Die Vorliebe für Sagen und Legenden mit regionalem Bezug ist schon immer groß gewesen. In den letzten Jahren ist auch das Interesse am vorchristlichen Glauben, an einer weitgehend verschwundenen vorchristlichen Mythologie gestiegen, die lange Zeit verdrängt, verschwiegen und vergessen war. Es handelt sich dabei um Kulturen und mythische Überlieferungen von Völkern, die im Zug der gewaltsamen Christianisierung mit Feuer und Schwert auf dem historischen Gebiet der „Germanica Slavica“, also jener Gebiete zwischen Saale, Elbe und Oder von slawischen Stämmen bewohnt waren. Von ihnen ist heute allein nur noch das kleine Volk der Sorben in der Lausitz übriggeblieben.
Übrig geblieben sind allerdings zahlreiche überlieferte Mythen, Sagen und Legenden, die heute in ihrer Zugehörigkeit kaum mehr nur einer bestimmten Textsorte zuzuordnen sind. Fast immer liegen ihre Wurzeln, ihre Motive tief in der Vergangenheit, in einer unsicheren, unklaren, verschwommenen Vorgeschichte. In ihrer ganzen Fülle und Vielfalt sind diese nicht selten faszinierenden Überlieferungen zu einem wichtigen Bestandteil regionaler und lokaler sächsischer, sorbischer, Lausitzer und niederschlesischer Identität geworden. Fast immer wurden sie mit großer zeitlicher Verspätung und von christlichen und überwiegend antiheidnischen Positionen festgehalten; so u.a. in Klöstern, am Königshof, an Adelssitzen und in Amtsstuben. Zumeist geschah das in Form von Chroniken, Heldenliedern, Herrscherlegenden, aber auch in Gestalt von Randglossen, in Beschreibungen des Alltagslebens, der Volkskultur, von Sitten und Bräuchen. Dazu gehörte auch der weitverbreitete Aberglaube, das Unerklärliche, Überirdische und Mythische. Dabei unterlagen die Erzählungen und kleinen Geschichten zwangsläufig der Phantasie bzw. Vorstellungskraft ihrer damaligen Verfasser. Wenn wir im historischen Sachsen nach derartigen Überlieferungen aus vorchristlicher Zeit Ausschau halten, müssen wir feststellen, dass es eine erstaunlich Vielfalt von Texten gibt. Bedingt durch den Kulturtransfer, durch kulturelle Interaktionen mit benachbarten, verwandten wie fremden Kulturen, unterscheiden sich diese Überlieferungen, vom sächsischen Vogtland über das Leipziger und Meißner Land bis in die Lausitz, beträchtlich voneinander. Aus diesem Grunde möchte ich mich zunächst auf nur wenige paradigmatische Beispiele beschränken. Dazu gehören Gründungsmythen bzw. Legenden von Herrschergeschlechtern, Städten und Ortschaften. Nachweisbare historische Ereignisse vermischen sich häufig mit Legenden und Sagen; sie können aber auch Erfindungen eigener mythischer Sagen- und Legendenwelten sein, die dem kulturellen Selbstverständnis wie dem Selbstbewusstsein seiner Bewohner dienen.
Im sächsischen Kontext treffen wir auf zahlreiche Überlieferungen, die einen mehr oder weniger deutlichen slawischen Hintergrund haben. Zu diesen Erzählungen gehört u.a. auch die Frage nach der eigentlichen Herkunft von Leipzig. Eine mythische Interpretation des Stadtnamens soll auf einen Kriegsfürsten zurückgehen, der an der berühmten Varus-Schlacht teilgenommen haben soll. Jener Feldherr, Lybonothes genannt, soll sein Lager am Zusammenfluss von Pleiße und Parthe, ganz in der Nähe des späteren Ranstädter Tores aufgeschlagen haben. Auf seine sächsische Namensform Libonitz, verkürzt Lyptz, soll auch die Ortsbezeichnung für Leipzig zurückgehen. Weitaus plausibler scheint allerdings die Ableitung des Ortsnamen vom slawischen Wort für Linde, „lipa“ zu sein. So soll sich unter einem prächtigen Lindenbaum eine Kultstätte für den slawischen Gott Flins befunden haben. Dieser soll, so berichtet es der Pirnaer Mönch Erasmus Stella (eigentlich Johannes Stüler), von furchteinflößender Gestalt gewesen sein. Es war ein in einen langen Mantel gehülltes, auf einem Steine sitzendes Skelett, mit einem „brennendem Blasfeuer“ in der Hand und einem aufgerichteten Löwen auf der linken Schulter. Diese Darstellung gleicht ähnlichen Beschreibungen des wendisch-slawischen „Todtengottes“ Flins, auch Flinz oder Flynz genannt. Eine solche Kultstätte soll sich im Flecken Oehna bei Bautzen befunden haben, über den Karl Haupt in seinem „Sagenbuch der Lausitz“ (Originalausgabe von in 1862) Auskunft gibt. Einem Gerippe ähnlich, trägt auch dieser Flins einen furchteinflößenden Löwen auf der Schulter und hält eine brennende Fackel in der Hand. „Wenn aber der Löwe brüllte oder die Feuergarbe brannte, dann strömten von allen Seiten die Götzendiener herbei und brachten blutige Menschenopfer dem Gotte des Todes“. (Haupt, S. 7)
