Mythisch-Literarisches Bestiarium

„… wir haben ein Handbuch der seltsamen Geschöpfe zusammengestellt, die im Lauf der Zeit von der menschlichen Phantasie erzeugt wurden. Wir kennen den Sinn des Drachen ebenso wenig wie den Sinn des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellungskraft entspricht, und so erscheint der Drache in verschiedenen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten. Ein Buch dieser Art kann nur unvollständig sein; jede neue Ausgabe ist der Kern späterer Ausgaben, die sich ins Unendliche vervielfältigen können.“ Der Bibliothekar und Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) hat im Vorwort zu seinem „Buch der imaginären Wesen“ eben jene Gattung von Texten zusammengefasst, die seit dem Mittelalter als Bestiarien bekannt sind. Darunter verstehen wir illuminierte Handschriften, meist in Buchform zusammengestellt, die Tiere, Mischwesen, aber auch Pflanzen und gar Steine beschreiben. Ein Kompendium der Naturgeschichte, angereichert mit menschlicher Fantasie, der Überlieferung von antikem Wissen, mit einem christlich-moralischen oder gar allegorischen Grundton versehen und oft in einer symbolhaften Sprache verfasst. In Bestiarien tummelt sich, was unmöglich scheint. Fliegende Pferde. Meerjungfrauen. Drachen in allen möglichen Varianten. Löwen. Greife. Und nicht zu vergessen Einhörner. Wie schon das in „Bestiarium“ verwendete lateinische Wort „bestia“ (wildes Tier) besagt, sind es neben bekannten oder unbekannten echten Tieren vor allem Mischwesen und Monster, die Fabelwesen also, deren Geschichten und auch deren Gestalten auf diese Weise die Zeiten überdauert haben.

Die früheste Form des Bestiariums stellt der „Physiologus“ dar, der wortwörtlich „der Naturforscher“ heißt. Und wie der Name besagt, handelt es sich dabei um eine in griechischer Sprache verfasste Naturlehre, welche in spätantiker Zeit, wahrscheinlich zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr., entstanden und (in latinisierter Form) im Verlauf des Mittelalters zum meistgelesenen Buch nach der Bibel aufgestiegen ist. Einen großen Teil der Sammlung bilden die Tiere, angefangen beim Löwen; aber auch Hyäne, Taube, Elefant und Phönix kommen darin vor. Auch vor der bildenden Kunst und der christlichen Ikonographie machten die Wesen des Physiologus nicht halt. Zudem beeinflusste er maßgeblich die Entstehung weiterer Bestiarien. Waren diese zunächst vor allem christlich-allegorisch und natürlich heilsgeschichtlich geprägt, erhielten sie seit dem französischen Universalgelehrten Richard de Fournival (1201-1260) auch einen profan-weltlichen Anstrich. In seinem Liebesbestiarium (Le Bestiaire d’Amour), das in ganz Europa Furore machte, wenn man das für diese Zeit denn so bezeichnen mag, verwendet Fournival seine ca. 60 Tierbeispiele (darunter reale und fantastische Wesen) im erotischen Sinn vor dem Hintergrund der Werbung um eine Dame, die er von der Liebe überzeugt werden soll. Damit beginnt die Popularität der Bestiarien im nichtreligiösen Kontext, eine Popularität, die bis heute anhält. Das eingangs zitierte „Buch der imaginären Wesen“ von Borges ist dafür Beweis.

Da sich der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie im Jahr 2020 mit Fabelwesen eingehender befasst, liegt es nahe, das Thema mit einem eigenen Bestiarium zu begleiten. Ein Bestiarium, das Mythen und Kulturgeschichte miteinander vereint, vor allem aber ein Bestiarium, in dem die Wesen nicht nur als lexikalischer Steckbrief vorkommen, sondern selbst über sich erzählen. Das Mythisch-Literarische Bestiarium ist ab sofort auf unserer Startseite unter der Rubrik „Themen“ oder unter derselben Bezeichnung in der Menüleiste zu finden.

Nach einer allgemeinen Vorbemerkung über die Faszination von Fabelwesen kann jeder Nutzer, Interessierte, Neugierige, Fantasie-Begeisterte, Forschende, Lesefreudige und Mythenliebhaber aus den vier Kategorien „Tier“, „Tierisch vermischt“, „Mensch & Tier“, „Ein Mensch, Kein Mensch“ das für ihn passende Fabelwesen auswählen. Die Anzahl wird in den kommenden Wochen und Monaten ständig ergänzt. Ein Click auf den „Mehr über mich“-Schalter führt direkt zur Eigenerzählung des jeweiligen Wesens. Die Schaltflächen auf der gegenüberliegenden Seite informieren dagegen die Rastlosen und Schnellsurfer in Steckbriefform über die wichtigsten Besonderheiten. Darüber hinaus wird alle vier Wochen ein besonderes Fabelwesen zum „Fabelwesen des Monats“ gekürt.

Unser Anspruch war und ist, die Fabelwesen einerseits aus einem neuen Blickwinkel kennenzulernen und andererseits natürlich ihre spannenden Geschichten zu erzählen. Auf diese Weise möchte der Arbeitskreis einen Beitrag leisten, damit diese im wahrsten Sinne des Wortes wunderbaren Geschöpfe auch weiterhin unseren Geist bevölkern und unsere Fantasie anregen.

Seien Sie herzlich eingeladen zu einer spannenden, ungewöhnlichen, lehrreichen und abenteuerlichen Reise.

Willkommen beim Mythisch-Literarischen Bestiarium!

Ihr Team vom MYTHO-Blog

Literaturhinweis:

Jorge Luis Borges. Einhorn, Sphinx und Salamander. Das Buch der imaginären Wesen. 3. Aufl. Fischer Verlag: Frankfurt, 2004.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden..