In Indien bekannter als Goethe: der Orientalist Friedrich Max Müller

Als ich das erste Mal nach Indien kam, sagte man mir, es gebe dort keine Goethe-Institute. Die Häuser zur Vermittlung deutscher Sprache und Kultur hießen dort vielmehr Max-Muller-Häuser. Ich war etwas verdutzt und ließ mir erzählen, dass dieser Muller sehr wichtig für Indien gewesen sei. Wenn nun indische Bekannte nach Deutschland, gar Leipzig kommen, sind sie wiederum sehr erstaunt, ja enttäuscht, dass niemand hier diesen Muller, also Müller kennt! Es gibt halt so viele Müllers in Deutschland, dass man ein Frankfurt am Main damit füllen könnte. Warum hat er sich auch keinen anständigen Doppelnamen wie Müller-Lüdenscheidt zugelegt – wir würden uns alle an ihn erinnern.  Der Name hat ihn hierzulande also mehr oder weniger zunichte gemacht, nicht aber in England, wo er leben sollte, oder in Indien, dessen Kultur er liebevoll erforschte. Denn dieser Friedrich Max Müller war einer der ganz großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Er war einer der berühmtesten Professoren für Sanskrit und Religionsgeschichte in Oxford. Königin Victoria lud ihn als Kapazität öfter nach Windsor Castle ein, als sie Kaiserin von Indien geworden war. Ihm wurde auch der Auftrag erteilt, die dritte Strophe der britischen Nationalhymne ins Sanskrit zu übersetzen, er erhielt die höchsten Orden der Wissenschaft.

Friedrich Max Müller (1823-1900) hatte immer großartige Verbindungen. Gebürtig aus Dessau, seine Mutter stammte aus der Familie Basedow (der Reformpädagoge, während nach ihrem Bruder die Schilddrüsenerkrankung benannt ist). Der Vater war ein gefeierter Dichter, Wilhelm Müller, auch der Griechenmüller geheißen, aufgrund seiner Begeisterung für Griechenland. Heine schätzte ihn als einen der größten Lyriker, Schubert und viele andere vertonten ihn. Ihm verdanken wir zum Beispiel die Zyklen Die schöne Müllerin (darin: „Das Wandern ist des Müllers Lust“) und Die Winterreise. Er starb früh und man schickte den kleinen Max nach Leipzig, wo er an der renommierten Nikolaischule lernte, in der schon Lessing und Leibniz oder Seume und Wagner gesessen hatten. Wo er hinlangte, war er der Beste, vor allem in Latein und Griechisch. Als er 1900 starb, sagte der damalige Leiter der Nikolaischule, diese Schule habe zwei Genies hervorgebracht, nämlich Leibniz und Müller. Müller reichte die Altphilologie bald nicht mehr, es war für ihn „abgestandener Kohl“, und er begann Arabisch, Persisch und Sanskrit zu lernen. Die Universität Leipzig bekam gerade die erste Professur für Indologie/Orientalistik mit Hermann Brockhaus, dem Sohn des berühmten Verlegers. Hier setzte Müller zum Sprung an in die Welt des alten Indien. Aber zuvor duellierte er sich und nahm an allerhand studentischen Streichen teil (Mieten aller Droschken auf einen Schlag, so dass keiner mehr fahren konnte und ähnliches). Zwei Tage saß er im Gefängnis, weil er einer verbotenen Burschenschaft anzugehören schien. Als man ihm das Stipendium streichen wollte, stellte sich sein Rektor vor ihn: ach, es gibt so viele Müllers, ich weiß nicht, wen Sie meinen …

Wichtiger war jedoch seine Teilnahme am musikalischen Leben der Stadt; er war Mendelssohn-Bartholdy freundschaftlich verbunden, kannte Liszt und Schumann und musizierte selbst so, dass er fast eine Karriere als Musiker ins Auge gefasst hätte. Schließlich blieb er dabei: altindische Philosophie und Literatur zu studieren.

