Mongolische Mysterien: Tiziano Terzani reist mit Ferdynand Ossendowski

Im Jahre 1993 warnt ein chinesischer Wahrsager in Hongkong einen Journalisten davor, dieses Jahr mit dem Flugzeug zu fliegen. Auf keinen Fall solle er das tun, der Asienkorrespondent des Spiegel werde sonst sein Ende finden. Tiziano Terzani nimmt das Orakel ernst, denn zuvor hatte der Wahrsager eine Narbe bei ihm richtig gedeutet als Tat eines Roten Khmer. Dieses Jahr also fährt Tiziano mit der Bahn durch Asien, mit Taxis und Bussen oder er geht zu Fuß. Fortwährend sucht er Wahrsager auf, in Singapur wie in der Mongolei. All dies schreibt er auf in Fliegen ohne Flügel, ein Buch, das durch seine politisch-historisches Wissen und seine lebendige Neugier allerdings sehr beflügeln kann. Auf einer dieser Fahrten nimmt er ein Buch mit, das er schon seit Jahren ungelesen auf dem Regal stehen hatte: Ferdynand Ossendowskis Beasts, Men and Gods (1922, dt. Tiere, Menschen und Götter).  So wie alles auf dieser asiatischer Reise orakelhaft und von sinnvollen Zufällen gestreift ist, ist es auch der Griff nach diesem Buch. Es wird ihm bei seinem erneuten Besuch der Mongolei, dem „Land der Dämonen“, wie es damals hieß, zum Reiseführer durch eine halb-imaginäre Welt; Ossendowski ist „mein Freund, das Gespenst“ (Terzani 365-393).  

Dieser Ossendowski ist eine jener halbschattigen Gestalten, die uns so oft in der Reiseliteratur, insbesondere der über Asien geschriebenen, begegnen. Zu ihrer Zeit kurz sichtbar und flüchtig wie ein Blitz, schrieben sie den einen oder anderen Bestseller, der jetzt in Antiquariaten vermodert oder fielen durch heroische Taten auf, wobei oft unklar ist, wo man sie politisch verorten soll. Es wabert okkult und religiös um sie herum, sie konvertieren, sind Widerstandskämpfer mal gegen den Bolschewismus, mal gegen die deutsche Wehrmacht, verbünden sich mit blutrünstigen Warlords, arbeiten als Spion und sind dazu noch Wissenschaftler und polyglott. All das trifft mehr oder minder auf den Polen Ferdynand Ossendowski (1876-1945) zu, der Chemie bei Marie Curie in Paris studierte, den es dann als Offizier in den Russisch-Japanischen Krieg verschlug, der Professor in St. Petersburg wurde und in Sibirien als Bergbauingenieur tätig war. Nach der Revolution flüchtete er in die Tiefen Asiens, wo er jedoch von dem grausamen Baron Roman von Ungern-Sternberg abgefangen wird.

Ungern-Sternberg – ein Balte aus Kreuzritter- und Piratengeschlecht, brutal, buddhistisch-apokalyptisch, ein Anhänger der tibetischen Prophezeiungen über den großen Krieg zwischen Gut und Böse, so belesen wie grausam – hatte sich ein kleines Heer aufgebaut, mit dem er der Mongolei ein eigenes Reich schaffen wollte, gegen die anstürmenden Bolschewisten. Er war sich sicher, eine Wiedergeburt des mongolischen Kriegsgottes zu sein und als solcher wurde er von den Mongolen verehrt. Ossendowski wird sein Berater und Vertrauter.

Terzani reist also nun mit Ossendowski und Ungern-Sternberg durch die moderne Mongolei, auf der Suche nach Relikten jener alten buddhistisch-schamanistisch geprägten Kultur. In Urga (heute Ulan Bator), das 1921, als Ossendowski und der Baron sich begegneten, eher noch ein großes Zeltlager war, wird dem Balten zweimal von verschiedenen Wahrsagern unabhängig voneinander die Zukunft geweissagt: er habe noch 130 Tage zu leben. Und in der Tat, genau nach 130 Tagen kommt der Baron um; bis heute sind die Umstände unklar. Terzani will nun wissen, ob heute noch solche Wahrsager zu finden sind. Er sucht sie alle auf, die ihm angepriesen werden. Die meisten sind hohl und brauen sich etwas zusammen, was mehr ihr eigenes Weltbild spiegelt, als den vor ihnen Sitzenden und um Auskunft Bittenden. Vielleicht ist also alles vorbei, die alte Magie der Mongolei, der esoterische Weihrauch Tibets, und die Kraft der buddhistischen Gottheiten durch die sowjetische Zeit ausgelöscht? Terzani bleibt im Dialog mit dem Buch Osssendowskis, das ihm immer lebendiger wird. Er legt blühende Grashalme der Steppe hinein, um den Autor zu erfreuen, er evoziert geisterhaft das Treffen der beiden Abenteurer mit dem Lebenden Buddha Hutuktu… (ebd. 373) Oft sind die Rituale der Wahrsager, die er aufsucht, nur noch Hülle, es fehlt ihnen der alte Geist. Aber es sind auch Menschen mit schweren Lebensgeschichten, von denen Authentizität ausgeht. Etwa die Busfahrerin, die übersensibel für Energieströme, gute wie schlechte, ist und ihren Beruf an den Nagel hängen musste, weil sie es nicht ertragen konnte, wenn zum Beispiel ein Dieb oder Mörder in den Bus stieg. Und so verlegte sie sich auf das Wahrsagen: „Deine Zahl ist 18 000. Du musst diese Zahl verehren; das darfst du nie vergessen.“ (ebd. 387) Er nennt sie „die Hexe“. Sie kann aber die Vergangenheit und Zukunft des italienischen Autors und Journalisten nicht sehen, sondern sie sieht stattdessen die Vergangenheit und Zukunft eines mongolischen Schriftstellers! Doch einmal hat die Hexe recht: sie findet heraus, dass er vor acht oder neun Jahren ein einschneidendes Erlebnis hatte. Ja, das stimmt – es war die Ausweisung als Journalist aus China.

Als Terzani die Mongolei verlässt, erhält er die Adresse einer bulgarischen Wahrsagerin. Er lässt sie aus dem Zugfenster vom Wind verwehen und fühlt sich erstmals wieder wie ein freier Mensch.

Und die Tradition? Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, wollten viele Arbeiter der einstigen Fabriken wieder zu Hirten werden. Terzani versteht das und sieht den Verlust der alten Welt mit ihren Mythen und Legenden, die allesamt vom Sozialismus hinweggefegt wurden. Übrig bleiben absurde Vorstellungen, wie die seines mongolischen Dolmetschers; sein Lebenstraum ist es, einmal an der Handelsschule von Bordeaux zu studieren.

Im Asien der Täuschungen: Trebitsch-Lincoln

Die Umbrüche in Zentralasien, in der Mongolei und China lockten so manche weiße Abenteurer aus ihren Löchern. Glücksritter und Gewalttäter wie Ungern-Sternberg bedienten sich oft okkulter Vorlagen, um ihre Missionen durchzuführen: aus dem Chaos zu profitieren, Privatreiche aufzubauen wie Joseph Conrads Kurtz im Herz der Finsternis, wo sie ihr Ego grenzenlos ausdehnen konnten und ihrem Rassismus und Sadismus freien Lauf ließen. Das asiatische Chaos lockte auch Personen an, die ständig Verwandlungen durchliefen, sei es, um ihren Verfolgern zu entkommen, sei es, weil sie keine stabile Identität mehr besaßen oder diese ohnehin für überflüssig hielten, da sie ihren Interessen im Wege stand. Der Wille zur Macht konnte kurze Fünfe machen mit althergebrachten, alteuropäischen Kategorien wie dem Ich. In Asien, wo das Ich ohnehin einen anderen Stellenwert hatte, schien sich dafür ein gutes Feld aufzutun; hier konnte der Egoismus durch Verwandlung triumphieren. Feld auch für Verdoppelungen und Multiplikationen aller Art: Doppelspione, Doppel- und Dreifachbegabungen, Verräter und Hochstapler.

Vielleicht der größte Meister der Verwandlung und Täuschung, ein Ich-Trickster, der mit allen Wassern gewaschen war: J.T. Trebitsch-Lincoln (1879-1943). Er ist auch unter den Namen Timothy Lincoln, Chao Kung oder Puk Kusati anzutreffen. In den 1920ern sehen wir ihn in China, wo er als Berater des Warlords Wu Peifu agierte, dem er den Aufbau Chinas zu einer Großmacht schmackhaft macht. Doch Wu Peifu verliert im Bürgerkrieg und Trebitsch muss sich eine neue Identität suchen. Da bietet sich der Buddhismus an und so ernennt er sich selbst zum Abt, schreibt Bücher über Weltfrieden und schart während des Zweiten Weltkriegs in Shanghai exilierte deutsche Juden um sich. Er doziert nun im Mönchsgewand vor seinen westlichen Buddhisten des YMCA als Chao Kung bis zu seinem Tod 1943. Sein letztes Lebenszeichen: ein Interview für die jiddische Emigrantenzeitung Unzr Lebn in Shanghai. Das ist das Ende einer besonderen Karriere, in der wie in keiner anderen die Turbulenzen des Jahrhunderts schillern – und wohl auch eines Individuums, das von psychopathologischen Trieben beherrscht wird.

Geboren wurde er bei Budapest als Abraham Schwarz, hieß aber auch Ignaz Thimoteus Trebitzschund warKind orthodox-jüdischer Eltern. Er hatte eine fromme Seele, lernte die Torah und fastete; dabei verspürte er einen Hang zur Mystik. Statt ordentlich zu studieren, wollte er Schauspieler werden. Mit 18 verließ er eilig Ungarn, er hatte wie Karl May sich auf das Mausen von Uhren verlegt und wurde gesucht. So zog er durch einige Länder, kam nach England und in die Fänge der Juden-Mission. Dort überzeugten ihn christliche Missionare, dass Jesus Christus der Messias war. Er ließ sich in Hamburg taufen und wurde selbst Presbyterianer.

