.

Schweiggert, Alfons: Alles über den Wolpertinger, oder Bayerns heimliches Wappentier ist unter uns, München, W. Ludwig Buchverlag in der Südwest GmbH, Pfaffenhofen 1982.

Schweiggert, Alfons: Bayerische Märchen. SüdOst Verlag, Erbendorf 2016.

Schweiggert, Alfons: Das endgültige Wolpertinger Handbuch. Goldmann Verlag, München 1989.

Schweiggert, Alfons: Der kleine Wolpertinger. Turmschreiber Verlag Ingwert Paulsen jr., Husum 2013.

Schweiggert, Alfons: Und es gibt sie doch! Die Wahrheit über die Wolpertinger. W. Ludwig Buchverlag in der Südwest GmbH, Pfaffenhofen 1988.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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