Nietzsche Songlines: Röcken
„Das Dorf Röcken liegt eine halbe Stunde von Lützen dicht an der Landstraße. Wohl jeder Wanderer, der an ihm vorbei seine Straße zieht, wirft ihm einen freundlichen Blick zu. Denn es liegt gar lieblich da mit seinen [sic] umgebenden Gebüsch und Teichen. Vor allen fällt der bemooste Kirchturm in die Augen.“ So schreibt der fünfzehnjährige Friedrich Nietzsche über seinen Geburtsort und beginnt damit seine Kindheitserinnerungen. Seine erste Autobiographie ist es; die letzte wird Ecce Homo heißen, ein sprunghaftes Werk voller Erkenntnisblitze und Hochtrabereien. Gefällig also dieses Röcken, auch wenn man heute keine Wanderer sieht, sondern vielmehr eine Autobahn vorbeirauschen hört. Aber Radler gibt es, und die verschlägt es öfter in diesen unauffälligen Ort bei Lützen, wo im Dreißigjährigen Krieg eine Schlacht stattfand, bei der der schwedische König Gustav II. Adolph den Tod fand.
Ich bin so ein Radler und komme an einem heißen Augusttag in Röcken an, circa 30 km von Leipzig entfernt. Ein glücklicher Zufall hat beschieden, dass ich eine Woche im Pfarrhaus wohnen darf, in dem Nietzsche seine ersten Jahre verbrachte. Als Nietzsche hier 1844 geboren wurde, war es 24 Jahre alt. Eine steile Treppe führt in die Wohnung. Hier soll sein Vater, der Pfarrer, gestürzt sein und dieser Sturz leitete eine qualvolle Zeit für ihn und die Familie ein. Nach dem Tod des Vaters zog man nach Naumburg. Vieles blüht und winkt noch aus Nietzsches Zeiten hier. Der alte bröckelnde Torbogen, die Ziegen, die Schwäne auf dem Teich, Geräusche von Häusern und Höfen. Das frühere Waschhaus, das jetzt ein Nietzsche-Museum ist. Die Gräber der Eltern, der Schwester und Nietzsches – die letzteren beiden im Mamorstil der 30er Jahre. Das Grab der Eltern soll Nietzsche, der Anti-Christ, mit einer christlichen Grabplatte versehen haben lassen; er hatte gerade einmal etwas Geld erhalten, wo er doch sonst nach seiner aufgegebenen Basler Professur sehr dürftig lebte. Ein Ensemble, das für die Welt spielt mit seiner Verlassenheit, seinem Ausbüxen aus der Zeit. Viele Besucher aus Südamerika, Frankreich oder Indien wissen das zu schätzen, diese Unzeitgemäßheit. Und Nietzsche sah sich als unzeitgemäßen Denker.
Wie entstehen Mythen? Man kann es bestens an Nietzsche verfolgen. Erst musste er zehn Jahre in die Umnachtung gehen, um Ruhm zu erlangen: der Prophet, an seiner Zeit erkrankt, der Diagnostiker als Symptom! Nun, ab 1890 pilgerten sie zu ihm, der sie kaum noch wahrnahm. Der Kult, der um ihn getrieben wurde, erschuf einen modernen Mythos: der Übermensch, den er selbst ins Leben gerufen hatte, machte sich breit in dem Bild und den Denkmälern, die man für ihn setzte – Nazis, Kriegslüstlinge, Anarchisten, Dichter, Feministinnen und Misogyne, Lebenskünstler und -reformer, linke Theoretiker, neurechte Rhetoriker, Postmoderne, Zenbuddhisten und Veganer. Der Kampf um Nietzsche geht auch heute weiter.
Mythische Gestalten der Moderne – solche, die Ansätze zu Mythenbildung aufweisen – sind Menschen, die Spuren hinterlassen in den Herzen und Landschaften. Wir können bei Nietzsche auch von Songlines sprechen – ein Begriff, den Bruce Chatwin einst in Umlauf brachte, mit dem er die Gesangslinien der Aborigines beschrieb, die die Ahnen in die Landschaft eingegraben haben. Auf Deutsch hießen sie dann Traumpfade, Pfade aus der Traumzeit. Unsere mythische Traumzeit wird durch die Werke der Phantasie, der Dichtung und Kunst erschaffen. Dabei werden alte archetypische und symbolische Welten in uns wachgerufen. Auch im Umgang mit der Landschaft können diese Pfade dichterisch evoziert oder geschaffen werden. Biographien von Schriftstellerinnen oder Autoren sind oft eng mit ihren Wegen auf der Erde verbunden: verwurzelt in einer bestimmten Landschaft, emigriert, umgezogen, durch neue Positionen angelockt. Nietzsches mythische Pfade finden sich in Italien und der Schweiz, vor allem in Sils Maria, dort wo er aufgrund seiner Krankheiten die Höhe und die gute Luft suchte und den Stein der Ewigen Wiederkehr fand. Man kann diesen heute noch berühren. Oder in Turin, wo er zusammenbrach und für die restlichen zehn Jahre seines Lebens in den Wahnsinn abtauchte. Das sind dramatische Linien und Orte. Aber auch in Mitteldeutschland zog er Spuren: Naumburg, Schulpforta, Leipzig, Jena, Tautenburg und Weimar.