In Kanada wird er in der Judenmission tätig und studiert Theologie. Inzwischen hat er Familie und man will nach England. Dort wird er – vom Presbyterianer zum Anglikaner mutiert – Landpfarrer in Appledore, Devon. Es wird ihm wohl langweilig hier – kaum Juden zu konvertieren – und er geht in die Politik. Ein Jahr lang ist er Abgeordneter der Liberalen im Unterhaus und trägt den englischeren Namen Timothy Trebitsch-Lincoln. Dann verlegt er sich auf obskure Geschäfte im Öl-Business auf dem Balkan.

 Im Ersten Weltkrieg ist er kurz als Militärzensor tätig, bis ihm auch der neue Name nicht mehr weiterhilft. Man hält ihn für einen deutschen Spion (später wird man ihn für einen britischen halten). Flucht in die USA, die ihn aber wieder nach Großbritannien abschieben, wo er drei Jahre für Betrug im Gefängnis sitzt. Von nun an hieß es für ihn: Rache an England! Nach Kriegsende geht er nach Deutschland und nimmt am rechten Kapp-Putsch 1920 teil. Er verbündet sich mit den rechtsradikalen und antisemitischen Anhängern der „Weißen Internationale“, die ihn dann allerdings umbringen wollen. Jetzt geht nur noch die Flucht nach Asien, in das vom Bürgerkrieg zerrissene China. Hier hofft er, den Briten endgültig ein Ende zu bereiten. Er überlegt sich Strategien, wo man sie am besten schlagen könnte und kommt zu dem Schluss: in China, und mit einem starken China ließe sich dann das Kolonialreich Indien überrollen. Mit solchen Ideen tritt er an die Warlords heran, allen voran Wu Peifu. Nun, diese Pläne zerschlagen sich, aber es bleiben ja noch weitere Optionen. Zum Beispiel für die in China so gehassten Japaner als Agent zu arbeiten. Oder während des Krieges Kontakt mit der SS aufzunehmen und auf ein Gespräch mit dem Führer zu dringen, den Krieg zu beenden. Der Gestapo schlägt er vor, Hitler in Kontakt mit den Mahatmas in Tibet zu bringen.

Wenn es eng wurde, drohte er immer mit geheimnisvollen Mächten und Gurus im Himalaya, die bei Nichterfüllung seiner Pläne eine furchtbare Katastrophe entfesseln würden. Denn er hatte sein Faible für das Mystische nicht abgelegt. Wie Madame Blavatsky oder der russische Maler und Friedensbotschafter Nikolas Roerich glaubte er an die Meister in Zentralasien, die die Geschicke der Welt beobachten und Einfluss nehmen, wenn die Zeit gekommen ist und der richtige Botschafter gefunden ist. Selbstverständlich sah er sich als diesen Boten an. Nicht ohne Grund vergleicht ihn sein Biograph Wasserstein mit jenem Jakob Frank (1726-1791), dem ketzerhaften Alchemisten, Rabbi und Astrologen, der sich wiederum als Reinkarnation von Schabbtai Zvi ansah, jenem vermeintlichen Messias und Konvertiten zum Islam, der die jüdische Welt des 17. Jahrhunderts in Unruhe versetzte. Karl May ist sicherlich auch ein naher Verwandter dieses Verwandlungskünstlers, der sich nicht nur verkleidete, sondern auch an seine jeweilige Identität zu glauben lernte. Buddhismus, Theosophie und das geheimnisvolle Xanadu/Shambhala gaben seinen pathologischen Trieben Anhaltspunkte und Rahmenerzählungen. Am Ende seiner Autobiographie (1931) wirft Trebitsch-Lincoln noch seinen Hass auf England über Bord. Es erscheint ihm nun als letztes Bollwerk gegen die „gelbe, sowjetistische Welle“ (287) der Weltrevolution. Aber selbst diese Autobiographie ist mit Vorsicht zu genießen. Bei dem Titel Der größte Abenteurer des XX. Jahrhunderts !? sollte man besonders auf die beiden letzten Satzzeichen achten.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Literturhinweise:

Palmer, James. The Bloody White Baron. London: Faber 2008.

Segal, Eliezer „The Treacherous Mr Trebisch [sic]” http://people.ucalgary.ca/~elsegal/Shokel/040620_Trebisch.html  Zugriff 6.4. 2020

Terzani, Tiziano. Fliegen ohne Flügel. Eine Reise zu Asiens Mysterien. München: Goldmann 1998.

Trebitsch-Lincoln, J.T. Der größte Abenteurer des XX. Jahrhunderts!? Die Wahrheit über mein Leben. Leipzig/Zürich/Wien: Amalthea 1931.

Wasserstein, Bernard. The Secret Lives of Trebitsch Lincoln. Harmondsworth: Penguin 1990.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .