Das Fabelwesen des Monats April

Das Einhorn

Alles Gute, alles Heilende hat in mir Gestalt gefunden. Menschen scheinen mir mehr und mehr zum Zweifeln geboren. Wie verwunderlich ist es also wirklich, daß ich mich in Form eines Pferdes, dem wohl ältesten Begleiter, Helfer und Freund des Menschen, unter sie gemischt habe?

Wir Einhörner hatten gehofft, daß die schriftlich festgehaltenen Beobachtungen Ktesias‘ von Knidos, als Leibarzt der persischen Großkönigs Artaxerxes II., anders, besser Fuß fassen würden. Auch wenn später u.a. Aristoteles, obwohl er Ktesias als Quelle anzuzweifeln scheint, seine Passagen aufgreift, bleiben wir weiterhin noch ein paar Jahrhunderte unerfahren. Doch Zeit macht uns nichts; wir existieren außerhalb von ihr, in unseren Wäldern, die die schönsten und farbenfrohesten sind. Doch dazu später mehr.

Dank des Physiologus, ein hübsches, frühchristliches Werk in Griechisch (mein Name hier: Monokerôs), das ab dem 2. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung verfasst wird, schenkt man uns mehr und mehr Aufmerksamkeit.

„Ein kleines Lebewesen ist es, wie ein Böckchen, aber ganz außerordentlich leidenschaftlich. Nicht kann ein Jäger ihm nahekommen weil es sehr stark ist. Ein einziges Horn hat es mitten auf seinem Kopf. Wie nun wird es gefangen? Eine reine Jungfrau, fein herausgeputzt, werfen sie vor es hin, und es springt in ihren Schoß; und die Jungfrau säugt das Lebewesen und bringt es in den Palast zum König. […] sondern er hat gewohnt im Bauch der wahren, reinen Jungfrau Maria [der Gottesgebärerin] und der Sinn wurde zum empfindenden Leib und wohnte in uns.“

Doch in der Bibel, im christlichen Glauben, fanden wir kein zweites Zuhause. Obwohl uns auch hier bekannte und anerkannte Heiler wie Hildegard von Bingen und Albertus Magnus Raum gegeben haben. Alchemisten gaben uns ebenfalls Bedeutung, als beschwichtigendes Gegengewicht zur Kraft des Löwen (wir beide symbolisieren hier den Spiritus Mercurius, das Quecksilber; ein altes Heilmittel, das ebenso toxisch sein kann). Hier versteckt sich (gar nicht mal so gut) eine weitere meiner starken Eigenschaften. Mercurius, Merkur, der Planet der Kommunikation (auch mit dem Göttlichen), Verstand, Reisen und Lernfähigkeit. All das funktioniert mal gut, mal schlecht. Mal wie von selbst, mal konfliktbelastet. Die Konflikte, die das Christentum in seiner Hochzeit immer wieder heraufbeschwörte, haben unsere Versuche der Kontaktaufnahme mit den Menschen leider wieder verblassen lassen.

Natürlich sind so manche Erzählungen von Sichtungen und ältere Darstellungen auf Verwechslungen zurückzuführen. Ganz voran die Auerochsen und Nashörner. Die Menschen bekommen uns selten bis nie zu Gesicht, da wir in unseren schon erwähnten Wäldern leben und diese so selten wie möglich verlassen. Denn außerhalb dieser sind wir verwundbar und sterblich. Und spätestens, als wir sahen, wie die Menschen auf uns Jagd zu machen suchten, um an unser mit Heilkräften versehenes, schneckenartig geschwungenes Horn zu gelangen.  Wie konnten diese Menschen nur je annehmen, daß es keine Folgen haben würde, uns, das Gute, die Heilkraft in Gestalt, etwas Böses zu tun? So blieben wir länger und länger in unseren Wäldern und neue Einhörner wurden seltener geboren.

Lieber Leser, sei nicht traurig. Du weißt, es gibt auch ganz andere Menschen, ganz andere Regionen und Länder, die Wesen wie mich zu schätzen wissen. Daß ich als das Nationaltier Schottlands erwählt wurde, ist nicht nur auf meine Kräfte und meinen Drang nach Freiheit zurückzuführen. Man erzählt sich, daß wir das einzige Tier sind, das der Löwe, der König der Tiere, das National- und Wappentier Englands, nicht besiegen kann. Und wer weiß schon, was wir für die Schotten noch Gutes bewirken können?

Denn, glaubst du an mich, das Einhorn, dann bin ich. Wagst du dich in den Wald des Lebens vor und läßt dich auf ihn ein, entdeckst ihn mit dem Mut und der Neugier eines Abenteurers, gehst die Wege, die sich dir zeigen oder auch Trampelpfade, immer deinem Herzen nach, sind wir auch neugierig auf dich. Und wenn deine Absichten rein sind (wenn du dir bewußt bist, ehrlich und authentisch, wie die Jungfrau), öffnen wir dir unseren Wald für einen Besuch. Für ein Verweilen. Wir teilen gern. Wir geben gern von all der Energie, all dem Guten, all der Kraft – alles, was wir sind. Und wenn du ein bißchen von unserem Horn kratzen möchtest, um deine Heilung zu unterstützen, erzähl uns deine Geschichte. Wir treffen leider nur noch sehr selten auf so mutige Menschen wie dich, die sich immer wieder sich selbst stellen.

Solltest du Albträume haben, erinnere dich daran, daß sie nicht von Dauer sind. Aber auch, daß hinter ihrer Geschichte etwas steckt, was gesehen werden möchte. Einer anderen Erzählung nach ist der Alb, der Nachtmahr, mit uns entstanden. Zwei Einhörner waren wir und uns wurden die Geschenke Schlaf und Tod angeboten. Meine Urmutter erhielt den Schlaf, doch ihr Geliebter fürchtete den Tod und log. Durchschaut war er schnell und wurde so zum Urvater der Nachtmahre. Verdammt waren er und all seine Nachkommen, nie wieder in der Sonne, im Licht, zu wandeln. Schmerzen würde sie ihnen verursachen. Nur Träume anderer Wesen linderten ihren Schmerz und ihre Ängste ein wenig. Denk daran: Schatten werden kleiner, wenn das Licht sie berührt.

Werde, sei oder bleib also ein mutiger Abenteurer des Lebens. Du kannst das Gute sehen, wenn du glaubst. Egal, wie viele andere Menschen ihm Zauber aufsetzen, um es ganz für sich zu haben oder um ihren Schmerz etwas zu lindern, indem sie dich mit Schatten belegen. Sei wie Schmendrik, der Zauberer, und geh deinen Weg, vertrau dir.

Ein offenes Geheimnis verrate ich dir gern noch: Ich bin nie wirklich weit von dir entfernt. In keiner anderen Welt. Unerreichbar. Ganz im Gegenteil. Ich wohne in dir, wenn du an das Gute glaubst. Du glaubst, also bin ich. 

Das Einhorn dankt seiner Autorin Annie Greta Pape.

Mehr über mich findet ihr hier:

Physiologus, das Einhorn (22)
http://12koerbe.de/pan/einhorn.htm

https://www.myhighlands.de/highlands-wissen/schottland-flagge-wappen-symbole/

https://wiki.antamar.eu/index.php/Die_Legende_von_der_Entstehung_der_Nachtmahre

„Die wahre Geschichte des Einhorns“, Prof. Dr. Helmut Reichling, Zweibrücken im Dezember 2018

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. 

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