Masken, Geister und Vitrinen oder: Wie man die Welt bereist, ohne 80 Tage zu brauchen – Impression eines Rundgangs

Es ist nicht ganz einfach, gegen das Glas anzufotografieren, das die ihm anvertrauten Schätze vor Berührungen schützt. Im Zusammenspiel mit seinem Verbündeten Licht hat es die Kamera oft schwer, den richtigen Blickwinkel zu finden und die Bilder jenseits der Barriere einzufangen, Bilder, die es auf diese Weise künftig wohl nicht mehr im Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig geben wird. Zumindest in der bisher präsentierten Weise, denn das Museum befindet sich in der Umgestaltung, und wie es immer so ist mit dem, was man kennt und was einem vertraut ist, schwingt auf dem Rundgang, den ich dankenswerterweise noch einmal antreten darf, auch eine Portion Wehmut mit. Es ist, als würde sich auf der Reise von Raum zu Raum nicht nur die gefühlte Tageszeit ändern, sondern als sei man auch der eigentlichen Welt entrückt. Auf metaphorischen Sieben-Meilen-Stiefeln geht man als Beobachter auf Zeitreise um die Welt, allerdings ohne dafür die von Jules Vernes veranschlagten 80 Tage zu brauchen. Man ist in einer Art Schwebezustand, einem Dazwischen, das doch kein Dazwischen ist, oder, wie es der Schriftsteller Clemens Meyer auf den Punkt gebracht hat: „Es gibt kein Dazwischen. Es gibt nur ein Jetzt.“ Seien Sie herzlich eingeladen zum Rundgang.

Blicke aus der Zeit

Minkisi-Skulptur, Loango-Küste, Kongo

Die Reise beginnt mit einer Konfrontation der Blicke. Sie kommen von der Elfenbeinküste, aus Indonesien, Papua-Neuguinea, dem Kongo, den Osterinseln, aus Nigeria, China oder Neuseeland. Sie bestehen aus Holz oder Geflecht. Sie sind Wächter, waren Teil der Mittelpfosten von Häusern oder sind einfach „nur“ Figuren, die schmückende Funktion, rituelle oder magische Bedeutung besessen haben (und vielleicht noch besitzen). Ein schönes Beispiel sind die Minkisi-Skulpturen, denen das Leipziger Völkerkundemuseum, welches eine der weltweit umfangreichsten Sammlungen (Sammlung Robert Visser) dieser Figuren besitzt, 2012/2013 erstmals eine Ausstellung widmete. Zu Unrecht galten die Figuren unter den europäischen Kolonialherren als bloße Fetische oder gar Objekte für schwarze Magie. Im ehemaligen Loango-Reich, heute Teil der Republik Kongo, kam ihnen in Ritus und Verehrung eine große Bedeutung zu. Die Minkisis, die u.a. mit Nägel, Glasscherben oder anderen Gegenständen gespickt sind und meist zusätzlich einen verschlossenen Behälter besitzen, in dem sich Federn, Knochen, Muscheln etc. befinden können, waren Glücksbringer und Kraftfiguren. Sie versprachen Schutz, Heilung und Reichtum. Darüber hinaus spielten sie eine wichtige Rolle im Ahnenkult. Hatten sie ihren Zweck erfüllt, wurden sie häufig auch entsorgt.

Die eigene Zeit

Man ist sich auf der Durchreise zunächst nicht ganz sicher, was die Blicke, die einen am Anfang erwarten, sagen wollen. Vielleicht „schön, dass du da bist“ oder auch „wer sind wir?“, vielleicht auch „möchtest du unsere Geschichte erfahren?“ und man hat das Gefühl, nicht nur als Besucher im Jetzt des Dazwischen zu sein, sondern dass es die Figuren ebenso sind. Die Frage, die inmitten der Blicke zu finden ist und weiß auf schwarz auf einer Tafel prangt, lautet dann, entgegen der eigenen Erwartung: Zum wem hast du gehört? Damit sind nicht zwangsläufig die meist unbekannten Besitzer und noch unbekannteren Hersteller gemeint. Die Frage bezieht sich generell auf den Weg, den die Figuren (und die ausgestellten Objekte generell) auf ihrer ureigenen Reise ins Museum genommen haben. Waren sie Geschenke? Waren sie Tauschobjekte? Wurden sie gekauft? Oder gar mit Gewalt entwendet? Eine wichtige Frage, die Teil der Erzählgeschichte sowohl für die Objekte selbst als auch für den Betrachter sein muss, ebenso wie die Konfrontation mit der Zeit. Denn es gibt vielleicht nirgendwo einen Ort, an dem man so unbarmherzig wie staunend der Zeit ausgesetzt ist.

