Das Fabelwesen des Monats Juni

Echidna

Ihr kennt mich nicht. Noch nicht. In Monsterkreisen bin ich eine Berühmtheit. Denn ich bin die Urschlange und die Mutter der Monster. Naja, zumindest die der griechischen Mythologie. Obwohl das ja mit dem Begriff „Monster“ eh so eine Sache ist. Laut moderner und postmoderner Definition bin ich ein Ungeheuer, das der Einbildung seiner Schöpfer (also euch Menschen) entstammt, zuweilen aus einer fremden fernen Welt in die eure kommt und sich durch eine entsprechende Stärke und Größe auszeichnet. Zudem sagt man Monstern nach, hässlich zu sein, andere vor Angst schlottern zu lassen, Missbildungen zu tragen und in der Regel seltsame bis widernatürliche Essgewohnheiten zu besitzen, übler Gestank inklusive.

Im Mittelalter war das noch ganz anders. Da galten Monster („monstra“) zwar als fremde Wesen, die etwas Schauriges, Abstoßendes und Wunderliches besaßen, aber den Menschen gefährlich wurden meine Kollegen (aller Essgewohnheiten zum Trotz) nicht. Im Gegenteil. Solche wie mich rechnete man sogar dem Wunderglauben zu. Das lateinische Wort monstrare macht das sehr deutlich, denn es bedeutet so viel wie „zeigen“ oder „deutend vorweisen“, während monere „warnen“ meint. Demnach sind Monster im mittelalterlichen Verständnis dazu da, zu zeigen und zu warnen und sind damit ein maßgeblicher Teil der Schöpfung. Oder anders ausgedrückt: Dass es meinesgleichen gibt, hat seinen Grund. Obwohl meine mittelalterlichen Kumpel im Vergleich zu mir eher mit dem „Menschlichem“ assoziiert wurden.

Einer von euren Wissenschaftlern hat das schön ausgedrückt: „Im Gegensatz zu den die Menschen quälenden und verführenden Dämonen sollten die Monster aufgrund ihrer Verweisfunktion in den allegorischen Deutungen den Menschen helfen, ihre eigenen Verfehlungen einzusehen (sie zu warnen oder zu mahnen) und sich dadurch zu bessern.“ Leider bin ich – im Gegensatz zu den Sirenen oder den Kentauren – in den mittelalterlichen Texten ziemlich in Vergessenheit geraten. Dafür kannten mich die antiken Autoren von Apollodor und Apollonius über Hesiod bis hin zu Ovid, Pindar und Strabo ganz gut, und für die bin ich in den meisten Fällen die Mutter der Monster. Schluss. Punkt. Ende.

Die Geschichten besagen, dass ich selbst von Monstern abstamme. In einer Version bin ich die Tochter von Styx, der Göttin des gleichnamigen Flusses, der Welt und Unterwelt voneinander trennt. Der Fährmann Charon reist auf ihren Wellen und setzt die Verstorbenen über – wenn man ihn denn bezahlt. Den Charonspfennig legte man den Toten vorzugsweise unter die Zunge, um sicherzustellen, dass er nicht gestohlen wurde. War er trotzdem weg oder wurde er vergessen, mussten die Seelen hundert Jahre als Schatten vor sich hinleben. Da lob ich mir doch mein Monster-Dasein.

