„Die Raben rufen: ‚Krah, krah, krah!
Wer steht denn da, wer steht denn da?
Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht
vor dir mit deinem Brillengesicht.
Wir wissen ja ganz genau,
du bist nicht Mann, du bist nicht Frau.
Du kannst ja nicht zwei Schritte gehn
und bleibst bei Wind und Wetter stehn.
Du bist ja nur ein bloßer Stock,
mit Stiefeln, Hosen, Hut und Rock.
Krah, krah, krah!'“
(Die Vogelscheuche, Christian Morgenstern)
Nachdem wir in den vergangenen Wochen den Spuren steinerner Herzen, erzählender Bäume, heiliger Berge und morgenländischer Märchen gefolgt sind, ist es nun an der Zeit uns dem mythischen Herbst zuzuwenden. Und welches Fest wäre besser für solche Gedanken geeignet als das bevorstehende Halloween? Das Fest, das Erntedank und Totenfeier miteinander vereint. Halloween, das bedeutet Verkleidung, Grusel, „trick or treat“ (Süßes oder Saures). Man schlüpft in die Rolle der Geister und schlägt der Angst ein Schnippchen.
Bei den Vorbereitungen für unser diesjähriges Halloween-Special wurde meine Aufmerksamkeit von einem „Wesen“ angezogen, das auf den ersten Blick nicht typisch für Halloween zu sein scheint, es auf den zweiten Blick allerdings umso mehr ist. Die Rede ist von der Vogelscheuche. Man findet sie in Gärten und auf Feldern, und in der Regel handelt es sich um eine an Holzstöcken befestigte, menschenähnliche Figur, welche wahlweise mit Kleidung bedeckt oder mit Stroh ausgestopft ist. Durch ihre Form, ihren Schatten und die Bewegungen, die der Wind der eigentümlichen Komposition aufzwingt, tut die Vogelscheuche das, was ihr Name bereits impliziert: Sie vertreibt Vögel, allen voran Krähen und Stare, die es auf ihrer täglichen Nahrungssuche nur zu gern auf Samen, Beeren und Feldfrüchte abgesehen haben.
Lärm und stummes Gelächter
Im Alpenraum existiert eine Variante der Vogelscheuche, die sich Klapotetz (vom Slowenischen „klopótec“) nennt. Menschenähnlich ist dieses Gebilde indes eher selten, denn es ähnelt vielmehr einem sechs- oder achtflügeligem Windrad, dessen lautes Geklapper (wie der Name bereits vermuten lässt) die gefiederten Unruhestifter fernhält. Man findet Klapotetze häufig in Weinbergen. Doch sind sie keine ganzjährigen Erscheinungen. In der Regel werden sie im Juli (den alten Überlieferungen zufolge um den Jakobstag, 25. Juli) aufgestellt und zwischen Allerheilgen (1. November) und dem Martinstag (11. November) wieder in die Schuppen verbannt.
Bewegungen, Geräusche und Lichteffekte sind also die Markenzeichen der Vogelscheuche. Sie will verschrecken, und je kreativer und auch gruseliger das Gebilde, umso besser. Mancher Cineast mag sich an den Film „Sleepy Hollow“ mit Johnny Depp in der Hauptrolle erinnern, in dem der Kopflose Reiter umgeht. Zu Beginn der Handlung rennt der vollkommen verängstige Peter van Garrett (der für die Geschichte allenfalls als Opfer und Handlungsauslöser relevant ist) durch ein Feld und erschrickt im Angesicht eines Blitzes vor einer riesigen, mit einem gigantischen Kürbiskopf ausgestatteten Vogelscheuche. Das starr grinsende Gesicht wird im nächsten Moment von einem Blutstreifen überzogen, nachdem der Reiter sein todbringendes Werk vollbracht hat. Schauriger kann man eine Vogelscheuche kaum inszenieren. Dagegen mutet die Vogelscheuche aus Lyman Frank Baums „Zauberer von Oz“ fast schon tragisch an: Ihr Kopf ist gänzlich aus Stroh und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als Verstand zu besitzen. Ein Wunsch, der schließlich in Erfüllung geht. Das menschenähnliche Gebilde wird damit tatsächlich zum Menschen.
