Der Minotauros
Liebe Leserinnen und Leser!
Mein Name ist – und da gehen die Schwierigkeiten schon los. Ich bin in der griechischen Mythologie zwar als Minotauros bekannt, aber das ist kein Name. Es ist nur eine griechische Bezeichnung, vielleicht so was wie „Stier des Minos“. Denn meine Mutter Pasiphae, Tochter des Helios, des Sonnengottes, war die Gattin des Königs Minos. Dieser wiederum, so sagen es jedenfalls die meisten Varianten, stammte von Zeus, dem höchsten griechischen Gott, und der phönizischen Prinzessin Eurṓpē ab, die Zeus auf einem Stier nach Kreta entführen ließ – einige meinen, er selbst sei der Stier gewesen, zumindest während des Transportes.
Viele von Ihnen werden die Geschichte schon gehört haben. Zeus vereinigte sich mit Eurṓpē. Auf den Olymp nahm er sie freilich nicht mit. Meine Mutter wurde dann vom kretischen König Asterios geheiratet und Minos wuchs mit seinen Brüdern Rhadamanthys und Sarpedon im königlichen Palast auf. Dass die drei Brüder sich später furchtbar zerstritten, ist eine andere Geschichte. Minos jedenfalls wurde König als Nachfolger seines Ziehvaters – ein großer Gesetzgeber und mächtiger Herrscher, der mit seiner Flotte auch das Meer dominierte. Um König zu werden – so berichten einige – hatte er allerdings erst einmal die Kreter von sich überzeugen müssen. Er tat dies, indem er Poseidon bat, vor aller Augen einen Stier aus dem Meere aufsteigen zu lassen. Diesen wollte er dem Meeresgott anschließend opfern. Poseidon schickte tatsächlich ein Prachtexemplar von einem Stier herauf. Minos wurde nun als König akzeptiert, opferte den Stier aber nicht, sondern reihte ihn seiner Rinderherde ein und schlachtete dem Poseidon einen anderen. Poseidon rächte sich: Er bewirkte, dass Pasiphae sich in einen Stier verliebte und sich von diesem schwängern ließ: Sie kroch dazu in eine hölzerne Kuh, die ihr der berühmte Künstler-Handwerker Daidalos aus Athen gebaut hatte, der wegen eines Mordes nach Kreta geflohen war. Das Resultat dieser Vereinigung von Frau und Stier bin ich – mein Kopf und meine Schultern sind die eines Stieres, der Rest ist menschlich. Andere lassen das Meerwunder weg und sagen nur, Minos habe jährlich dem Poseidon den schönsten Stier seiner Herde geopfert, bloß einmal nicht – mit dem bekannten Ergebnis.
Kurz und gut, Minos war über mich Stierkind erbost und ließ mich wegsperren, in das berühmte Labyrinth, dass ihm Daidalos erbauen musste. Was genau das ist, das Labyrinth, ein verwinkeltes Gebäude, ein unterirdischer Irrgarten oder noch etwas anderes, darüber zerbrechen sich Ihre Gelehrten seither den Kopf. Genug, im Zentrum dieses Labyrinthes hauste ich und bekam alle sieben Jahre – oder nach anderen Quellen alle neun – vierzehn Jugendliche aus Athen zum Fraß vorgeworfen, sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen. Das war die Buße, die Minos Athen zur Strafe dafür auferlegt hatte, dass sein Sohn Androgeos auf athenischem Staatsgebiet und vielleicht gar auf Anstiftung des dortigen Herrschers Aigeus ermordet worden war. Das ging zweimal gut (nicht für die jungen Leute natürlich, aber für mich). Beim dritten Male kostete es mich dann das Leben. Denn unter den jungen Leuten war Theseus, unehelicher Sohn des Königs Aigeus und auf dem Wege, der größte Heros Athens zu werden.