Die „Zeit der Anderen“

Die Zeit des Betrachters. Die Zeit der Objekte. Die Zeit der Reise von beiden. Und die „Zeit der Anderen“. Letzteres bezieht sich auf die Vorstellung der europäischen Gelehrte, Kulturen in sogenannte menschliche Entwicklungsstufen zu unterteilen; demnach befände sich also jede Kultur in einer eigenen Art von Zeitblase mit der Konsequenz, sich nur selbst reproduzieren und damit nicht Anteil an der Geschichte selbst haben zu können. Ihre Zeit sei also eine andere Zeit auf der Skala der „allgemeinen Menschheitsentwicklung“, wobei die europäische Zivilisation als, überspitzt formuliert, Krone der Schöpfung betrachtet wurde. Diese Kategorisierung betraf auch die von den Kulturen produzierten Objekte, die damit innerhalb ihres eigenen Kontextes nicht nur eine Abwertung erfuhren, sondern auch zeitlich keine Rolle mehr spielten. Eine Auffassung, die sich im Zuge der Globalisierung und einer allgemeinen Neuausrichtung des Zeitverständnisses größtenteils relativiert hat. Denn um Geschichten zu erzählen, braucht man die Zeit ebenso wie die Blicke.

Glas oder kein Glas?

Vitrine: Südamerika

Die meisten Objekte des Rundgangs zeigen sich dem Betrachter während des Rundgangs hinter Glasscheiben, was zweifelsfrei konservatorischen Gründen geschudet ist und in den meisten Museen eher die Regel als die Ausnahme bildet. Der Vorteil von Glas ist es, dass sich dahinter Themenbereiche sehr gut vorstellen lassen. Figuren und Objekte können im Einklang erzählen und es lässt sich als Betrachter thematisch dichter in die Erzählfelder eintauchen. Der Nachteil von Glas ist, dass es immer auch eine Distanz schafft. Auf meinem Rundgang wechseln sich Nähe und Distanz ab. So etwa am Beginn des Ausstellungsteils, der mit „Die Amerikas“ überschrieben ist und Einblicke in die kulturelle Vielfalt von Süd-, Mittel- und Nordamerika bietet. Holz. Stoff. Keramik. Alles spricht, und es ließe sich schon ein halber Museumstag damit verbringen, die Aufmerksamkeit nur diesem einen Bereich zuzuwenden. So erfährt man gleich zu Beginn Näheres über die afroamerikanischen Religionen. Religiöse Praktiken afrikanischer Sklaven, die für die Arbeit auf Plantagen verkauft und verschifft wurden, verbanden sich häufig mit dem Heilwissen von Ureinwohnern, oft aber auch mit christlichen Praktiken, da auf diese Weise die ansonsten verbotene Ausübung von Riten, Tänzen und Heilzeremonien legitimiert wurde. So finden sich in den afroamerikanischen Religionen u. a. Elemente der westafrikanischen Yoruba, Ansante oder Ewe Kulturen. Die Yoruba-Religion basiert beispielsweise auf der Vorstellung eines ungeteilten Kosmos, der weder Gut noch Böse kennt. Vielmehr wird durch die Lebensenergie (ashé) der Übergang zwischen der Welt des Sichtbaren (aye – Bereich der Lebenden) und der Welt des Unsichtbaren (òrun – Reich der Ahnen) im Gleichgewicht gehalten. Elemente dieser Vorstellungen bildeten die Ursprünge des brasilianischen Candomblé, des Umbanda (Argentinien, Uruguay) oder des Voudun (Voodoo, Haiti), wobei in vielen Zeremonien Opfergaben, Gesänge, Tänze sowie Trance- und Besessenheitszustände eine Rolle spielen.