In einer anderen Version meiner Abstammung bin ich übrigens das Kind von Keto, eines Meeresungeheuers, das dazu auserkoren war, Andromeda – Tochter der äthiopischen Königin Cassiopeia – zu fressen. Doch ihre Gier war zu groß. Der Held Perseus rettete das Mädchen und tötete meine Mutter. Ein unschönes Ende für sie. Nicht, dass ich Mitleid mit ihr gehabt hätte. Monster neigen nicht zu sentimentalen Gefühlen, vor allem keine, die nicht altern. Wie ich. Oder unsterblich sind. Wie ich. Naja, fast. Immerhin hat mich am Ende auch kein sehr angenehmes Ende ereilt. Mir kam nicht mein knurrender Magen in die Quere, nein, viel schlimmer: Ich wurde im Schlaf umgebracht. Und das noch nicht mal von einem Helden, sondern von einem Riesen mit hundert Augen und dem seltsamen Namen Argus Panoptes. Mir blieb noch nicht einmal Zeit, mich über das Ableben zu beschweren. Oder dagegen Widerspruch einzulegen. So ist es nun mal mit den Monstern. Leicht hat man es nicht. Man ist eben „anders“. Ich bin anders. Halb wunderschönes Mädchen, halb Schlange. Der Dichter Hesiod nennt mich gar riesig, buntgefleckt und äußerst gefräßig. Und laut des Poeten Nonnus spritze ich mit Gift nur so um mich. Diese Griechen! Was für eine Fantasie! Schade, dass sie mich nicht mehr der ägyptischen Göttin Uto nachempfunden haben. Diese wurde manchmal als Uräusschlange, manchmal aber auch mit Flügeln, Krone und Frauenoberkörper dargestellt. Der Ethnologe Heinz Mode hat sogar darüber spekuliert, ob meine schlangen-menschliche Ahnenreihe nicht sogar im Alten Testament zu finden sein. Zwar wird die Schlange im Paradies „nicht ausdrücklich als mischgestaltig erwähnt, jedoch [ist sie] mit menschlicher Rede begabt, was, ins Bildliche übersetzt, je durchaus zur Typik der Menschenschlange führen konnte.“ Eine interessante Vorstellung. Aber zurück zu den Griechen.

Meine Höhle, in der ich meistens alleine wohne (noch so eine seltsame Monsterangewohnheit) befindet sich in Arima, aber niemand – weder Hesiod, noch sein Kollege Homer oder gar der Göttervater Zeus – weiß genau, wo dieser Ort eigentlich liegt. Von Sizilien bis Syrien ist faktisch alles möglich, wobei die meisten antiken Poeten und Geographen wie Pindar oder Strabo der Meinung sind, ich sei definitiv Europäerin. Mir ist das im Grunde egal. Ich mag in der Regel keine Besucher – es sei denn als Leckerbissen. Wie ich schon sagte, ich bin die Mutter der Monster! Und was für Monster das sind, die ich mit Typhon, meinem Monstergatten (manche behaupten auch Monsterbruder) gezeugt habe! Der mehrköpfige Kerberos, der den Eingang zum Hades bewacht, ist darunter, die feuerspeiende Chimaira, der zweiköpfige Hund Othos und Aithon, jener Adler, der laut des römischen Gelehrten Gaius Iulius Hyginus dem Titanen Prometheus zur Strafe jeden Tag die Leber herausriss, weil der so dreist war, den Göttern das Feuer zu stehlen und es den Menschen zu geben. Tja, Strafe muss sein!

Aber auch der Nemeische Löwe, den Herakles auf sehr unfeine Weise erwürgt hat, stammt aus meinem Schoß. Dieser Held hat einer Mythen-Version nach auch meine neunköpfige Tochter Hydra auf dem Gewissen. Schlug man ihr einen Kopf ab, wuchsen ihr zwei neue nach. Sie lebte in den Sümpfen von Lerna und hat sich vor allem an Vieh gütlich getan. Naja gut, hin und wieder hat sie auch das eine oder andere Feld verwüstet. Trotzdem, ich liebte das Mädel. Aber ihr Tod gehörte nun mal zu diesen zwölf unseligen Arbeiten des Herakles. Alles vorherbestimmt ist das mit dem Schicksal. Siehe meine andere Tochter: Die Griechische Sphinx. Ein schlaues Ungeheuer. Ein geflügelter Löwe. Aber den Kopf einer Frau. So mancher antike und spätere Renaissance-Künstler hat ihr noch einen Schlangenschwanz und Vogelflügel gegeben. Mal hat man sie als Schutzdämonin verehrt, mal verdammt und gesagt, sie bringe nichts als Unheil und Zerstörung. Zumindest verstand sie sich auf eines: Rätsel. Aber was es damit auf sich hat, kann sie euch – genau hier – selbst erzählen.