Mythenstein und Schamanin: Bad Dürrenberg.
Ich habe mir Radtouren in dieser Woche vorgenommen. Vorher lerne ich noch, wie ich die Ziegen zu tränken und festzuzurren, die Schwäne zu füttern habe. Von Bad Dürrenberg als Sole-Kurort hatte ich oft gehört, einmal wäre ich aus Versehen dort beinah ausgestiegen. Das muss korrigiert werden und so führt mich die erste Tour dorthin. Die Anhöhe über der Saale, auf der die Saline steht, ist geschichtsträchtig. Im Park liegt ein Menhir, den man einst angeschleppt hat, es ist der „Hunnenstein.“ Auf ihm sind Hand, Hund und Hufe vereint. Als König Heinrich I. 933 vor der Schlacht mit den Ungarn eine blutrote Sonne sah, schwor er, dass er sie schlagen würde und als Zeichen werde er seine Hand in den Stein drücken – ein Schwur zum Steinerweichen. Der Menhir wurde zur Knete und die Hand des Königs ist bis heute darin erhalten. Um den Schwur zu bezeugen, brauchte er jedoch zwei weitere Hände. Keiner seiner Mannen wollte sie eindrücken. Doch ein Pferd und ein Hund blieben ihm treu und hinterließen ihre Abdrücke. Mythen leben von Nachbearbeitungen und rückwärtsgewandten Prophezeiungen und sinnreichen Anpassungen. Sie geschehen wie die Evolution selbst.
Wenige Meter weiter schließlich ein Höhepunkt meiner Tour: im Kurpark das Grab einer Frau mit Kind aus der mittleren Steinzeit, gut 6000 – 7000 Jahre alt. Die Frau starb mit ca. 25 Jahren. Als Beigaben fand man Kranichknochen, Feuersteinabschläge, Quarzit, Hirschhorn, Schneidezähne vom Schwein, Schulterstück vom Reh, Wildschweinhauer als Schmuck und viel Rötel. Eventuell hatte sie ein Geweih auf dem Kopf. Bei den Bestattungen sibirischer Schamanen hatte man ganz ähnliche Attribute gefunden. Und wir Nachfahren reden von Globalisierung … Auch die Kelten verehrten Menschenwesen mit Geweihen (s. Gundestrup Kessel), den Gott Cernunnos. Gérard Poitrenaud hat über diesen Kult ein wichtiges Buch geschrieben.
Sie war also wohl eine Schamanin. Anatomisch auffällig: bei Drehung des Halses musste sich eine Arterie einklemmen. Wenn diese Frau nickte, so die Anthropologen, fiel sie vielleicht in Ohnmacht oder Trance. Wer hätte gedacht, dass Nicken prophetisch machen kann. An einem Morgen im Jahr 1934 hatte ein Arbeiter das Grab entdeckt, nachmittags schon kamen die Archäologen und gruben aus. Keine Fotos wurden gemacht, nichts von der Ausgrabung festgehalten, wie es sich gehört. Warum? Die Sache mit der steinzeitlichen Schamanin musste schnell über die Bühne gehen, denn am nächsten Tag sollte die Kursaison hier feierlich eröffnet werden. Die Blaskapelle stand in den Startlöchern, bereit, 6000 Jahre wegzupusten.
Der republikanische Wanderer und der Büchermörder: Poserna
Ich fahre heute nach Poserna. Der junge Nietzsche schreibt: „Eine Stunde von Röcken liegt Poserna, berühmt als Geburtsort von Seume, jenem wahrhaft patriotisch gesinnten Mann und Dichter. Leider steht sein Haus nicht mehr. Seit 1813 lag es in Trümmer und jetzt erst hat ein neuer Besitzer ein grosses schönes Haus auf derselben Stelle gebaut.“ Ein weiterer Linienzieher war dieser Johann Gottfried Seume. Seine Bücher über Reisen in die Nordländer und Russland, vor allem über seinen Spaziergang nach Syrakus (1803) sind die Noten seiner Songlines. Wie Nietzsche hat Seume neben seinem europäischen auch ein mitteldeutsches Netz. In Poserna 1763 geboren, an der Saale, in Leipzig zum Studium, in Grimma als Verlagslektor bei Göschen – zwei Museen erinnern daran –, ein großer Wanderer vor Gott oder besser der Aufklärung und der Vernunft. Denn er zog kritisch durch die monarchisch-papistischen Lande und wollte dem Italienreisenden Goethe Paroli bieten durch republikanisches Reisen.