Exu-Schrein

Eine für die afroamerikanischen Religionen wichtige Gottheit ist Exu (Eshu), von dem ich einen offenen Schrein bestaunen darf, der aussieht als wäre er eigens mit Hühnerblut, Wachs und Alkohol geweiht worden. Darin finden sich Opfergaben. Als Trickster-Gottheit ist Exu bekannt als Mittler zwischen Göttern und Menschen, zudem ist er an Schöpfung und Tod, Chaos und Ordnung beteiligt. Bei Riten und Zeremonien werden ihm die ersten Opfer dargebracht. Im Candomblé kann er sogar als eigenständiger Gott (Orisha) selbst in Erscheinung treten, während ihn das Umbanda eher als Geist verehrt. Exus ambivalente Gestalt gestattet es ihm u.a. auch, sich als Beschützer von Häusern (Exu-Agbo) oder aber als Feuergott (Exu lnã) zu präsentieren.

Ordnung und Linien

Gabelhalsgefäße und Doppelgefäße, Moche

Weiter führt der Rundgang nach Südamerika zu den Kulturen der Moche und Chimú. Im Gegensatz zur Yoruba-Religion ist in diesen Kulturen der Dualismus das grundlegende Prinzip für die Weltordnung. Gegensätze wie Tag und Nacht, oben und unten werden dabei rituell zusammengeführt. Nur auf diese Weise kann die Ordnung aufrechterhalten werden. Dies drückt sich u.a. in Darstellungen von und auf Keramiken aus, so etwa bei Trinkgefäßen mit zwei Ausgüssen, Doppelgefäßen mit zwei Gefäßkörpern, verbunden durch eine vertikale Brücke oder auch durch Gefäßpaare.

Eine andere Vitrine widmet sich der Nazca-Kultur, die zwischen 200 v. Chr. bis ca. 600 n. Chr. in Südperu existierte. Bekannt wurde sie durch die Nazca-Linien, heute zum Weltkulturerbe gehörend, kilometerlange Linien bzw. Scharrbilder, welche die Umrisse von Tieren und geometrischen Formen zeigen und erst von der Luft aus vollständig sichtbar werden (entdeckt wurden sie erst 1926). Was es damit auf sich hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Eine Theorie lautet, dass die Linien die Lagen von unterirdischen Kanälen angezeigt hätten, weitere Vermutungen bringen die Zeichnungen mit Sternenkonstellationen, zeremoniellen Zeichen und einem Kalendersystem in Verbindung.

Vitrine: Nazca

Aufgrund des Wüstenklimas liegen uns über die Nazca-Kultur zudem detaillierte Informationen über ihr Bestattungswesen vor. So erhielten die Toten durch die Beigabe von Masken ein menschenähnliches Aussehen. Die Körper wurden mit Textilien umwickelt und lagen nicht lang ausgestreckt, sondern wurden in eine hockende Position gebracht, mit angewinkelten Knien vor der Brust. Je nach Rang bemaß sich der Umfang und die Art der Grabbeigaben, die manchmal auch Tiere umfassen konnten. Der Totenkult spielte für die Nazca eine wichtige Rolle. Anders als beispielsweise in den Jenseitsvorstellungen des alten Mesopotamien, in denen die Totengeister eine essentielle Bedrohung für die Lebenden darstellten, blieben Lebende und Tote in der Vorstellung der Nazca miteinander verbunden. Die Toten übernahmen sogar eine Mittlerrolle zwischen den Menschen und Göttern ein.