In einer weiteren mythischen Version, die dem Historiker Herodot (4, 8-10) zugeschrieben wird, bin ich übrigens nicht die Mutter der Monster, obwohl ich auch hier halb Frau, halb Schlange bin, sondern quasi die Ahnenmutter des nomadischen Reitervolkes der Skythen. Diese Geschichte spielt am Schwarzen Meer und geht folgendermaßen: Der bereits erwähnte Held Herakles zog durch jene Länder, die zum späteren Skythien (Südrussland/Ukraine) gehörten. Als er in seine Löwenhaut gebettet eines morgens erwachte, stellte er fest, dass seine Wagenpferde verschwunden waren. Er suchte die Tiere und gelangte auf diese Weise zu meiner Höhle. Dort hatte ich die Pferde versteckt, aber nicht gefressen, denn ich war die Herrin des Landes, und ich hatte einen Plan. Ich versprach, sie zurückzugeben, aber dafür wollte ich von Herakles eine Gegenleistung. Sex. So zeugte ich mit dem Helden drei Söhne, die hießen Gelonus, Agathyrsus und Skythes. Aber was sollte ich mit diesen anstellen, wenn sie groß wurden? Mutter sein ist nicht so leicht. Mein Liebhaber gab mir einen Bogen und einen Gürtel und sagte zur mir, dass jener von ihnen, der den Bogen spannen und den Gürtel anlegen könnte, beide behalten sollte. Seine Brüder aber sollten in die Fremde verbannt werden. Es war schließlich an Skythes, der die Aufgabe meisterte und fortan allen Königen der Skythen den Namen gab.

Auch beim griechisch-römischen Geschichtsschreiber Diodor (2, 43, 3) komme ich in einer ähnlichen Geschichte vor, bleibe aber namenlos. Nur an meiner äußeren Beschreibung, dass ich eine aus der Erde geborene Jungfrau sei, deren Unterleib der einer Schlange ist, könnt ihr mich erkennen. In dieser Version ist es auch nicht Herakles, den ich in mein Bett nehme, sondern der Göttervater Zeus höchstselbst. Von meinem Sohn Skythes heißt es dann prophetisch, dass er berühmter als alle anderen sei, die ihm vorausgegangen sind, und er sein Volk nach seinem eigenen Namen „Skythen“ nennen wird.

Als schlangenleibiges Mischwesen bin ich übrigens nicht nur in der griechischen Mythologie etwas Besonderes. Verwandte von mir findet man u.a. bei den indischen Naga, in Burma oder unter mythischen chinesischen Kaisern. Den Namen Nagini haben viele von euch bestimmt schon im Zusammenhang mit Harry Potters Allzeit-Herausforderer Lord Voldemort gehört. Seit den Filmen der Phantastischen Tierwesen weiß man, dass es sich dabei um einen Menschen handelt, der sich in eine Schlange und wieder zurück verwandeln kann, bis die Tiergestalt am Ende übrigbleibt. Nagini war mythologisch betrachtet übrigens die Bezeichnung einer vietnamesischen Prinzessin namens Soma, die häufig als Schlangenmischwesen abgebildet wurde. Und auch in der sogenannten „Neuen Welt“ (Nord- und Südamerika) waren Schlangenmischwesen wie der mexikanische Gott Quetzalcoatl keine Seltenheit. Wie ihr seht bin ich also nicht so selten, wie man aufgrund meines griechischen Namens vermuten könnte. Aber was bin ich nun? Mutter? Göttin? Ungeheuer? Vielleicht irgendetwas von allem. Und das ist auch ganz gut so. Monster sind eben doch nicht gleich Monster. Aber entscheidet selbst …

Echidna dankt ihrer Autorin Constance Timm.

 

Mehr zu mir und meinen Monsterfreunden erfahrt ihr bei:

Rudolf Simek: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. 2. verbesserte Aufl. Böhlau Verlag: Köln, 2019.

Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd. 2. Verlag Metzler: Stuttgart, 2013.

Diodorus of Sicily, Vol. 2 transl. by C.H. Oldfather. Loeb Classical Library. Harvard University Press/London Heinemann: Cambridge Mass., 1979.

Heinz Mode: Fabeltiere und Dämonen. Edition Leipzig: Leipzig, 1973.

Herodot. Das Geschichtswerk. Übersetzt von Theodor Braun. Bearbeitet von Hannelore Barth. 2. Aufl. Aufbau Verlag: Berlin/Weimar, 1985.

Hesiod. Theogonie. Reclam: Stuttgart, 1999.

The Oxford Classical Dictionary. Simon Hornblower/Antony Spawnforth (Hg.). 3. Aufl. Oxford University Press: Oxford, 2003.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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