Dieser Theseus brachte mich um. Ariadne, eine Tochter des Minos hatte sich in ihm verliebt und ihm ein Garnknäuel gegeben, welches er am Eingang zum Labyrinth festmachte und abrollen ließ, und an diesem sprichwörtlich gewordenen Ariadnefaden tasteten er und die geretteten Jungen und Mädchen sich zurück ins Freie. Oder, so wird auch erzählt, Ariadne hatte ihm einen wunderbaren Kranz gegeben, der vor ihm herschwebte und dabei ein silbriges Licht ausstrahlte. Theseus wollte sie dafür heiraten, aber daraus wurde nichts. Bei einem Zwischenstopp auf der Insel Naxos während der Heimreise nach Athen verließ er die schlafende Schöne, und diese erhängte sich später aus Verzweiflung. Oder Dionysos, Gott des Rausches, des Weins, auch des Theaters usw., nahm sie ihm weg, weil er sich in sie verliebt hatte, und postum wurde sie dann unter die Sterne versetzt. Das alles kann man hören und lesen – aber das war schon nach meiner Zeit.
Soweit der griechische Mythos, in dem ich eine für Sie sicher sinistere Rolle spiele, zumindest in der düstersten Sage, wie es in der Theseus-Biographie des griechischen Gelehrten Plutarch heißt, der nach Ihrer Zeitrechnung etwa 46 bis 125 gelebt hat. Schon vor ihm scheint der Mythos nicht mehr nennenswert gewesen zu sein, denn dieser Plutarch zitiert andere Meinungen, nach denen die jungen Athener gar nicht gefressen, sondern versklavt worden wären, oder nach denen sie der Siegespreis bei den Leichenspielen für Androgeos gewesen seien, den angeblich ein Militär namens Tauros gewann, der die athenischen Jugendlichen grausam behandelte und im Labyrinth – hier also ein Gefängnis – eingesperrte. Mich hat es demnach gar nicht gegeben. Beziehungsweise war ich auch bloß ein Mensch. Denn, wie ein ganz besonders gewitzter Mythenrationalisierer namens Palaiphatos aus dem 4. Jahrhundert vor Ihrer Zeitrechnung schrieb, mein Erzeuger war natürlich kein Stier, sondern ein schöner junger Mann namens Tauros, in den meine Mutter sich verliebt hatte …
Auch die Archäologen, Altphilologen, Althistoriker und Religionswissenschaftler, die Sie so hoch schätzen, glauben dem Mythos nicht unbesehen. Ich sei ein Stiergott des alten Kreta gewesen, oder in meiner Geschichte steckten Erinnerungen an Menschenopfer, die von Priestern mit Stiermasken vollzogen worden seien. Kreta war die erste Hochkultur Europas. Seit reichlich hundert Jahren wird sie von Ihren Leuten ausgegraben und erforscht, und nach Meinung dieser Forscher blühte sie von 1900 bis etwa 1380 vor Ihrer Zeitrechnung und strahlte weithin aus. Sie war eine vor- und ungriechische Kultur, und sie blieb auch noch bedeutend, nachdem ihre Hauptorte so um 1450 vom griechischen Festland aus übernommen wurden – eine wahrscheinlich eher feindliche Übernahme; bis die Insel dann von dorischen Griechen besiedelt wurde, deren Dialekt man fortan auf Kreta sprach. Was die alten Kreter aber geglaubt haben, wissen Sie bis heute nicht. Sie sind auf die Deutung von Fresken, Kleinplastiken, Siegelringe usw. angewiesen – von den vier Schriftsystemen, die auf Kreta im Gebrauch waren und von denen Dokumente vorliegen, sind drei bis heute nicht entziffert. Falls die Kreter ihre Mythen aufgeschrieben haben, kennen Sie sie nicht, denn das vierte Schriftsystem, von Ihnen Linear B genannt, ist ein altertümliches Griechisch, und die damit beschrifteten Tontäfelchen sind reine Verwaltungsakten. Welche Sprache die alten Kreter gesprochen haben, ist für Ihre Fachleute bis heute rätselhaft.
