Morgenspaziergänge und die Achtsamkeit der Stille

Zuerst ist es nur ein heller Streifen im Dunkel des Horizonts. Die Nacht neigt sich dem Ende zu. Während die dunklen Stunden in der Vergangenheit vor allem Schlaf und Erholung bedeuteten, schaut heut so mancher Nachtschichtler an die Uhr und denkt sich: Noch ein paar Stunden, dann ab nach hause. Dass allgemein das Leben trotzdem tagsüber stattfindet, sorgt in unserer beschleunigten, ruhelosen Zeit bei vielen für körperliches Chaos. Auch bei denen, die nicht nachts arbeiten.

Das Morgengrauen, der Sonnenaufgang, der Morgen. Sie markieren für uns Menschen noch immer den Beginn des Tages, selbst wenn unser eigener, in der gesellschaftlichen Blase kreierter Arbeitstag schon lange begonnen hat.

Bei den Griechen kannte man Hemera, die Verkörperung des Tages, und die Göttin der Morgenröte Eos; beide wurden meist als Facetten ein und derselben Gottheit gleichgesetzt. Als Hemera steigt sie als Tagesanfang aus dem Hades empor. Als Morgenröte Eos taucht sie mit ihrem Gespann aus dem Okeanos auf – dem Weltenstrom, der die belebten Lande umfließt – und führt den Sonnenzug ihres Bruders Helios über den Himmel an. Passenderweise ist die Morgenröte sehr eng mit den Gestirnen und andertweitgen Bewohnern des Himmels verbunden.

„Eos gebar dem Asträos die Wind‘ unbändiges Mutes, Zefyros, blaßumschaurt, und Boreas, stürmisch im Anlauf, Notos auch, da in Liebe zum Gott sich die Göttin gelagert. Auch den Fosforos jezo gebar die heilige Frühe, Samt den leuchtenden Sternen, womit sich kränzet der Himmel.” (Theogonie, Zs. 371-375)

Die Sonne spendet das Leben für die Natur und wurde seit jeher verehrt. Nicht umsonst feiert man in Skandinavien und im Baltikum die Sommersonnenwende und die lange Zeit des Lichtes; wir könnten ohne die Sonne nicht überleben.

Der Morgen aber ist eine ganz besondere Zeit, vor allem in den Sommermonaten. Man genießt nicht nur die langen Abende, sondern wird oft auch eher wach. Quält man sich im Winter mit dem Aufstehen (selbst wenn man keine Nachteule ist), so fällt es einem im Sommer umso leichter, auf die Beine zu kommen.

Er hat etwas Magisches, der frühe Morgen. In großen Städten wie Leipzig mag das Phänomen der Stille und Menschenleere vermutlich weniger ausgeprägt sein, da beschränkt sich morgendliche Stille wohl eher auf das Wochenende. Aber auf dem Land hat so ein Sommermorgen beinahe etwas Sakrales.

Dort wacht man schon allein vom vielstimmigen Konzert der Vögel auf, das diese bereits vier Uhr morgens lauthals anstimmen. Auf den Wiesen und Feldern ist es absolut still, man hört nur den Wind im Gras und den Blättern, ab und zu trifft man eine Herde Rehe an, aber das war es auch schon.

Auf dem Land wartet dann auf den einen oder anderen ein Garten, der zum frühen Aufstehen zwingt, denn den durstigen Pflanzen ist es egal, ob man Frühaufsteher ist oder nicht – man nutzt die halbwegs kühlen Stunden, bevor die brütende Hitze des Tages einsetzt. Diese frühen Spaziergänge, die Bewegung im Grünen, begleitet ein ganz bestimmtes Gefühl, das viele im Alltag wiederzufinden versuchen.

Während der Arbeitswoche ist selten wirklich Zeit für einen entspannten Morgenspaziergang. Am Wochenende gehe ich dafür so oft wie möglich spazieren und als wäre es in Vorfreude, weckt einen die innere Uhr dann sogar oft noch früher, als man unter der Woche aufstehen muss.

Eben weil es eine solche Seltenheit ist, wird die Stille und Menschenleere auf den morgendlichen Straßen und in den Parks einer großen Stadt zu etwas ganz Besonderem. Man fühlt sich dann fast als wäre man auf einem anderen Planeten oder als sei man der einzige Mensch auf der Welt.

Es fallen einem Details auf, die man sonst in der Geschäftigkeit der Menschenmengen nicht bemerkt; man nimmt sich Zeit stehenzubleiben und sich etwas genau anzusehen, was man vielleicht sonst vermeiden würde, um keine Blicke auf sich zu ziehen. Nachdenken, träumen, ein bisschen staunen und dabei der Stadt beim Erwachen zusehen (zuzuhören!).

Noch viel lieber radle zu einem der Seen um Leipzig hinaus ins Grüne. Da kann ich mir gewiss sein, dass ich zufrieden und entspannt wieder heimfahre. Interessanterweise bin ich noch nie die Erste da draußen gewesen. Es sind immer schon ein paar Leute da, die schwimmen, meditieren oder einfach aufs Wasser hinaussehen – und die fast vollkommene, kostbare Stille genießen, welche wie ein Zauber über dem See liegt.

An Sonntagen hört man nicht einmal den Lärm der Autobahnen oder Straßen herüberschallen. Es wird sich nur leise unterhalten, niemand macht Lärm oder hört laut Musik, so, als gäbe es eine stillschweigende Vereinbarung der Anwesenden.

Es war der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862), der sagte „ein Morgenspaziergang ist ein Segen für den ganzen Tag”, und ich kann ihm nur zustimmen.

Ein Beitrag von Pia Stöger

Literaturhinweise:

Homer. Odysee. Übersetzung von Johannes Heinrich Voß. Projekt Gutenberg. https://www.projekt-gutenberg.org/hesiod/theogon/theogon.html (18. Juni 2020)

Hesiod. Theogonie. Übersetzt von Johannes Heinrich Voß. Projekt Gutenberg. https://www.projekt-gutenberg.org/hesiod/theogon/theogon.html (18. Juni 2020)

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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