Hören wir den Begriff „Slawen“, denken die meisten vermutlich an Gebiete wie Tschechien, Polen, die Länder des Balkans oder an Russland, kurzum, man assoziiert damit in gewisser Weise den „Osten“. Wobei es „den Osten“ als konkreten Ort ebenso wenig gibt wie „die Slawen“ als eine einheitliche Ethnie. Allenfalls lassen sich Letztere als regionales Unterscheidungsmerkmal in Süd-, Ost- und Westslawen unterteilen. Dabei sind es die kulturellen und mythologischen Zeugnisse der westslawischen Stämme der Germania Slavica, die man zwischen den Flüssen Elbe und Oder respektive dem Kap Arkona auf Rügen und den Lausitzen (Oberlausitz/Niederlausitz) verorten kann, denen der Slawist Hans-Christian Trepte im unter dem Buchstaben „S“ erschienenen Band der Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ eine intensivere Betrachtung widmet.
Im Zuge der Ostexpansion des Reiches wurden seit dem 10. Jahrhundert weite Gebiete jenseits der Elbe (u. a. ausgehend von den Bistümern Merseburg, Meißen und Magdeburg) christlich missioniert. Dabei verloren die westslawischen Stämme (mit Ausnahme der Sorben) Identität, Sprache und Kultur, was vielleicht auch an ihrer geografischen Zwischenlage gelegen haben mag: im Osten des Westens und im Westen des Ostens. „Von Rom aus gesehen schienen sie sich gleichsam am Ende bzw. an den Rändern der christlichen Welt zu befinden. Dem entsprach auch die Vorstellung des gen Osten wie Westen blickenden Janus, fast jede ostmitteleuropäische Gesellschaft weist ein solches Doppelgesicht auf.“ (S. 8)
Nicht allein doppel-, sondern auch dreigesichtig (vermutlich ausgehend von der Dreiteilung der Welt in Himmel, Erde und Unterwelt – eine Vorstellung, die bereits bei prähistorischen Schamanen verbreitet war) und bis auf eine Ausnahme männlich präsentiert sich denn auch die slawische Götterwelt. Da wären zum Beispiel Triglaw (auch der Name des höchsten Berges Sloweniens), eine Erscheinungsform des obersten Gottes Perun (der slawische Zeus) und sein Gegenspieler Weles, Gott des Viehs, der Magie und der Unterwelt. Die slawische Mythologie beruht auf der Dualität, sowohl in der gegenseitigen Auseinandersetzung als auch bei der Schöpfung. „Savarog, der Gott des Himmels, soll Weles (Veles), den Gott der Unterwelt, aufgefordert haben, Sand vom Grunde des Meeres zu schöpfen, den Svarog dann über die Meersoberfläche verteilte und der sich dort in fruchtbares Land verwandelte. Die im Mund verbliebenen Sandkörner spuckte Weles aus und schuf damit seine eigene Erde, unfruchtbares Land und schroffe Berge.“ (S. 25)
Besonders spannend zu lesen war für mich neben der detailierten Einleitung in die Götterwelt auch das Kapitel über die sorbische Mythologie, vor allem, weil der Autor an diesem Beispiel den äußerst dynamischen Prozess der Transformation von Mythen als auch die Imaginierung von Mythen zum Identitätserhalt auf sehr anschauliche Weise verdeutlicht. Dieser Bogenschlag zwischen dem Heute, das die Welt aktuell vor vielfältige Herausforderungen stellt, und den historischen Hintergründen sowie die Verflechtung mit unbekannten wie auch bekannten Erzählungen (so u. a. dem Krabat) sind eine der großen Stärken des Buches.
Apropos Krabat, um den sich zahlreichen Geschichten ranken und der vor allem durch den Jugendroman von Ottfried Preußler ein hohes Maß an Popularität erfuhr: Der Name ist vom Kroatischen Hrvat entlehnt und besitzt in dem aus Zagreb stammenden Obristen Jan (Johannes) von Schadowitz (1624-1704) sogar ein historisches Vorbild. Was dieses mit Magie zu tun hat – immerhin sagt man dem Krabat nach, ein Zaubermeister zu sein – ist bei Hans-Christian Trepte trefflich nachzulesen. Hinzu kommen ein Kapitel zum Neopaganismus, die Frage nach einer allgemeinen slawischen Mythologie sowie ein Exkurs über den 2018 erschienenen historischen Roman „Sudička“ des Schriftstellers Dieter Kalka, der die Geschichte und die Mythologie der Westlawen in den Blick nimmt. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis rundet den Band ab. Eine informative, spannende und kurzweilig geschriebene Lektüre, welche eine Kultur und Mythologie beleuchtet, die für Mitteleuropa ebenso prägend gewesen ist wie die römischen und nordisch-germanischen Einflüsse und sehr viel beizutragen hat zu den Fragen unseres Werdens und Gewordenseins.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.