„Wir befinden uns im Jahr 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die römischen Legionäre…“ Denn die zähen Gallier wie der schlaue Asterix, sein Wildschwein liebender Kumpel Obelix, der auf einem Schild herumbugsierte Dorfchef Majestix oder der schräge Lieder trällernde Barde Troubadix, sie alle sind bei den Römern für viele blaue Augen, Prellungen und zerschlagene Knochen verantwortlich. Das Geheimnis ist der Zaubertrank des Druiden Miraculix, der in seinem Kessel allerlei Kräuter und Substanzen zusammenrührt. Doch alles Brauen und Beschwören würde nichts bringen ohne die wichtigste Zutat, die dem Zaubertrank erst seine Macht verleiht: Die Mistel.
Eine Parasit mit magischen Eigenschaften
Die Mistel (Viscum album) ist Botanikern vor allem als immergrüne Pflanze mit ledrigen, paarweise gegenüberstehenden Blättern bekannt, die bevorzugt auf Bäumen oder Sträuchern „klebt“ und dadurch auch als sogenannter Halbschmarotzer gilt, da sie Nährstoffe und Wasser von ihrem Wirt abzweigt. „Viscum“ hat im Lateinischen zudem die Bedeutung Leim. Vögel, wie beispielsweise die Misteldrossel, fressen den Samen der Pflanze. Durch den Kot gelangt dieser zum nächsten Wirt, kann sich dort also gewissermaßen „festleimen“ und zu einer neuen Mistel heranwachsen. Der Saft von Mistelbeeren ist zudem zähflüssig und wurde in der Römerzeit für den Vogelfang genutzt. Dazu bestrich man Ruten mit dem klebrigen Sekret. Das Wort „Viskosizität“ (Zähflüssigkeit, von „viscosus“ > „klebrig“) hat hier seinen Ursprung.
Obwohl sie parasitär leben, sind Misteln durchaus wählerisch, was ihre Wirte betrifft. Generell findet man Mistel auf Laubbäumen wie Pappeln, Apfelbäumen, Linden oder Weiden. Allerdings gibt es durchaus Arten, die sich auch auf Kiefern und Tannen heimisch fühlen. Als besonders „magisch“ gilt die Eichen-Mistel. Sie soll dem Volksglauben nach besonders wirksam gegen Epilepsie (Fallsucht) sein, aber auch gegen Krankheiten bei Kindern wirken. „Die gegen Epilepsie verwendete Mistel muß zu Weihnachten gesammelt werden. Nach Paracelsus wird derjenige, der immer eine Eichen-Mistel in der rechten Hand trägt, niemals von der Epilepsie befallen.“ (Handwörterbuch, Bd. 6, Sp. 390f.)
Misteln gelten als langsam wachsend. Nach etwa fünf Jahren blühen sie zum ersten Mal und haben sie erst einmal ihre typische Kugelform erreicht, können sie bis zu dreißig Jahre alt werden. Seit der Antike ist die Mistel als Zauber- und Heilpflanze bekannt. Misteln im Stall oder im Haus aufgehängt sollen gegen böse Geister schützen und das Heim vor Unglück bewahren. Zudem hilft die Pflanze gegen Wetterzauber und gegen Impotenz (die von Hexen herbeigeführt wurde, versteht sich). Trägt man einen Teil einer Mistel als Amulett, so soll dies Glück bringen. Denn, obwohl die Mistel in ihren Stängeln und Blättern Giftstoffe enthält (besondere Vorsicht ist hier für Katzen, Hunde oder Pferde geboten), ist sie im Grunde eine Glückspflanze.
Mistel und Mythologie
Die giftige Wirkung der Mistel wird in der Baldersage der Snorra-Edda (oder Prosa-Edda) beschrieben, eine der wichtigsten Quellen altnordischer Mythologie und Dichtung. Balder, der „reinste und edelste Gott“ träumt von seinem Tod. Daraufhin schlägt sein blinder Bruder Höd vor, alle Dinge und Wesen sollen schwören, ihm nichts anzutun. Dem Ersuchen kommen die Elemente, die Steine, die Bäume und die Tiere nach. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Die Mistel. Als Höd, auf Betreiben des Tricksters Loki, einen Mistelzweig nach Balder wirft und ihn trifft, stirbt dieser, wobei sich Parallelen zur Siegfried-Sage förmlich aufdrängen. Auch Unverwundbarkeit hat eben ihren Preis.