An der Stelle seines Geburtshauses stehen die Daten 1763 und 1810, dazu: Natur. Menschen. Vaterlandsfreund. Rauhe Schale edler Kern. Sicherlich gut getroffen, wenn wir „Vaterlandsfreund“ im Sinne eines aufgeklärten Patrioten gegen Monarchie und Kleinstaaterei verstehen. Er war eben ein linker Wanderer. Er hätte Schmied werden können, doch war er zu bildungshungrig, dazu klein von Wuchs. Er wurde örtlich gefördert und studierte zunächst Theologie in Leipzig. Dann zog es ihn nach Paris, doch auf dem Weg dorthin wurde er von Werbern gepresst und Soldat. Der hessische Landgraf verschickte ihn mit einer Armee nach Amerika, wo er im Unabhängigkeitskrieg kämpfen sollte. Den sah er zum Glück nur von ferne und kehrte bald zurück, allerdings mit einem berühmten Gedicht über Indianer. Weitere Studien, eine große Nordlandreise, Soldat auf russischer Seite gegen die Polen, dann Verlagslektor/-editor bei Göschen. Und als es ihm zu langweilig wurde, zog er zu Fuß nach Sizilien. Seinem Schuhmacher, der ihm ein paar feste Schuhe gemacht hatte, die über 7000 km durchhielten, widmete er dankbare Zeilen. Auch diese sind bekannt geworden:
Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.
Das ist jedenfalls schön gedacht. Leider singen auch böse Menschen, und zwar oft sehr laut. Im Sinne Seumes wollen wir es also nicht singen, sondern brüllen nennen.
Ich sitze im „Amboß“ gegenüber der einstigen Schmiede von Seume bei einem Bier und gedenke seines Gesangs. 1810 starb Seume in Böhmen. Im selben Jahr bezog ein umstrittener Pfarrer das Pfarrhaus von Poserna. Ob Republikaner oder Monarchist: er war etwas viel Schlimmeres – ein Bibliomane.
Dieser Mensch namens Johann Georg Tinius (1764-1846) stopfte das Haus mit 50- 60 000 Büchern voll, für die er sich zutiefst verschuldete, zu Lasten seiner großen Familie. Dann geschahen zwei Morde, an einem Kaufmann und einer Witwe. Der Verschuldete geriet ins Blickfeld der Justiz. Nach einem langen Prozess wanderte er für zwölf Jahre ins Zuchthaus. Seine Unschuld beteuerte er bis zum Ende. Die Bibliophilen wissen bis heute nicht, ob sie diesen Märtyrer ihrer Sekte anbeten dürfen oder ihn als Verbrecher verdammen müssen. Er soll auch Kirchengelder unterschlagen haben, um seinem schändlichen Laster zu frönen. Für dieses begab er sich oft nach Leipzig, um dort einzukaufen. Nach seiner Verurteilung wurden die Bücher versteigert, und auch Goethe soll Exemplare für eine Bibliothek erworben haben. Literaten fühlten sich angezogen von dieser Geschichte, zeigt sie doch, wie weit die Passion für das Geschriebene gehen kann. Ich erwähne nur Detlev Opitz‘ Roman Der Büchermörder (2005), der noch einmal alles aufrollt. Das Pfarrhaus dieses unersättlichen Büchersammlers steht heute so unauffällig und bescheiden da, und man kann sich gar nicht vorstellen, dass aus diesem heraus einst eine Kutsche überfallen wurde.
Wildromantische Waldwege heute, aber es zieht sich am Himmel etwas zusammen, ein flaues Lüftchen weht bei Hohenmölsen und Taucha. Alte Wälder, Alleen mit Walnussbäumen. Nicht weit der Tagebau, aus dem der Mondsee erwuchs. In dieser Gegend bist du immer planetarisch. Wo der Mensch die Erde aufwühlt, ist der Mond nicht weit. In einem Dorf macht mir die Wirtin die geschlossene Kneipe noch einmal auf, serviert mir ein Radler und einen Haufen Ortsgeschichten. Der große russische Collie kuschelt sich an mich an derweil. Sie erzählt mir ihr Leben als Witwe, 60 ist sie, raucht in der Kneipe. Männer machen ihr Avancen, aber sie will nicht mit verheirateten Männern herummachen, das gibt nur Ärger im Dorf – obwohl sie nichts gegen Poppen hat. Die Tochter macht Karate und ist Krankenschwester. Für die Arbeit musste sie sich erstmals die langen Fingernägel abschneiden. Sie selbst stammt aus Gelsenkirchen und kam als Kind in die DDR. Ich radle über Göthewitz – eine schöne ausgebaute Gartenkolonie – nach Taucha und Poserna, Muschwitz, Stößwitz, Gostau, Sössen, Röcken. Ach, die Namen heute!