Abgötter wie Flins hatte der Heilige Bonifatius bereits 728 abgeschafft, als er den Sorben den christlichen Glauben predigte. An der erwähnten Stelle des Zusammenflusses von Pleiße und Parthe soll sich einst auch ein dem Heiligen Jakobus geweihtes Kloster befunden haben, das nach seiner Zerstörung durch kriegerische Heiden zum Kern einer neuen Siedlung namens Lipzk, später auch urbs Libzi (Thietmar von Merseburg) geworden ist. Bis heute verweisen einige Orte mit ihrem Namen wie Lindenau oder Lindenthal auf die Linde hin, die im slawischen wie im deutschen Kontext eine wichtige Rolle spielt. So gilt die Linde im slawischen Bereich als ein heiliger, zu schützender Baum. Die Westslawen beteten auch eine Lindengöttin an. Libussa, so ihr Name, war Rechtsprecherin, Orakel und Symbol der Liebe. Sie war aber auch die Stamm-Mutter der böhmisch-tschechischen Přemysliden-Dynastie und Begründerin Prags. Unter Markgraf Konrad wurde die Stadt Lipzk mit ihren Kirchen mit Mauern umgeben. Seitdem soll auch der Brauch entstanden sein, dass dort, wo eine Kirche erbaut wird, zugleich auch ein Lindenbaum gepflanzt werden sollte. So nachweislich geschehen im Dorfe Lindenau bei Leipzig. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die älteste Linde Sachsens, die „Gerichtslinde“ in Collm bei Oschatz, die mehr als 1000 Jahre alt sein soll.
Weit in mythische, vorchristliche Zeiten geht auch die Sage vom Lind- oder Eiswurm im Plauenschen Grund an der Weißeritz bei Dresden zurück. Es war eine Zeit, als in dieser Gegend Slawen siedelten. Das Interessante an dieser Überlieferung ist ihre erfolgreiche Vermarktung. Der „Felsenkeller-Drachen“ war ein freundlicher Lindwurm; immerhin gab es bei den Slawen auch den Menschen wohlgesinnte Drachen, der zum Markenzeichen der „Felsenkellerbrauerei“ zu Dresden wurde. Die Brauherren hatten das in der Symbolik der Drachengestalt schlummernde Potential erkannt und ließen sich den sagenumwobenen Lindwurm1898 patentieren. Bereits 1887 hatte die Felsenkeller Brauerei-AG ein großes Gemälde in Auftrag gegeben, das mit seinem Spruch auf eine amüsante Episode Bezug nimmt: „Das schrecklichste der Schrecken, das war der Wurm, der tat am Eise lecken“. Ein gewisser Dresdner Schneider gehörte zum „Honoratoren-Stammtisch“ eines Dresdner Gasthauses, deren Mitglieder viel Geld in Aktien der Brauerei angelegt hatten. Ein Bankbesitzer kam in einem scherzhaften Gespräch auch auf riskante Aktienanlagen zu sprechen, zu denen die der Felsenkeller-Brauerei gehören sollten. Seine Begründung lautete, dass der legendäre Drache das die Bierfässer kühlende Eis weglecken würde und damit das Bier schneller verderben würde. Die Sorge ob des schädlichen Treibens des Eiswurms schien sich wahrscheinlich erst dann zu legen, nachdem Carl Linde 1876 die Kältemaschine erfunden hatte, die alsbald auch in den Felsenkeller Einzug hielt. 1991 wurde die alte Dresdner Felsenkellerbrauerei geschlossen, seitdem wird an einem anderen Standort, in Dresden Coschütz, das Felsenkeller-Bier gebraut. Es trägt weiterhin auf dem Flaschenetikett wie auch auf den Bierdeckeln das Bild des Drachens. Bis heute hat das Areal der alten Brauerei im Plauenschen Grund die aufschlussreiche Postadresse „Am Eiswurmlager“. Die ehemaligen, sich tief im Fels befindenden Eiskeller werden inzwischen als Lager von verschiedenen Firmen wie auch von Wissenschaftlern der TU Dresden (Campus Navigator) und des Helmholtz-Forschungszentrums Rossendorf (Untertagelabor) genutzt.