Häuser

Tuvalu, taumata fenua

Nach dem bisher Gesehenen ist es auf der Reise Zeit für eine Pause. Und wo könnte man besser Entspannen als auf Tuvalu im westlichen Pazifik, dem viertkleinsten Staat der Welt, dessen höchster Punkt nur knapp fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt, und der knapp über 11.000 Einwohner zählt? Im Herbst 2009 errichteten der Hausbaumeister Simeona Saipele und seine Familie im Grassi Museum für Völkerkunde die verkleinerte Form eines Wohn- und Schlafhauses. Es wurde ohne Nägel oder andere Stützkonstruktionen errichtet und besteht aus Palmenholz, das mit Kokosfasern umwickelt wurde und in das die Erbauer magische Objekte eingebunden haben. Auf einer Begleittafel des Museums liest man dazu: „Dieses Haus trägt den Namen taumata fenua: ferne Inseln sehen, in der Bedeutung: dieses Haus ist in die Welt gegangen, um die Welt zu sehen und von der Welt gesehen zu werden“. Sitzt man im Schutz der Holzstämme, verspürt man tatsächlich eine angenehme Ruhe und Zufriedenheit. Die Lust auf einen Mittagsschlaf überkommt einen, und irgendwie erscheint es gar nicht abwegig, dass man, zumindest in der Fantasie, das nahe Meer rauschen hört.

Geister

Mimi-Geister

Wie jede Reise muss auch meine irgendwann einen Abschluss finden, obwohl die Ahnung mit einer gewissen Melancholie verbunden ist und ich trotz schmerzender Füße nicht übel Lust hätte, noch ein wenig weiter durch die Zeit zu gehen. Doch ich weiß, auf mich warten die Geister und ich hoffe, dass sie sich versöhnlich zeigen werden. Australien bildet das Ende und den Anfang zugleich, befindet sich dort mit den Aborigines doch die älteste Kultur der Welt, eine Kultur, die mit der Traumzeit zudem die älteste Mythologie der Welt noch immer lebendig hält. Denn die Traumzeit ist gewissermaßen eine Art Schlüssel zu Zeit, Raum und Schöpfung. Nichts ist abgeschlossen und wird jemals abgeschlossen sein. Eine schöne Vorstellung, der auch oder vor allem die Geister Rechnung tragen.

Da gibt es Namarrkon, den Blitzgeist, der Regen und Wolken herbeisingt und die Blitze mit Steinen an seinen Ellenbogen erzeugt. Des Weiteren die Mimi-Geister, die in Felsspalten des westlichen und östlichen Arnhemlandes (australisches Northern Territory) leben. Sie sind dünn und klein und müssen sich vor dem Wind in Acht nehmen. In den Geschichten der Traumzeit lehrten sie den Menschen das Jagen, Tanzen und Lieben, und noch heute sind sie allgegenwärtig und dafür bekannt, den Menschen Streiche zu spielen.

Fledermausmann

Die australische Version von Batman findet sich im Fledermausmann. Dieser gehört, so kann man anhand der Begleittexte erfahren, zu jenen Tieren, mit denen die Angehörigen des Nadjok Clans totemistisch verbunden sind, ist also eines jener Wesen, in dem die Traumzeit wirkt und die besondere Kraftquellen darstellen. In der Vorstellung der Nadjok taucht der Fledermausmann erst mit der Dunkelheit auf und fliegt durch die Nacht, manchmal, um Aufträge für andere Geistwesen zu erfüllen. Die Traumzeitgeschichten zeigen die enge Verbundenheit der Aborigines mit ihrem Land und der Natur.

Mit Naturphänomenen steht auch die Schildkröte Inibung ei in Verbindung. In der Traumzeit erschuf sie die Sturmwinde und die dunklen Wolken. Eine Darstellung im Museum zeigt sie zusammen mit vier Bumerangs, da dieser ebenfalls mit Regenstürmen assoziiert wird. Eine sehr lebendige Imagination, dass Regen nicht nur Regen ist, sondern sehr viel mehr sein kann.

Es gäbe noch so viel mehr Geschichten von dieser Reise zu erzählen, aber ein unausgesprochenes Gesetz von Geschichten lautet, dass sie sich insgeheim selber aussuchen, wann, wie und von wem sie erzählt werden möchten. Ich wünsche mir, diesen viel zu kurzen Rundgang durch die Welt zu einer anderen Zeit erneut anzutreten, und wer weiß, was es dann zu erzählen geben wird …

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

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