Es war einmal … eine Vogelscheuche
Im animierten Kurzfilm „Die Legende von der Vogelscheuche“ aus dem Jahr 2005 verarbeitet der spanische Regisseur Marco Besas anhand von Vogelscheuche und Krähe den griechischen Mythos des Raben, der einst Bote des Sonnengottes Apollon und weiß wie ein Schwan gewesen sein soll. Als der Rabe Apollon von der Untreue der Nymphe Coronis berichtete, in die der Gott verliebt war, wuchs der Hass auf den Boten, sodass er dessen Gefieder schwarz werden ließ. Im Film vom Besas sind es die Krähen, deren Gefieder sich schwarz färbt. Die Geschichte handelt von einer traurigen Vogelscheuche, die das Leben, welches um sie herum geschieht, beobachtet, aber nicht daran teilnehmen kann und zudem von allen verachtet und gemieden wird, vor allem von den Vögeln. Eines Tages rettet die Vogelscheuche eine blinde Krähe, füttert diese und freundet sich mit ihr an. Auf die Frage, warum die Vögel keine Vogelscheuchen mögen, erklärt die Krähe, dass Vogelscheuchen Monster seien, was diese noch trauriger macht, da sie keine bösen Absichten hegt. Einen Plan fassend, geht die Vogelscheuche zu dem Bauern, der sie „erschaffen“ hat und verlangt nach einer neuen Arbeit. Der Bauer, zutiefst erschrocken über das sprechende Gebilde, glaubt, es sei vom Teufel besessen. Gemeinsam mit seinen Nachbarn verfolgt er die fliehende Vogelscheuche bis zu einer Mühle, die schließlich in Brand gesetzt wird, bis nur noch Asche zurückbleibt. Selbst die Krähen, welche von der guten Tat der Vogelscheuche gegenüber einer ihrer Artgenossen gehört haben, können nicht mehr helfen. Nach dem Brand nehmen sie die Asche der Vogelscheuche auf und verteilen diese im Wind, damit die Vogelscheuche fortan mit ihnen fliegen kann. Das Gefieder der Vögel nimmt dabei vor Wehklagen eine schwarze Farbe an.
Der Film und seine Geschichte sind eine wunderschöne Parabel. Die Einsamkeit der Vogelscheuche auf dem Feld macht diese zu einer Außenseiterfigur. Vor allem ihr Äußeres und ihre Aufgaben sind es, die Ängste schüren. Durch die Ähnlichkeit zum Menschen dient sie als Spiegel von Handlungsweisen, aber auch von Furcht, Sehnsucht und Hoffnung. Die Redewendung, dass jemand aussieht „wie eine Vogelscheuche“, also nicht der als gängig oder ästhetisch wahrgenommenen Norm entspricht, trägt ebenfalls dieser metaphorischen „Vermenschlichung“ Rechnung.
Mythische Ursprünge
Anzunehmen ist, dass Vogelscheuchen seit dem Beginn des Acker- und Gartenbaus in der Geschichte der Menschheit eine Rolle gespielt haben, stehen sie doch sowohl praktisch wie auch symbolhaft für die Beschützer von Früchten und Ernte. Blickt man in die griechische Mythologie, ist es nicht abwegig, in Priapos so etwas wie den Urvater der Vogelscheuchen anzutreffen. Priapos war ein Fruchtbarkeitsgott, ein Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Dionysos, der Wein aber auch Ekstase in Verbindung stand. Im Gegensatz zu seinem göttlichen „Vater“ galt Priapos als Beschützer der Früchte, der Bienen, des Viehs und der Fische, also all jener Lebewesen und Pflanzen, die dem Menschen unmittelbar von Nutzen waren bzw. gezüchtet und konsumiert wurden.