Die Nietzsche-Schleife: Von Sössen nach Röcken
Über Sössen weiß Nietzsche, dass zu seiner Zeit gerade ein Hünengrab ausgegraben wurde. Man geht dort in die Erde. 2007 schlossen sich Sössen und Röcken in ihrem Kampf gegen die Zerstörung des Kreises durch Braunkohleabbau zusammen. Vielleicht hat Nietzsches Grab damals dafür gesorgt, dass der Tagebau hier innehielt. Nietzsches Grab in Röcken ist selbst so ein Hünengrab geworden. Hochachtung für die Evangelische Kirche, die es zugelassen hat, dass der Antichrist direkt neben einem Gotteshaus beerdigt liegt. Namen sind wie eine Litanei der Landschaft, die eigentlichen Songlines. Heute erradelt: Bothfeld, Michlitz, Schweßwitz, Ellerbach, Zöllschen, Ragwitz, Tollwitz, Bad Dürrenberg.
Anderntags in Kreischau, bei Richard, dem Maler. Wir unterhalten uns immer gern über Schweizer Literatur. Er erzählt mir von dem Edlen von Kleefeld, der in einem Mausoleum neben der Kirche von Pobles begraben liegt. Die Kirche ist leider eine Ruine, das Dach ist abgerissen, aber die Friedhofshalle haben sie wieder aufgebaut, so dass die Trauernden bei Regen nicht nass werden. Der Großvater Nietzsches wohnte in Pobles und war dort Pfarrer. Der kleine Nietzsche wanderte gern die paar Kilometer von Röcken zu seinen Großeltern. Der Edle von Kleefeld nun beförderte den Kleeanbau und wurde dafür vom Kaiser geadelt. Eigentlich hieß er Johann Gottfried Schubart und war ein großer Freimaurer vor dem Herrn. In Würchwitz/Zeitz gibt es einen Verein und dort produziert man auch den berühmten Milbenkäse. Man isst das kleine Gewimmel lebendig, eine Vorform des Kannibalismus.
Bei Poserna stieß ich auf die Ruinen von Ranis, das einst von den Franzosen geschleift wurde. Zwei Männer hatten dort die Kriegskasse der vorbeimarschierenden napoleonischen Armee geraubt. Zur Strafe wurden alle Männer füsiliert, die Frauen und Kinder vertrieben und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht.
Nietzsche war sich als Jugendlicher der historischen Trächtigkeit der Gegend bewusst. „Zwei Mal wurden hier ungeheure Schlachten geschlagen und mit dem Blute fast aller europäischen Nationen ist dort der Boden gemacht.“ 1848 drang die Kunde von der Februarrevolution nach Röcken und Nietzsches Vater, ein treuer Monarchist, wurde krank (vielleicht durch den Sturz ausgelöst) und starb bald darauf. Das alte Leben endete für die Familie, man zog nach Naumburg. Nietzsche ging dort in das Internat Schulpforta und wurde zu einem der besten Schüler. 1889 wird er dorthin zurückkehren, nach seinem Zusammenbruch in Turin, und seine Mutter wird ihn einige Jahre dort pflegen. Bald aber holt die Schwester, die zuvor von einem „arischen“ Siedlungsprojekt in Paraguay zurückgekehrt ist, ihn nach Weimar und macht ihn zu einem nationalen Mythos: ein kranker Gott auf dem Zenit seiner Macht, ein Geschenk für alle Ideologen, die die Schwester willig beliefert. Bruder und Schwester liegen neben den Eltern und dem jung verstorbenen anderen Bruder in Röcken: Knotenpunkt von Traumpfaden und Songlines einer Landschaft, mythisches Erbe der Nation und der Kulturgeschichte in einem verträumt-traumlosen Nest.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Selten so locker und leicht über so festgeerdete und bodenschwere Vergangenheiten gelesen. Nein, nicht selten, wenn man schon ein paarmal innegehalten hat in Schenkel´schen Schriften. Seine Literatur ein pythagoreisches Schenkelmaß für unerwartet große, noch unbebaute Felder an den Hypotenusen. Felder, in deren Tiefen noch so manche gerötete Schamanin lauert und uns hinabzieht in den Zaubertrank, gebraut aus den Knochen unserer Zukunft.