Eine der ältesten und wichtigsten Überlieferungen zur Mistel finden wir beim römischen Gelehrten Gaius Plinius dem Älteren in seinem um 77 n. Chr. entstandenen Werk „Naturalis historia“ oder Naturgeschichte. Darin erklärt er, dass die Druiden (die Priester der Gallier) nichts Heiligeres kennen würden als die Mistel (und den Baum, auf der sie wächst). „Nachdem sie unter dem Baume die gehörigen Opfer und Mahlzeiten veranstaltet haben, führen sie zwei weiße Stiere herbei, deren Hörner dann zunächst bekränzt werden. Der Priester, mit dem weißen Kleide angetan, besteigt den Baum und schneidet mit goldener Sichel die Mistel ab. In einem weißen Mantel wird sie aufgefangen. Dann schlachten sie die Opfertiere mit dem Gebet, die Gottheit möge ihre Gabe denen günstig werden lassen, welche sie damit beschenkt haben. In den Trank getan solle die Mistel alle unfruchtbaren Tiere fruchtbar machen und ein Heilmittel gegen alle Gifte sein.“ (Nat. hist. 24, 12)
Ob es sich bei der Verehrung der Mistel als Heil- und Schutzpflanze um ein spezifisch gallisches respektive keltisches Phänomen handelt, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Baum- und Mistelkult scheinen dabei Hand in Hand zu gegangen zu sein. Und da, wie bereits angedeutet, die Mistel zudem als apotropäische, d.h. Unheil abwehrende Pflanze aufgefasst wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die Mistelverehrung weiter zu Plinius‘ Lebzeiten zurückreicht. Misteln sagte man beispielsweise nach, dass sie vor Blitzen schützen und sogar Feuer löschen könnten.
Küsse und Schätze
Mit der Mistel assoziieren wir heute vor allem den weihnachtlichen Kuss unter dem Mistelzweig. Misteln als Weihnachtsschmuck sind vor allem in England Brauch. „No mistletoe, no luck“ lautet ein Sprichwort. Denn Misteln schützen nicht nur vor bösen Geistern, sondern auch vor Hexerei (daher auch die volkstümliche Bezeichnung als „Hexenbesen“). Und so galten und gelten Misteln denn auch, wie bereits erwähnt, als eine der Glückspflanzen schlechthin.
Neben dem dezemberlichen Fest der Liebe finden die Zweige u. a. bei Hochzeitsbräuchen Verwendung. Und dies nicht nur in England, sondern ebenso in Kontinentaleuropa wie der Schweiz, Frankreich oder Siebenbürgen. „Findet ein Mädchen eine Mistel auf einem Apfelbaum, so wird sie bald Braut.“ (Handwörterbuch, Bd. 6. Sp. 387) Neben dem Glück, symbolisiert die immergrüne Mistel auch Wachstum und Fruchtbarkeit. Auch auf Schienenfahrzeuge soll sich die Pflanze positiv auswirken. Angeblich kann ein Zug nicht entgleisen, wenn sich eine Mistel an Bord befindet. Ein Gedanke, der sich durchaus auf Automobile ausweiten ließe. Vielleicht würden Mistelzweige anstelle von Duftbäumchen für weniger Verkehrstote sorgen. Einen Testlauf wäre es allemal wert.
Auch mit verborgenen Schätzen wird die Mistel u. a. in baltischen und ostpreußischen Volkssagen in Verbindung gebracht. So sollen an jenen Orten, an denen Misteln wachsen, Schätze unter der Erde liegen. Zudem eignen sich Misteln auch zum Aufspüren von Kostbarkeiten ähnlich einer Wünschelrute. Die „goldene Zauberrute“ jedenfalls, die Aeneas, dem trojanischen Prinzen und Stammvater der Römer, im Vergilschen Epos den Zugang zur Unterwelt öffnet, ist häufig als Mistel interpretiert worden.
Ob nun Glücksbringer, Heilpflanze, Deko oder Garant für Küsse die Mistel ist unter den Pflanzen ein wahrer Alleskönner und obendrein vor allem zu Weihnachten noch hübsch anzuschauen. In diesem Sinne wünscht das Team vom MYTHO-Blog allen Leserinnen und Lesern ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest und geruhsame Feiertage.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweise:
Die Naturgeschichte des Caius Plinius Secundus. Bd. 2. Marixverlag: Wiesbaden, 2007.
Gerhard Madaus. Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Bd. 3. Georg Olms Verlag, Hildesheim/New York, 1978.
Hans Bächthold-Stäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 6. Du Gruyter: Berlin, 1987.
Reiner Tetzner: Germanische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt. Reclam: Stuttgart, 2015.
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