Lügen, Tricks und Todesschüsse. Odysseus, der etwas andere Held

Trickster sind eine paradoxe Sippschaft. Mythische Wesen, die irgendwie Götter sind, andererseits aber auch wieder außerhalb der Götterwelt stehen, die in Menschen- und Tiergestalt auftreten, aber auch ihre Erscheinungsform ändern können. (Mit-)Schöpfer und Ruhestörer, Kulturbringer und Feinde jeder Ordnung, Schelme und Schurken, hilfreich und zugleich gefährlich, klug bis zur äußersten Raffinesse und dann wieder so überschlau, dass sie über die eigenen Füße stolpern und am Ende als betrogene Betrüger dastehen. Im späten 19. Jahrhundert sind sie als Typus in den Mythologien nordamerikanischer Indianervölker sozusagen entdeckt worden und haben ihre Bezeichnung erhalten: „Trickster“, was im Englischen Schwindler, Gauner, Schelm usw. bedeutet. Seitdem haben sich Ethnologen und Religionswissenschaftler bemüht, sie zu klassifizieren und zu definieren. Mit dem Ergebnis, dass sie in keine Kategorie passen. Dafür aber hat man auch in den überlieferten Vorstellungswelten anderer Kontinente mehr und mehr Trickster-Figuren ausfindig gemacht – auch außerhalb rein mythologischer Kontexte. Es handelt sich also um ein universales Phänomen von außerordentlicher Bandbreite. Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie hat diesem unter dem Titel „Schöpfer, Schelm und Schurke – Der Trickster im mythologischen Zwielicht“ (2018) eine eigene Publikation gewidmet.

Im Mytho-BLOG wollen wir auszugsweise Beispiele aus einigen Beiträgen dieses Bandes bringen. Beginnen wir mit Odysseus, der einer der bekanntesten griechischen Helden in den Mythen um den Trojanischen Krieg ist. Ohne ihn hätten die Griechen Troja nicht erobert, und die Abenteuer, die er während seiner zehnjährigen Irrfahrt auf dem Weg nach Hause (Ithaka) zu bestehen hat, sind legendär. Aber es steckt ein veritabler Trickster hinter der heroischen Fassade. Auch wenn das nicht so bekannt ist. Nehmen wir den Fall des Palamedes, ohne den Odysseus gar nicht mit in den Krieg gezogen wäre …

Seinen ersten Auftritt hat Odysseus in der unmittelbaren Vorgeschichte des trojanischen Krieges. Wie fast alle noch unverheirateten griechischen Fürsten bewirbt er sich um die spartanische Prinzessin und Zeustocher Helena, die die „Schönheit der goldenen Aphrodite“ besitzt. Anders als seine Mitbewerber schickt er, der „reich an wohlgefügten Ratschlägen“ ist, aber keine Brautgeschenke, denn er weiß, dass er keine Chance hat: Seiner Einschätzung nach wird „der blonde Menelaos“, Sohn des Atreus, der reichste unter den Griechen, das Rennen machen, zumal sein Bruder Agamemnon für ihn wirbt, der als König von Mykene der mächtigste unter den griechischen Herrschern und übrigens mit Helenas (Halb-)Schwester Klytaimnestra verheiratet ist. In der Tat bekommt Menelaos die Hand der Begehrten. Odysseus ist ersichtlich klüger und weitsichtiger als die anderen Heiratskandidaten. Der Eid, mit dem alle unterlegenen Freier sich schließlich verpflichten, jeden zu bestrafen, der Helena ihrem Gatten entführt oder ihr sonstwie zu nahe tritt, wird übrigens in einer späteren Quelle als seine Idee dargestellt, mit der er Unzufriedenheit und möglichen Streit wegen der nun einmal so und nicht anders gefallenen Entscheidung verhindern will. Doch dann gibt es Krieg, und ausgerechnet Odysseus will nicht mitmachen.

Was die Handelnden alle nicht wissen und nicht wissen können: Helena spielt in Zeus‘ Plan zur Vernichtung des Geschlechtes der Heroen eine entscheidende Rolle: Um sie soll der trojanische Krieg entbrennen. Dieser wird dadurch ausgelöst, dass sie der trojanische Prinz Alexandros, besser bekannt unter dem Namen Paris, bei einem Besuch in Sparta während einer Abwesenheit ihres Gatten mit ihrem offenbaren Einverständnis (dafür hat Aphrodite gesorgt) und unter Mitnahme einiger Schätze entführt und nicht wieder herausgeben will – schließlich ist sie ihm von der Liebesgöttin Aphrodite persönlich versprochen und zugespielt worden, als Dank dafür, dass er dieser bei einem letztlich von Zeus ins Werk gesetzten Schönheitswettbewerb den Vorzug vor Hera und Athene gegeben hat. Dass Hera und Athene ihn seither unauslöschlich hassen, weiß er nicht, aber er und seine Stadt werden dafür bitter büßen müssen. Für die griechischen Fürsten, die um Helenas Hand angehalten und dann den Beistandseid geleistet haben, ist mit der Entführung jedenfalls der Ernstfal leingetreten. Und ausgerechnet Odysseus will sich ihm entziehen – ähnlich wie Wakdjunkaga, die Tricksterfigur der Winnebago-Indianer, mehrfach zu einem Kriegszug aufruft, dessen Zustandekommen aber erfolgreich sabotiert. Als Agamemnon und Menelaos mit Gefolge bei ihrer Rundreise zur Mobilisierung der Freier nach Ithaka kommen, spielt er den Geisteskranken und gibt seine Verstellung erst auf, alsPalamedes, ein angeheirateter Verwandter Agamemnons, ihn der Simulation überführt, indem er seinen kleinen Sohn Telemachos mit dem Tode bedroht und so den scheinbar Verrückten zwingt, wie ein geistig Gesunder zu reagieren, um das Leben des Kindes zu retten. Der schlaue Trickster ist nicht schlau genug gewesen und muss nun wohl oder übel mit in den Krieg. Wakdjunkaga, der als Häuptling absichtlich oder aus Laune und Ungeschick sein Gefolge davon abschreckt, ihn auf dem Kriegspfad zu begleiten, zieht schließlich allein auf Abenteuer, wie das jeder Trickster tut – Trickster sind an sich Einzelgänger. Odysseus hingegen ist nun Teil eines Kollektivs … Offenbar kann er es Palamedes nicht verzeihen, dass dieser ihn durchschaut und bloßgestellt hat. Er rächt sich …

Nicht zwielichtig, sondern finster ist Odysseus‘ Verhalten gegenüberPalamedes. Dieser ist ihm an Intelligenz offenbar ebenbürtig, vielleicht sogar in mancher Hinsicht überlegen, und stellt dies auch während des Krieges gegen Troja unter Beweis. Ist er vielleicht auch ein Trickster und wird er von Odysseus als Rivale angesehen? Das ist gut möglich. Auf alle Fälle aber ist er ein Kulturheros, welche Rolle ja, wie gesagt, oft mit der des Tricksters verbunden ist: Er teilt als erster das Heer in Abteilungen auf, rationiert die Mahlzeiten und legt die richtigen Essenszeiten fest. Er erfindet u. a. das Alphabet, die Zahlen, die Rechenkunst, die Astronomie sowie Gewichte und Maßeinheiten, und während einer Hungersnot im Heerlager erfindet er das Würfelspiel, um die Krieger abzulenken und so vom Meutern abzuhalten. Einige spätere Quellen schreiben ihm auch die Gewinnung der drei Töchter des Anios für die Verproviantierungdes griechischen Heeres zu. Diesen drei auch Oinotrophoi genannten Damen hat Dionysos die Gabe verliehen, Wein, Getreide und Olivenöl hervorzubringen. Nach anderen Quellen ist es freilich Odysseus, der sie als Unterstützerinnen der griechischen Sache gewinnt. Ein weiteres Indiz für den Wettkampf zweier Trickster? Das kann gut und gern Teil der Tradition gewesen sein, wenngleich wir davon erst aus Quellen des 5. Jahrhunderts v. Chr. wissen, vorzugsweise aus Dramenfragmenten der drei großen athenischen Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles und Euripides. Sie alle schrieben Stücke über Palamedes, die aber leider verlorengegangen sind. Auch die Reste des epischen Kyklos helfen hier wenig weiter. Wir erfahren nur aus der Inhaltsangabe der Kyprien, dass Palamedes vor Troja umkommt, und der Reiseschriftsteller Pausanias (2. Jahrhundert n. Chr.) schreibt in seiner Beschreibung Griechenlands, er habe in den Kypriengelesen, Palamedes sei beim Fischen von Diomedes, Sohn des Tydeus aus Aitolien, und Odysseus ertränkt worden. Auch alle verfügbaren späteren Quellen sagen, dass Palamedes ermordet wird, und in jedem Falle ist Odysseus daran beteiligt, allein oder im Verein mit Diomedes oder auch Agamemnon. Meist wird er aufgrund gefälschterBeweise zum Tode verurteilt und vom griechischen Heer gesteinigt – man findet Gold in seinem Zelt, das angeblich eine trojanische Bestechungszahlung ist (und das man vorher selber dort platziert hat) sowie einen angeblich vom trojanischen König Priamos stammenden Brief an ihn. Ein glatter Justizmord – Sokrates, fälschlich der Gottlosigkeit angeklagt und zum Tode verurteilt, wird später im Gefängnis eine Parallele zwischen sich und Palamedes ziehen. Um die Perfidie vollkommen zu machen, tritt in manchen Versionen Odysseus, der Strippenzieher des Komplotts, beim Prozess scheinheilig alsVerteidiger auf. Das Motiv ist entweder Eifersucht auf die Erfindungsgabe des Palamedes und seine Beliebtheit beim Heere oder die Rache des Odysseus für seine Enttarnung damals auf Ithaka.

Palamedes hat einfach Pech gehabt, im Mythos und in der Literaturgeschichte: Er ist kaum noch bekannt. Die ihm gewidmeten Stücke der „großen Drei“ unter den griechischen Tragödiendichtern sind nicht erhalten, und was entscheidend ist: In der Ilias und der Odyssee wird er mit keiner Silbe erwähnt. Das ist schon antiken Autoren aufgestoßen. Homer habe Palamedes weggelassen, um Odysseus‘ schändliches Verhalten verschweigen zu können, schreibt Philostratos (2. / 3. Jhd. n. Chr.), bei dem Odysseus ohnehin denkbarschlecht abschneidet: Er ist intrigant, rachsüchtig, heimtückisch und dabei dümmer und unfähiger als Palamedes. Um Odysseus als Heros darstellen zu können, musste Homer die tricksterhaften Züge dieser Figur wegretuschieren, und ganz besonders die finsteren. Das hat er auch mit einigem Erfolg getan.

Ein Beitrag von Christoph Sorger

Literaturhinweise:

Claudia Roch/Maren Uhlig (Hrsg). Schöpfer, Schelm und Schurke. Der Trickster im mythologischen Zwielicht. Leipzig 2018.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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