Landschaften jenseits der Wirklichkeit – Die Commedia und einige Gedanken zur Topografie des Jenseits

er nahm sich an der Göttersitze allesamt. Allumfassende Weisheit besaß er in jeglichen Dingen. Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte (Gilgamesch-Epos)

Wohin sich Jenseitsreisende auch immer begeben – sei es Hades, Hölle oder Paradies – und auf welchen Wegen sie dahin gelangen, sie verlassen in jedem Fall die Lebenswelt der Menschen, um „das Geheime zu sehen und das Verhüllte aufzudecken“. Jenseitsreisende überschreiten den Fluss, überqueren das Gebirge, erheben sich in die Lüfte so leicht wie ein Hauch und erreichen die höchsten aller Himmel. Sie steigen hinunter in düstere Unterwelten, wagen sich in Schlünde und Grüfte, tauchen zum Meeresgrund, gelangen in die tiefste aller Tiefen und – was normalerweise den Sterblichen verwehrt bleibt – sie kehren wieder zurück, um uns Lebenden Bericht zu erstatten.

Dante Alighieris Commedia ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich und zweifellos etwas Neues in ihrer Zeit, sie ist ein Kompendium des Wissens, voller Anspielungen zum politischen Zeitgeschehen, ist Spiegel sozialer und moralischer Befindlichkeiten, eine Bestandsaufnahme der italienischen Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, ist Liebesdichtung und bedeutender Beitrag zur Entwicklung der italienischen Volkssprache. Neben all diesen Aspekten steht sie in der Tradition der Jenseitsreisenden, jener Wanderer durch Höllen und Himmel seit Gilgamesch, dem großen König des Zweistromlandes, der sich vor 5000 Jahren als einer der Ersten (so viel wir jedenfalls im Moment wissen) auf den Weg machte, um das Geheimnis des Todes zu ergründen.

© Jörg Jacob

Die Darstellung und Beschreibung von Anders- und Unterwelten und der Wege, die dorthin führen, bilden ein Genre, das es schon lange vor (und auch noch nach) der Commedia gegeben hat. Dante aber hat seinen eigenen Realismus geschaffen und das bisher meist nebulöse Jenseits als ein gewaltiges Panorama gestaltet. Vor allem seine komplexen Darstellungen der „Höllenlandschaften“ zeigen nicht mehr nur den einen Schreckensort, sondern differenzieren vielfältige Landschaften des Schreckens, die er detailliert ausmalt. Seine Landschaften des Jenseits spiegeln sicher bis zu einem gewissen Grad auch Landschaftserfahrungen der realen Welt. Eindrücke und Erlebnisse aus den lombardischen Städterepubliken und während seiner Reisen in Norditalien spielen hier möglicherweise eine Rolle. Insbesondere die als „Teufelstal“ bekannte Gegend um Monterotondo mit ihren heißen Quellen und Geysiren, aus denen schwefelhaltige Dämpfe aufsteigen, könnten Dante, der sie vermutlich kannte, unter anderem inspiriert haben. Aber auch die Höhlen von Škocjan, durch die der Fluss Reka tost, könnten Inspirationsquelle für Dante gewesen sein. Interessanter noch scheint mir aber ein Hinweis auf die Deckenmosaiken der Taufkirche des Doms von Florenz und deren trichterförmigen Kuppel. Hier konnte Dante einen dreiköpfigen Dämon besichtigen, der womöglich Vorlage für seine Luziferdarstellung gewesen ist. Seine Landschaftsschilderungen in der Commedia implementieren aber in weitaus stärkerem Maße fantastische Bilder, die wirkliche Gegebenheiten und Erfahrungen überhöhen und verfremden.