Abschließend soll eine weitere frivole Überlieferung erwähnt werden. Es handelt sich um die anzügliche Legende vom „Schwarzen Bruno zu Leipzig“. Schon die Beifügung „schwarz“ deutet auf Magie und Zauberkünste hin. So lebte einst ein umtriebiges Mönchlein namens Bruno in einem Kloster bei Meißen, das mit seiner in Italien erworbenen schwarzen Kunst die frommen, doch einfältigen Klosterherren immer wieder zu hintergehen und zu betrügen wusste. Nächtelang trieb er unter den jungen Nonnen in den benachbarten Frauenklöstern sein wollüstiges Unwesen, bis ihn schließlich der Erzbischof aus dem Kloster und der Mark Meißner verwies. Daraufhin begab sich der lüsterne Mönch zunächst nach Bautzen, um dann schließlich in einem Leipziger Kloster weiterhin sein unzüchtiges Treiben, schlimmer als zuvor, fortzusetzen. Einem zu Hilfe gerufenen großen Zauberer gelang es schließlich mit Hilfe der schwarzen Kunst, den Mönch in eine Kristallflasche zu verbannen, die 19 Fuß tief in der Erde vergraben wurde. Viele Jahre danach, als man an dieser Stelle eine tiefe Baugrube ausgrub, um ein stattliches Haus zu errichten, fand einer der Erdgrabenden die mysteriöse Flasche, in der alsbald der sündhafte schwarze Mönch erkannt wurde. Alle Versuche, sich so bald wie nur möglich dieser Flasche zu entäußern, waren umsonst. So oft ihr Besitzer sie auch verschenkte oder an einem entlegenen Orte versteckte, sie fand stets ihren Weg zurück zu ihrem Finder und ängstigte ihn bei Tag und bei Nacht. Schließlich entschloss sich der Besitzer, die Flasche im Keller seines Hauses zu verstecken. Jahre später geschah es, dass der neue Eigentümer des Hauses seine Tochter in den Keller schickte, um Wein zu holen. Dort leuchtete ihr etwas Funkelndes, Geheimnisvolles entgegen. Es war eine fest verschlossene Flasche, in der ein goldfarbenes Männlein lustig auf und ab hüpfte. Amüsiert hob sie die Flasche auf, drückte sie fest an ihren Busen und bat ihren arglosen Vater, ihr das kleine Fläschlein mit dem hüpfenden Männlein zu schenken; sie wolle es des Nachts als Leuchte neben ihr Bett stellen. Voller Entsetzen erkannten schließlich die arglosen Eltern, mit wem sie es zu tun hatten. Sie entrissen dem Mädchen die Flasche mit dem frevelhaften Klostergeist, knüpften ein schweres Stück Eisen daran und versenkten sie auf dem tiefsten Grund der Pleiße. Lange, sehr lange hatte man in Leipzig nichts mehr vom „Schwarzen Bruno“ vernommen, seine Legende scheint vergessen zu sein. Doch, so die Legende weiter, soll er unter der Bedingung, die Gestalt eines großen schwarzen Hundes anzunehmen, aus seinem Flaschengefängnis erlöst worden sein. Und so soll er bis heute an den Ufern von Pleiße und Elster umherstreifen, wo man ihn des Nächtens weithin heulen hören soll.
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
Hans-Christian Trepte studierte Russisch und Englisch (Erwachsenenbildung) in Greifswald und Leipzig, nachfolgend Polonistik (Literaturwissenschaft) in Leipzig, Warschau und Wroclaw. 1979 Promotion über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman ” Sława i chwała” [Ruhm und Ehre]. 2002-2016 Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Er ist auch als Übersetzer tätig (u. a. Jarosław Iwaszkiewicz, Henryk Grynberg, Tomasz Małyszek, Czesław Miłosz u.a. Zuletzt erschien in 2022 sein Buch “Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland. Westslawische Mythologie” in der Reihe Kleines Mythologisches Alphabet (Edition Hamouda).
Literaturhinweis:
Karl Haupt. Sagenbuch der Lausitz. Erster und zweiter Theil. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1862. Salzwasser Verlag: Frankfurt am Main 2022.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Danke für das informative damalige Geschehen,Es ist gut recherchiert und gut verständlich zu lesen.
ein mythischer Spaziergang durch Leipzig, aufschlussreich, amüsant und warnend!
Lesen hat Spaß gemacht
Elmar Schenkel