Kleines Mythologisches Alphabet: Nachts(ch)icht. Berichte aus dem Dunkel

Bereits seit 2016 erscheint im Leipziger Verlag Hamouda die Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet„. Diese schön gestaltete Buchreihe orientiert sich an den Buchstaben des Alphabets Mythologica. Von A wie Australien (bereits erschienen) bis Z wie Zauber sollen mythische Hinter- und Untergründe aufgedeckt und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.

Der Buchstabe N widmet sich den Mythen der Nacht. Dies ist gewiss ein weites Feld, und dass die kleinformatigen Bändchen von jeweils etwa 100 Seiten Umfang keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, versteht sich von selbst. Vielmehr wollen die hier versammelten Essays Interesse wecken und neugierig machen, mythologische Stoffe, die sich mit dem Thema „Nacht“ beschäftigen, näher kennenzulernen. Und – so viel sei vorweg genommen – dies gelingt hier auf leichte, fast spielerischen Weise. Die Lektüre regt an, in zahlreiche Aspekte nächtlicher Mythen einzutauchen. Das Dunkel fasziniert und schreckt die Menschen von jeher. Was ist sie nicht alles, die Nacht: schaurig schön, geheimnisvoll und düster, oft voller Schrecken und dann doch wieder still und sogar heilig. Ängste und Geheimnisse wurden und werden besonders gern mit der Nacht verbunden.

In sieben Kapiteln, Essays und literarischer Kurzprosa, wird in diesem Buch ein Panorama aufgezeigt, in das man gern noch viel tiefer eintauchen möchte. Die Autorinnen und Autoren verkörpern ein ebenso breites Spektrum wie der Gegenstand ihrer Textbeiträge: Vom leibhaftigen Nachtwächter, der einlädt, Leipziger Stadtgeschichte und Stadtgeschichten kennen zu lernen, über Wissenschaftlerinnen bis hin zum Schriftsteller, dessen Nachtstücke den Leser nachdenklich zurücklassen.

Die Ethnologin Christine Schlott führt in archaische Vorstellungen ein, die sich keineswegs auf die europäische Antike beschränken. Sie spürt Gemeinsamkeiten nach, die sich in den verschiedensten mythischen Vorstellungen zur Beschaffenheit bzw. Wesenheit der Nacht finden lassen. Ihre Überlegungen führen sie hin zum Unheimlichen, das immer schon mit dem Nächtlichen verbunden war und schließen mit einem Exkurs zu Romantik, Toten- und Auferstehungsmythen in Literatur und Film der Moderne.

Unter dem launischen Titel „Eine kleine Nachtphysik“ bringt der Physiker Karl-Peter Dostal die Sicht des Naturwissenschaftlers ein. Hier kommen zwar naturgemäß auch Zahlen ins Spiel, aber der Text ist alles andere als „trocken“. Dostal beschäftigt sich unter anderem mit nächtlichen Leuchterscheinungen im Sonnensystem, stellt die spannende Frage, inwieweit wissenschaftliche Theorien letztlich auch mythische Stoffe sind, solange jedenfalls wie sie physikalisch nicht bewiesen werden können und blickt abschließend in die Zukunft.

„Nun fällt die Nacht“, der vielleicht anregendste Text dieser Sammlung ist zurecht an zentraler Stelle im Buch angeordnet: Der Essay der Historikerin und Germanistin Constance Timm schafft eine Verbindung zwischen literarischen und philosophischen Aspekten und bindet wissenschaftlich orientierte Beiträge ein. Die Autorin schlägt hier einen weiten Bogen von Wolfgang Hilbigs nächtlichem Schreiben hin zu Friedrich Nietzsches Nachtgedanken, gelangt zur Religion und von dort – unter Bezug auf Goethes Faust – wieder zurück zur Literatur. Es ist der vielleicht anregendste Text dieser Sammlung, weil er so vieles öffnet, ohne es vorschnell wieder zu schließen: Die Nacht als produktive Zeit, als quälender Übergang, als Abwesenheit des Lichts, als Zeit und Ort ritueller Kulthandlungen und Geisterbeschwörungen.

Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Klabunde beschäftigt sich anschließend mit den besonderen Aspekten der Nacht im Spätmittelalter und der Reformationszeit. Dabei geht es nicht nur um metaphorisches Dunkel im religiösen Denken, sondern auch um das tatsächliche Dunkel in den nächtlichen Straßen der Städte jener Zeit. Christoph Sorger, Autor und Übersetzer, lädt ein zu einer „romantischen Initiation“. Mit Bezugnahme auf die besondere Bedeutung des Motivs der „Nacht“ für die Romantik begibt er sich auf die Spuren Georg Philipp Friedrich von Hardenbergs, jenes Dichters, der unter dem Namen Novalis u. a. mit seinen Hymnen an die Nacht berühmt wurde.

Ein rein literarisches ist das abschließende siebte Kapitel: „Nachtstücke und Träume“ sind die Kurzprosatexte des Leipziger Schriftstellers Thomas Böhme überschrieben. Sie erzählen auf verstörende Weise von einer Welt, in der alltägliche Szenen von einem Augenblick zum anderen ins Unheimliche, schwer zu Deutende umschlagen. Und ist dies nicht gerade eine Eigenschaft, die der Nacht seit jeher zugeschrieben wird?

N wie Nacht – das handliche Büchlein führt die Leser mitten hinein in eine Vielzahl nächtlicher Mythen, in Träume und Visionen, in Dichtung und Wissenschaft. Jedes der sieben Kapitel vermittelt auf anschauliche Weise Erkenntnis, macht Lust darauf, mehr zu erfahren, tiefer in die hier angesprochenen Aspekte vorzudringen und nicht zuletzt auch auf weitere Bände des Kleinen Mythologischen Alphabets neugierig zu bleiben.

Ein Beitrag von Jörg Jacob


Literaturhinweis:

Constance Timm (Hrsg.): Nachts(ch)icht. Berichte aus dem Dunkel. Kleines Mythologisches Alphabet. Edition Hamouda, Leipzig 2016.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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