Priapos war kein schöner Gott, obwohl die mütterliche Seite seiner Herkunft dies nahelegt. Im Gegenteil, war er aufgrund eines Zaubers der Göttermutter Hera missgestaltet, weshalb Aphrodite ihn als ihr eigen Fleisch und Blut verleugnete, wie die „Argonautika“ des Dichters Appollonius von Rhodos aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert berichtet. Vor allem die Römer waren es, die seinen Kult verbreiteten. Man opferte ihm die ersten Früchte und stellte hölzerne Statuen in die Gärten und auf die Felder. Damit sollte eine reiche Ernte garantiert werden. Die Gebilde sollten aber auch Vögel oder gar Diebe verschrecken. Wie es sich für einen Fruchtbarkeitsgott gehört, waren die Statuen des Priapos zudem mit einem riesigen Phallus ausgestattet, ganz ähnlich wie die seines römischen Gegenparts Mutunus Tutunus, welcher u. a. bei Hochzeiten Verehrung fand. So war es Tradition, dass sich die Braut im Verlaufe der Feierlichkeiten auf eine in Phallusform gestaltete Statue setzte. Eine Praxis, die der Kirchenvater Augustinus von Hippo in seiner Schrift „Der Gottesstaat“ (De civitate Dei) entschieden ablehnt: „Ist doch auch Priapus anwesend, der übermännliche, auf dessen ungeheuerliches und abscheuliches Glied sich die Neuvermählte setzen mußte, nach der höchst ehrbaren und frommen Sitte der Matronen.“ (De civitate Dei 6, 9) Gänzlich auszulöschen vermochte die neue kirchliche Morallehre die Faszination von Priapos indes nicht. Weit über das Mittelalter hinaus waren die sogenannten „Priapeen“ (oder Carmina Priapea) äußerst beliebt. Dabei handelt es sich um eine Sammlung erotischer und recht schlüpfriger Gedichte, deren Autor anonym geblieben ist. Lenkt man die Aufmerksamkeit nun wieder zur Vogelscheuche zurück und denkt den Gedanken zu Ende, so wären die heute gängigen Garten- und Feldgebilde nichts anderes als moderne Adaptionen der Zurschaustellung antiker Fruchtbarkeitssymbole.
Lässt man den Blick von Rom und Griechenland aus weiter in den Osten schweifen, findet man im antiken Japan eine Gottheit namens „Kuebiko“. Diese wird mit Weisheit und Ackerbau in Verbindung gebracht und trägt die Form einer Vogelscheuche, die einerseits unbeweglich ist, andererseits aber ihre Umwelt sehr genau und aufmerksam wahrnimmt. Noch heute existieren Kuebiko-Schreine, u.a. in der Stadt Sakurai. Zudem werden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in England, Kanada und auch auf den Philippinen die sogenannten „Scarecrow-Festivals“ gefeiert. Ob Vogelscheuchen mit Kürbisköpfen, aus Stroh oder ausgestopfte Puppen – der Fantasie der Gestalter sind keine Grenzen gesetzt. Und obwohl die Feiern nicht an die kulturelle und mythische Dimension von Halloween heranreichen mögen, erfreuen sich diese Zusammenkünfte, die meist in den Sommermonaten stattfinden – also zu der Zeit, wo die Vogelscheuchen ihr eigentliches Werk verrichten – dennoch wachsender Beliebtheit.
Sogar in die Comicwelt hat die „moderne Vogelscheuche“ Einzug gehalten. Scarecrow gilt als ein Widersacher des Helden und geflügelten Rächers Batman. Mit zerrissenen Lumpen bekleidet, Hut und Stroh sowie mit einer Heugabel oder einer Sense bewaffnet, gibt Scarecrow eine wahrlich unbehagliche Erscheinung ab. Der reale Name der Figur, Jonathan Crane, ist dabei (und wohl nicht ganz zufällig) eine Anspielung auf Ichebod Crane aus dem bereits erwähnten „Sleep Hollow“ oder „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“ wie die literarische Vorlage des Schriftstellers Washington Irving heißt. Allerdings sind die Rollen hierbei vertauscht. Ist Ichebod Crane in der Geschichte derjenige, der vom Kopflosen Reiter verfolgt bzw. von doch recht menschgemachtem Spuk in die Irre geführt wird, sucht Jonathan Crane die Bewohner von Gotham City mit Furcht, oder wie im Film „Batman Begins“, mit Drogen heim. Die Vogelscheuche ist hier also ein Mensch, der nicht Vögel abwehrt, sondern andere Menschen in Schrecken versetzt und damit, in gewisser Hinsicht, an unserer Ur-Angst rüttelt.
Vogelscheuche ist also bei weitem nicht gleich Vogelscheuche. Sie ist Beschützer. Werkzeug. Spiegel. Symbol. Fantasiegebilde. Sie kann alles sein und ist niemals gleich. Sie ist skuril. Sie ist stumm. Sie ist gruselig. Es lohnt sich also durchaus, ihre Erscheinung einmal mit anderen Augen zu betrachten. In diesem Sinne wünscht das Team vom Mytho-Blog allen Lesern eine wachsame und schaurige Einstimmung auf die Halloweenzeit.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
Johann Wolfgang Goethe: Römische Elegien und Venezianische Epigramme. Erotica Romana, Priapea. insel verlag 2. Aufl. 2007.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.