Der Weg des Wanderers in der Commedia führt zunächst durch Wald und Tal. Der Wald wird als wild und finster beschrieben und das Tal führt hin zu jenem Berg, der von der Sonne bestrahlt wird, jedoch nicht bestiegen werden kann, denn wilde Tiere drängen den Wanderer zurück in die Tiefe und Dunkelheit des Tals. Auf Wald und Tal folgt ein Gewässer, der Fluss Acheron, jener Hauptstrom der Unterwelt, in den Styx und Kollegen (Kokytos, Phlegethon und Lethe) münden. Meere und Flüsse bilden in den meisten mythologischen Schilderungen des Jenseits eine natürliche Grenze zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. Der Acheron ist allerdings nicht nur mythischer, sondern auch realer Fluss: Im Nordwesten Griechenlands fließt er heute noch wie schon vor Jahrtausenden. Und wie alle anderen überlieferten Hades-Zugänge befindet er sich am Rande der antiken griechischen Welt. Sind Wald, Tal und Berg in der Commedia namen- und konturlos und rein allegorisch zu verstehen, taucht mit dem Acheron ein konkreter Bezug zur Jenseitsvorstellung der Antike und eine reale landschaftliche Situation auf. Es werden in der Folge dann vor allem landschaftliche Extreme geschildert – auf lebensfeindliche Waldwildnis folgen Eissee und Sandwüste – , um das mannigfaltige Bestrafungssystem für die weltlichen Verfehlungen der Menschen möglichst drastisch darzustellen. Auch die Satans-Stadt der Leiden mit all ihrer durchaus vorhandenen Infrastruktur bleibt im Ungefähren. Sie besitzt die typischen Merkmale jener Städte, die Dante kannte: Turm, Tor, Stadtmauern, Gassen. Anstelle der Wohnhäuser finden sich hier – naturgemäß – steinerne Särge und Grabmäler.

Bewegt sich der irdische Wanderer zumeist in der Horizontalen, folgt der Jenseitsreisende einer vertikalen Achse. Dunkel und Licht, Böse und Gut sind die gegensätzlichen Pole dieser Achse. Der christliche Jenseitswanderer hat dabei naturgemäß das Ziel, die Destination Paradies zu erreichen. Verbunden damit ist der hohe Wunsch nach Erlösung und Gottesnähe. Eine meiner frühesten Erinnerungen hinsichtlich der Wege zum Jenseits bezieht sich auf ein großformatiges und aufwendig gerahmtes Bild in der Wohnstube einer alten Dame; ich war als Kind oft zu Besuch bei ihr. Dieses Bild zog mich jedes Mal, wenn ich dort war, in seinen Bann: Es zeigte einen breiten, sorgfältig gepflasterten Weg, auf dem gutgelaunte und elegant gekleidete Menschen flanierten; ohne Zweifel waren sie wohlhabend und ihr Leben konnte als glücklich angenommen werden. Parallel zu ihnen am äußersten rechten Bildrand führte ein erbärmlicher Pfad durch Dornengestrüpp und über wüste Steinhaufen hinweg. Dort sah man einen einsamen Wanderer in zerfetzter Kleidung mühevoll aufwärts steigen. Es bedarf wohl keiner besonderen Erklärung, dass jener mühsame Weg zu den Pforten des Himmels führte, während die bequeme Straße die Gutsituierten geradewegs in die Hölle beförderte.

Als sich Gilgamesch seinerzeit auf den Weg machte, führte sein Weg aus vertrauter Steppenlandschaft zunächst in ein Gebirge, dann durch Wald zum Meeresufer. Dieses Meer muss überquert werden, und nach einem sinnlosen Gemetzel am Seemann Ur-schanabi und seinen Gehilfen gelingt dies auch mithilfe von langen Holzstangen, die Gilgamesch zum Staken benutzt. Von Anfang an werden also anonyme Großlandschaften zitiert: Gebirge, Wald, Meer. Die Unterwelt selbst ist in einem nicht näher definierten Bergland verortet, das schwerlich eine irdische Entsprechung finden dürfte, ist doch die mesopotamische Ebene von zahlreichen bergigen Regionen umringt. In der Antike hingegen stellte man sich das Jenseits als ein riesiges diffuses Niemandsland vor, eine unterirdisch gelegene Welt, in der Menschen nach ihrem Tod als Schattengestalten umherirren, nicht wissend, wozu und wie lange sie in diesem unbestimmten Transitraum bleiben müssen. Die Zugänge zu dieser jenseitigen Unterwelt, dem Hades, waren in der Antike aber konkrete Orte, allesamt im Westen der griechischen Welt gelegen: Der Lago d’Averno westlich von Neapel, die Quellen des Acheron in Epirus und jener am Kap Tenaro auf der Halbinsel Mani, dem südlichsten Ausläufer der Peloponnes, den schon Herakles für seine Hadesreise genutzt haben soll. Kahle, noch immer hoch aufgeworfene Berghügel bilden dort das letzte Aufbegehren des Balkangebirges, dessen südlicher Strang am Kap Tenaro im Meer verendet und gleichsam in sein Gegenteil umgekehrt wird, da nämlich, wo das Meer in die ungeheuerliche Tiefe von mehr als 5000 Metern absinkt. (Das Calypsotief ist eine der tiefsten Stellen des Mittelmeeres überhaupt.)

Eine Wegstunde vom Kap entfernt befand sich das Totenorakel der Spartaner, nahe also bei einem der überlieferten Zugänge des Hades. Die Straße dorthin ist schmal, sie schlängelt sich durch menschenleere Gegend, der Wanderer wird stumm beobachtet von verfallenden Wohntürmen, die auf den umliegenden Berghängen wie Stacheln auf dem Rücken eines urzeitlichen Tieres in die Höhe ragen. Kein Baum, kaum Gesträuch, außer mitleiderregenden Feigenkakteen, säumen den Pfad; die wenigen Siedlungen wirken menschenverlassen und eine Stille senkt sich, sinkt immer tiefer, dringt in Gedanken und Empfindungen ein. Das Ende der Welt habe ich mir seit Kindertagen nicht anders vorgestellt.

Eine Ruine bei Kokkinogia gilt als Überbleibsel – wahlweise des antiken Nekromanteion selbst oder jenes Poseidon-Tempels, den es der Überlieferung nach ebenfalls hier gegeben hat. Tatsächlich aber soll es sich bei dem Bauwerk um eine postbyzantinische Kapelle handeln, die allerdings auf einem älteren Vorgängerbau errichtet worden sein könnte. In einer kleinen Bucht unterhalb dieser Ruine lässt sich eine nur wenige Meter breite und tiefe, von Gestrüpp überwucherte Höhlung im Felsgestein finden. Diese Höhlung soll der eigentliche, wahre Ort der Orakelstätte gewesen sein. Dort saß der Klient und lauschte vermutlich ehrfürchtig auf die flüsternden Stimmen aus der Unterwelt. Denn der Zugang zum Hades ist hier nicht mehr weit entfernt. Die Hades-Höhle unterhalb der felsigen Steilküste des Kap Tenaro ist jedoch nur vom Meer her erreichbar. Der britische Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor ist während seiner Mani-Reise in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hineingeschwommen: „Die Luft war dunkel, doch unter der Oberfläche schimmerte das Wasser in einem magisch leuchtenden Blau, und mit einer einzigen Hand- oder Fußbewegung konnte ich schimmernde Säulen von phosphoreszierenden Bläschen erzeugen. Es war, ganz anders als erwartet, kein bißchen unheimlich, sondern bis auf die Kälte des Wassers, das nie ein Sonnenstrahl erreicht, still und friedlich und wunderschön. Durch das Licht, das unter Wasser vom fernen Höhleneingang ins Innere strömt, hat es den Anschein, als schwimme ein Eindringling, der von einer phosphoreszierenden Hülle umgeben in die kühle Tiefe hinabtaucht, mitten im Herzen eines riesigen Saphirs.“ (P.L.Fermor, Mani ,Kap. 10, Das Tor zur Unterwelt)

Hölle und Himmel – Dante gelangt von der einen Jenseitswelt zur anderen, nicht ohne mit dem Läuterungsberg eine Zwischenstufe meistern zu müssen. Das eigentliche geografische Scharnier aber bildet der vereiste Teufelsleib im Erdmittelpunkt. Wie ein Wurm in der Mitte eines Apfels hockt das Böse im Zentrum unserer Welt – ein durchaus deprimierendes Bild, das Dante hier gezeichnet hat. Seine Hölle wird, je weiter der Wanderer voran- bzw. hinabkommt, immer enger, vergleichbar einer Fischreuse, und wie ein Fisch schwimmt auch der Sünder hinein, und je tiefer er gelangt, desto unwiderruflicher ist er verstrickt, denn die Anziehungskraft des Bösen wird hier offenbar mit der Schwerkraft der Erde in Beziehung gesetzt.

