Das Fabelwesen des Monats Oktober

Der Bücherwurm

Ich bin der Bücherwurm. Warum eigentlich gerade ein Wurm? Denn ich bin ein Insekt. Genau genommen ein Nagekäfer aus der Art der Ptinidae und habe mit Würmern nichts gemein. Vielleicht kennt ihr mich ja eher unter dem Namen Holzwurm. Der Spitzname kommt wahrscheinlich daher, dass ich mich am liebsten in alten, trockenen Holzstücken aufhalte und dort vermehre.

Bücherwurm nennt man mich, weil früher Bücher (Folianten, Codices) in einen hölzernen Buchblock eingebunden waren und die Seiten nicht wie heute aus Papier, sondern aus Pergament, also Tierhaut bestanden. Und ich bin nun mal kein Vegetarier. Das macht mich aber noch zu keinem Feinschmecker. Mir ist es eigentlich egal, ob ich in einem uralten Namensregister oder einer kostbaren Handschriftensammlung lebe. Wichtig ist nur, dass es Pergament ist. Denn dann haben meine Kinder immer ordentlich was zu futtern. Und die sind hungrig. So weiß ich von einigen, die es auf stolze 69 Seiten in einem Frühdruck von Schöffer von 1477 geschafft haben (Blades, S. 87). Aber es geht noch besser: Legendär unter uns Bücherwürmern ist die Leistung eines Verwandten von mir. Er erzählt immer gern und viel davon, wie er sich in einem monumentalen Alleingang durch insgesamt 27 Folio-Bände durchfutterte, und zwar so, dass man hinterher einen Faden durch alle Bände ziehen konnte (Haarkötter, S. 25). Allerdings muss ich dem hinzufügen, dass besagter Verwandter uns Bücherwürmern bis heute einen Beweis für seine Leistung schuldig geblieben ist, sodass wir uns insgeheim auch ein bisschen über seine Angeberei lustig machen. Auch will ich hier mit einem Mythos über mich aufräumen: Ich meine die landläufig als „Totenuhr“ bezeichneten Klopfgeräusche, die so manchen Bibliotheksbenutzer schon an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Die Verursacher dieser Geräusche sind Verwandte von mir, nämlich der Gescheckte Nagekäfer und die Gemeine Staublaus. Und um das Rätsel endlich zu lösen: Es handelt sich nicht um das Ticken der Uhr des Sensenmannes, sondern um den Ruf nach einer Partnerin. Warum man aber dafür andauernd seinen Kopf gegen die Wand schlagen muss, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. (Haarkötter, S. 31). Jedenfalls hat das Geräusch nichts mit Tod und Untergang zu tun.

Zuerst beschrieben hat mich der antike Philosoph Aristoteles in seinem Werk Tierkunde, IV, Kap. 7. Ich habe aber keinen blassen Schimmer, warum er mich dort als einen kleinen skorpionähnlichen Wurm mit Stachel bezeichnet. Als dann die Antike zu Ende ging, hatte ich auch erst einmal Ruhe. Das ganze Mittelalter hindurch konnte ich in Frieden die Klosterbibliotheken unsicher machen, ohne dass sich jemand groß um mich scherte. Erst im 17. Jahrhundert fingen die Menschen wieder an sich für mich zu interessieren. Das hängt damit zusammen, dass der Holländer Hans Lippershey um 1600 das erste Fernrohr entwickelte und ausgerechnet auf der Frankfurter Buchmesse 1608 vorstellte. Richtig los ging es dann, als 1664 die Royal Society dem Engländer Robert Hooke den Auftrag gab, mit Hilfe dieser neuen Technologie verschiedenste Objekte zu untersuchen und die neuen Erkenntnisse in einem großen Buch (Micrographia, 1665) veröffentlichte. Mehr durch Zufall legte er auch einen meiner Vorfahren aus seiner Bibliothek unter das Mikroskop. Hook beschrieb ihn als „kleine perlfarbene Motte“. Erst dem Buchdrucker William Blades (1824-1890) gelingt es, mich genauer zu beschreiben. Dazu hat er in mehreren Versuchen, die sich über 18 Monate hinzogen, versucht, einen meiner Artgenossen von der Larve bis zum Erwachsenenalter großzuziehen – in einer Pappschachtel!

Erst im 20. Jahrhundert haben es endlich die Menschen geschafft, dem Geheimnis meiner Herkunft näher zu kommen. Insgesamt hat man schon 160 verschiedene Arten von Tieren entdeckt, die gemeinhin als „Bücherschädlinge“ von euch bezeichnet werden. Aber wie der Entomologe Siegfried Cymorek zugeben musste: „Man muss also mit dem Tatbestand leben, dass man sich über bestimmte Tiere nicht exakt äußern kann.“ (Cymorek, S. 34). Ich bleibe also für euch Menschen in vielerlei Hinsicht ein Rätsel.

Wie aus dem Wurm ein Mensch wird

Besonders kurios finde ich es ja bis heute, dass ihr Menschen diejenigen unter euch, die Bücher wertschätzen, als „Bücherwürmer“ bezeichnet. Zugegeben, ihr habt damit erst spät angefangen, aber warum denn ausgerechnet ein Wurm? Ist euch nichts Netteres eingefallen? Anscheinend nicht, aber der Begriff ist ja auch von einem Jugendlichen geprägt worden. Schließlich war Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) gerade mal 18 Jahre alt, als er die Komödie „Der junge Gelehrte“ 1748 verfasste. Und er verwendet dieses Wort als eine ironisch-parodistische Bezeichnung für das damalige Studententum.

Doch ich schweife ab. Denn viel interessanter erscheint mir die Frage, welche Typen von Bücherwürmern es gibt. Wer nicht im engen Kontakt mit Büchern steht, hat vermutlich von den drei Fremdwörtern Bibliophile, Bibliophage und Bibliomane noch nie gehört. Als Bibliophilen bezeichnet man einen Menschen, der Bücher liebt, kurz, er ist ein Bücherfreund. Ein Bibliophage hingegen wertschätzt Bücher nicht nur, sondern er verschlingt sie förmlich. Eine treffliche Umschreibung für einen Bücherwurm, oder? Wir kennen doch alle eine Person, die heute ein neues Buch kauft und es in kürzester Zeit ausgelesen hat. Das Lesen von Büchern ist auch der große Unterschied zwischen dem „Bücherfresser“ und dem Bibliomanen. Letzterer ist wörtlich gesprochen „besessen von Büchern“. Auch „Buchsüchtiger“ wäre eine gute Bezeichnung. Bibliomanen sind leidenschaftliche Sammler von Büchern, Texten, Manuskripten – sie interessieren sich aber häufig weniger für den Inhalt, sondern vielmehr kommt es ihnen darauf an, ein bestimmtes Buch zu besitzen. Ist dieses gesuchte Stück endlich erworben, so schlägt das Interesse in Gleichgültigkeit um und der Büchersüchtige begibt sich auf die Jagd nach der nächsten Rarität. (Rath-Vegh, S. 57).

Bücher bedeuten uns Bücherwürmern also vieles. Wir lieben nicht nur den Inhalt, Form und Geruch dieses einzigartigen Mediums. Der Bücherwurm schätzt das Buch in seiner Gesamtheit: den Geruch frisch gedruckter Buchseiten, die Haptik des Papieres und die Ästhetik des Umschlags, welche visuell anregend ist. Ein Bücherwurm will eben nicht nur den Inhalt genießen. Er will das Buch mit allen Sinnen erfassen. Wir fühlen uns sozusagen magisch angezogen von dieser Materie, die uns in fremde Welten entführt. Dort erleben wir nervenkitzelnde Abenteuer, erforschen fremde Welten, jagen Verbrecher oder sind Teil einer ergreifenden Liebesgeschichte. Der Bücherwurm liebt dieses „Eintauchen in andere Welten“ und zieht hieraus seine größte Freude. Bücher sind die Schlüssel, mit denen wir Bücherwürmer unsere geistigen Türen zu Fantasie und Wissen öffnen.

Der Bücherwurm dankt seinem Autor Leonhard Lietz.

 

 

Empfehlungen eines Bücherwurms:

Holbroock Jackson, The Book about Books. The Anatomy of Bibliomania. New York 1931.

Helmut Presser, Das Buch vom Buch. Bremen 1962. Beinhaltet auch eine Übersetzung des Philobiblon des englischen Bischofs Richard de Bury von Lutz Mackensen.

Istvăn Rath-Vegh, Die Komödie des Buches. 2. Aufl. Budapest 1967.

Mehr über mich:

William Blades, The Enemy of Books. London 1888.

Siegfried Cymorek, Schadinsekten in Büchern. In: Dag-Ernst Petersen (Hg.): Das alte Buch als Aufgabe für die Naturwissenschaft und Forschung. Bremen/Wolfenbüttel 1977. S. 33-54.

Hektor Haarkötter, Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser. Darmstadt 2010.

Istvăn Rath-Vegh, Die Komödie des Buches. 2. Aufl. Budapest 1967.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.