Natürlich gab es im Vorderen Orient Stiere als Begleittiere oder sogar Erscheinungsformen von Göttern. Aber war das auch auf Kreta so? Die meisten Ihrer Experten zweifeln oder schütteln den Kopf. Sie wissen es eben nicht. Übrigens hatte ich möglicherweise einen Cousin in Mesopotamien, kusarikku, den Stiermenschen, der zur Monster-Brut gehörte, die Tiamat, das Ur-Chaos, ausgebrütet hatte, und der von einem Gott der jüngeren Generation, heiße er nun Ninurta oder Marduk, besiegt wurde. Aber kusarikku war vom Aussehen her das Gegenteil zu mir. Er besaß einen Stierkörper und einen Menschenkopf. Was Sie über mich gelesen haben, stammt von Griechen, nicht von den alten Kretern, und ist vergleichsweise jung.
Auf mein Nachleben nach dem Ende Ihrer Antike möchte ich nur kurz eingehen. Ihr Mittelalter hat mich in der Regel als Verkörperung des Teufels betrachtet, was angesichts der „düstersten Sage“, die sich am besten gehalten hat, auch nicht weiter verwunderlich ist. Jedenfalls stand ich für das Animalische, das besiegt oder in Schach gehalten werden muss. Im 19. Jahrhundert wurde ich gar eine Art schauriges Sex-Symbol. Die Surrealisten des 20. Jahrhunderts waren fasziniert von mir als Inkarnation des ungezügelten Begehrens, der irrationalen Kraft und Gewalt etc. pp., und Pablo Picasso, den die meisten von Ihnen sicher für das größte bildnerische Genie des 20. Jahrhunderts betrachten, hat mich in diesem Sinne in vielen seiner Werke verewigt. Trotz Theseus: So leicht wird man mich eben nicht los.
Aber noch mal zur Frage Mythos und historische Realität, über die ja so viel geschrieben worden ist. Wie viel Älteres, Kretisches wirklich in dem steckt, was das klassische und nachklassische Griechenland über mich zu erzählen wusste, und welche Metamorphosen es durchlaufen hat, darüber rätseln die Gelehrten bis heute. Sollen sie nur. Ich werde Ihnen bei der Lösung nicht behilflich sein. Ich füge noch ein kleines Rätsel hinzu: Nach einigen habe ich wirklich einen Namen: Asterios bzw. Asterion. Das verweist auf Sterne, auf den Himmel. Habe ich also eher etwas mit einem Gestirnkult zu tun …? Auch das werde ich Ihnen nicht sagen. Irren Sie ruhig weiter im Labyrinth umher.
Es grüßt sie herzlich
Das Untier
Der Minotauros dankt herzlich seinem Autor Christoph Sorger.
Wenn Sie mehr über mich lesen wollen:
Apollodor. Götter- und Heldensagen. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Artemis & Winkler: Düsseldorf/Zürich, 2005.
Walter Burkert. Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Kohlhammer: Stuttgart, 2011.
Die Wahrheit über die griechischen Mythen. Palaiphatos‘ Unglaubliche Geschichten‘. Herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen. Reclam: Stuttgart, 2002.
Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Herausgegeben von Hubert Cancik und Hellmuth Schneider. J. B. Metzler: Stuttgart/Weimar, 1996 ff.
Diodoros. Historische Bibliothek. In der Übersetzung von Julius Friedrich Wurm. Herausgegeben von Günter Klawes. Marixverlag: Wiesbaden, 2014.
Timothy Gantz. Early Greek Myths. The Johns Hopkins University Press: Baltimore/London, 1993.
Plutarch. Große Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Buchclub Ex Libris: Zürich, 1984.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Der gesamte Mythos, von Europa bis zu deren Enkeln Ariadne und Minotauros, einschließlich Ariadnes Gatten Dionysos, ist die Geschichte der Erkenntnisgewinnung der Europäer über das Phänomen der Finsternisse, ihrer Vorherdagemöglichkeiten u. ekliptikalen Bedingungen. Das Labyrinth ist der zodiakale Sternenkreis mit den verwirrenden Planetenbahnen mit Schleifen bei Mars u. Venus, mit den verborgenen Umläufen der Finsternisknoten u. den schwer bestimmbaren, diversen Mondrhythmen.
Der darin hausende Minotauros heißt namentlich also zu Recht Asterios/Asterion.
I. Marzahn, Bernau bei Berlin