An der Stelle, an der es nicht mehr weiter zu gehen scheint, wo dem Wanderer nur noch Umkehr möglich scheint, gibt es aber eine überraschende Wende ins Gegenteilige. Vom Mittelpunkt der Erde aus kann wieder aufwärts gestiegen werden, jedoch nun auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel. Nicht allein eine physikalische, sondern auf zweiter Ebene gleichermaßen auch eine philosophische Herausforderung: Was bei Kierkegaard schon Sprung sein muss, ist für Dante allerdings noch ein wenig einfacher, mit „Drehung und vorsichtigem Schritt“ zu bewältigen. Wagen wir dies und folgen ihm, so haben wir den Rubikon überschritten, befinden wir uns unvermittelt auf der entgegengesetzten Seite eines gespiegelten Trichters. Denn von diesem Moment an öffnet sich der Weg gleich einem gewaltigen Grammophontrichter und des Aufwärtssteigens und Schwebens scheint kein Ende mehr zu sein. Zwar sind wir, solange wir die Terrassen des Läuterungsberges absolvieren, vorerst noch in irdischen Gefilden unterwegs, doch auf dem obersten Plateau des Berges befindet sich das irdische Paradies und von hier geht es weiter und immer weiter hinauf. Dante interpretiert und erweitert das ptolemäische geozentrische Weltbild auf eigenwillige Weise: Höllenkrater hier und Läuterungsberg auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel als die zentralen topographischen Elemente sowie die Erweiterung der Himmelssphären um den alles umschließenden Licht- und Flammenhimmel, der ebenso wie die Erdkugel unbeweglich ist. Hier verlässt der Wanderer endgültig jene Spähren, die noch einen irdischen Bezug haben. Die himmlische Welt ist eine des absoluten Traums und der uneingeschränkten Phantasie.

Hades, Hölle, Läuterungsberg und Himmel. Landschaften, durch die sich Jenseitsreisende bewegen und von denen sie nach ihrer Rückkehr in die irdische Welt dem staunenden Publikum berichten, werden – mitsamt ihrer religiösen Ideengebäude – durch die explizite Schilderung der Topographie anschaulich und erfahrbarer (man könnte auch sagen, begehbarer) gemacht. Und in gewisser Weise konnten sie so auch als tatsächlicher Teil der Lebenswelt, als wirkliche Orte und Landschaften wahrgenommen werden. Reale Verknüpfungen zwischen diesen imaginierten Jenseitswelten und tatsächlicher irdischer Geographie haben sich offenbar aber im gleichen Zuge verflüchtigt, wie diese Darstellungen detaillierter wurden. Zumindest die Zugänge zum Hades waren in der griechischen Welt noch bekannt. Es waren konkrete Orte, an denen man mit den Seelen Verstorbener in Kontakt treten konnte. Auch das irdische Paradies des Christentums findet sich noch auf den Mappa Mundi des Mittelalters und diversen Seekarten (Columbus vermutete in der Mündung des Orinoko einen der vier Ströme, die das irdische Paradies umfließen). Die Vorstellung vom irdischen Paradies als realem Ort in der Welt wurzelte in einer detaillierten Schilderung eben dieses Ortes in der Bibel, Genesis 2., Verse acht bis fünfzehn: „Und GOTT der HERR pflanzte einen Garten in Eden, gegen Morgen, und setzte den Menschen darein, den er gemacht hatte. / Und GOTT der HERR ließ auswachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen, und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten, und den Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses. / Und es ging aus von Eden ein Strom zu wässern den Garten, und theilete sich daselbst in vier Hauptwasser. / Das erste heißt Phison, das fließet um das ganze Land Hevila, und daselbst findet man Gold. / Und das Gold des Landes ist köstlich, und da findet man Bedellion, und den Edelstein Onyx. / Das andere Wasser heißt Gihon, das fließet um das ganze Mohrenland. / Das dritte Wasser heißt Hidekel, das fließet von Assyrien. Das vierte Wasser ist der Phrath. / Und GOTT der HERR nahm den Menschen, und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bauete und bewahrete“.