Wie war dieser junge Dessauer aber dazu gekommen? Er hatte als Schüler ein Heft vor sich liegen mit Bildern vom Ganges und badenden Indern. Im Unterricht verfiel er dabei ins Träumen. Der Lehrer bemerkte es und gab ihm als Strafe auf, viele Seiten zu schreiben, in denen Indien, der Ganges oder Benares vorkam: Eine Strafe, die ihn auf den Lebensweg brachte!

Der begabte junge Student promoviert in Philosophie, geht nach Berlin (zum Philosophen Schelling, zum Dichter und Übersetzer Friedrich Rückert), nach Paris, um Sanskrit-Manuskripte zu studieren, schließlich in das Herz des Empire, London. Dort kann er sich in die Schätze versenken, die die Kolonialherren angehäuft haben, vor allem die alten indischen Veden, die Hymnen und heiligen Gedichte, die von den Brahmanen gesungen werden. Schließlich wird er Professor für vergleichende Religionswissenschaft in Oxford – und damit zu einer Koryphäe in der ganzen Welt. Nur eine Frau und Familie fehlen ihm. Eines Tages verliebt er sich in Georgina, die Tochter eines reichen Engländers. Der will partout nichts von Heirat wissen, und so werden die Liebenden auf Jahre hinaus getrennt. Müller entdeckt dabei seine literarische Ader wieder und schreibt einen Roman mit dem Titel Deutsche Liebe. Darin geht es um die halb-platonische Liebe eines jungen Mannes zu einer behinderten Fürstin. Das Buch sollte ein Erfolg in Korea werden, ansonsten fiel es dem Vergessen anheim. Eines Tages jedoch sehen sich Max und Georgina zufällig in einem Konzert wieder. Georgina fällt in Ohnmacht, man muss sie hinaustragen. Der Vater erkennt nun endlich, dass es keine Ausflucht mehr für ihn gibt: sie dürfen heiraten. Aus dem Melodrama wird eine gute Ehe, die jedoch vom Tod zweier Kinder überschattet wird.

Müller erringt in seinen Oxforder Jahren Weltruf. Mit seinem Backenbart und seinen Orden passt er vorzüglich in die Flora und Fauna der viktorianischen Gelehrtenwelt. Er ist die Autorität in Sachen Religion und Mythologie. Er wird so zu einem Vater der vergleichenden Mythologie, das heißt er untersucht die Verwandtschaft der Mythen zwischen Indien und Europa. Damit ist er indirekt sogar Namensgeber des Leipziger Arbeitskreises, der diesen Blog betreibt.

 Für die Sprachen von Sanskrit, Persisch bis Englisch, Deutsch und Spanisch sowie für die Mythen entlang dieser sprachlichen Achse verwendet er das Wort „arisch“ (im Sinne von indoeuropäisch).  Als dieser Begriff jedoch zunehmend rassistisch eingesetzt wird, distanziert er sich von solchem Missbrauch. Eine seiner Großtaten sind die 50 Bände Heiliger Schriften der Welt (aus Indien, China, Persien), die er teils selbst übersetzte und insgesamt herausbrachte. Große indische Denker besuchten ihn, etwa Swami Vivekananda, und waren tief beeindruckt von seinem Wissen und seiner Art. Als sich 1893 auf der Weltausstellung in Chicago zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit alle großen Religionen zu einem Gedankenaustausch zusammensetzten, da war Max Müller zwar aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei, aber es war gleichsam seine Lebensleistung, die sich hier widerspiegelte. Max Müller wollte, dass sich die Religionen der Menschheit auf Augenhöhe treffen und einen gemeinsamen Kodex erarbeiten. Er selbst hielt das Weltparlament für einen einzigartigen Augenblick der Geschichte. In Indien erinnert man sich an diesen Max Muller, von ihm fühlt man sich ernstgenommen, er war eine große Ausnahme in den Zeiten des Kolonialismus. In Leipzig erinnert man sich noch nicht an ihn, aber eine Plakette an der alten Nikolaischule könnte ja abhelfen.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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