Diese konkreten Angaben, die vier Ströme, die Erwähnung angrenzender Länder wie Assyrien und das ganze Mohrenland, der Hinweis auf Gold- und Edelsteinvorkommen, all diese Informationen führten zu der allgemeinen Auffassung, dass es sich um einen tatsächlich existierenden Ort handeln müsse. Und den sahen die mittelalterlichen religiösen Führer und Gelehrten in Asien. Entsprechend wurde er auf den damaligen Weltkarten auch dargestellt. Solange man nur schwammige geografische Kenntnisse über Asien hatte, war das kein Problem. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde diese Verortung allerdings immer schwieriger, weil neue Erkenntnisse hinzukamen und man den vermutlichen Ort immer weiter nach Osten verlegen musste, was sich mit den in der Bibel genannten angrenzenden Ländern nicht mehr gut vereinbaren ließ. Dieses Problem machte den damaligen Geografen zunehmend Schwierigkeiten. Der große Gelehrte Fra Mauro behandelte dieses Problem schließlich auf revolutionäre Weise: Er zeichnete das irdische Paradies auf seiner Weltkarte nicht mehr da ein, wo es die Autoritäten weiterhin verorteten, obwohl man inzwischen wusste, dass es dort – also in Asien – gar nicht sein konnte. Er ließ es aber auch nicht einfach verschwinden, was ihn in Konflikt mit der offiziellen Doktrin gebracht hätte, sondern siedelte es außerhalb der bekannten Welt – am linken unteren Kartenrand an. Ein genialer Schachzug.

Die Frage, wo sich Hölle und Paradies befinden, dürfte bewegliche Geister nicht erst seit der Renaissance beschäftigt haben. Ein reges Interesse die Geografie des Jenseits betreffend finden wir auch bei Friedrich II., dem sizilianischen Stauferkaiser, der für die Commedia eine nicht unbedeutende Rolle spielt: „Ferner sag Uns, wie viele Raumtiefen es gibt, und welchen Namens die Geister sind, die da weilen, wo denn die Hölle sei und das Fegefeuer und das himmlische Paradies: unter der Erde, in der Erde oder über der Erde?“ (aus einem Brief des Kaisers an den Philosophen Michael Scotus, E.Horst, „Friedrich II. Der Staufer“)

Das Geheime und das Verhüllte, wie stellen wir es uns vor? Als nebulöse Einöde oder als erblühende Landschaft? Als ein Spiegelbild unserer Welt oder als etwas Ungesehenes, Phantastisches? In den Schilderungen der Jenseitswanderer mischen sich die Zitate realer Landschaften mit fiktiven Traumgebilden. Gab es im Altertum noch Berge, die als Göttersitze galten, in der Antike noch konkrete Orte, denen die Eingänge zur Unterwelt zugeordnet wurden, so haben sich die Jenseitswelten immer weiter von den Lebensräumen entfernt und sind schließlich in unerreichbare Ferne gerückt. Paradies wie Hölle, Unter- und Anderswelten rückten mit genauerer Kenntnis der geografischen Beschaffenheit der Welt immer weiter weg. Zuerst in noch unbekannte irdische Randgebiete, später sogar in extraterrestrische Gefilde. Im Umkehrschluss lässt sich annehmen, dass jene imaginären Welten ursprünglich konkrete Orte waren, durchaus unfern der Wirkungsstätten der Lebenden angesiedelt. Wurden vor einigen Jahrtausenden Verstorbene diverser Kulturen bei sogenannten Hausbestattungen noch unter den Fußböden der Hütten, Häuser und Paläste ihrer Angehörigen begraben (und ist zum Beispiel im Gilgamesch-Epos noch von einer einfachen Erdgrube an beliebigem Ort die Rede, durch die man in die Unterwelt gelangen kann), so verlegte man Totenstädte und Friedhöfe nach und nach immer weiter aus Städten und Siedlungen an Ortsränder oder siedelte sie sogar weit außerhalb von ihnen an. Jene Orte aber, an denen wir uns nach unserem Ableben einfinden, entfernten sich gleichzeitig mit diesem Prozess immer weiter von den Lebenden und wurden im Laufe der Zeit im absoluten Sinne zu Landschaften jenseits der Wirklichkeit.

Ein Beitrag von Jörg Jacob


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, sowie ein aktueller Romanauszug in Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .