„Ich grüße Dich du Haus der Nacht“ – Eine Zeitreise auf dem Leipziger Johannisfriedhof

Was haben ein 750 Jahre alter Steinlöwe, die Verlegerfamilie Reclam und der Komponist Johann Sebastian Bach gemeinsam? Nicht viel, könnte man meinen, bis auf die Tatsache, dass sie alle einen Bezug zur Stadt Leipzig besitzen. Auf den zweiten Blick sind sie indes sehr viel enger „verbandelt“, als zunächst ersichtlich ist, wenn auch stumm, posthum und auf gewisse Weise leider auch größtenteils vergessen, denn sie alle eint der Ort, auf dem sie immer noch oder zumindest zeitweise ihre letzte Ruhe gefunden haben: der Leipziger Johannisfriedhof.

Anstelle unseres altbekannten Lesespecials zur Buchmesse, welche die Stadt mit ihren Neuerscheinungen, Gesprächen, Verlagswerbungen und „Pop“-Nächten auch dieses Jahr in ein literarisches Tollhaus verwandeln wird, nutzen wir die Gunst der Stunde auf der Suche nach ein wenig Stille, Innehalten, Eindrücke ordnen und Geschichte atmen. Willkommen auf der Leipziger Friedhofsrunde (unter dem schaurig-schönen Titel „Leichen, Lepra, Luzifer“) mit Totenwächter Patrizius von Gruseltour Leipzig. Der Titel ist Programm, und man darf für ca. 1,5 Stunden freiwillig (oder als neugieriger Begleiter) in die metaphorische Rolle des Protagonisten aus dem Grimmschen „Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ (KHM 4) schlüpfen. Und dabei einen Hauch Leipziger Historie schnuppern. Ganz ohne Verwesungsgeruch.

Der österreichische Dichter Johann Ludwig Deinhardstein (1790-1859) reimte einst über den Leipziger Johannisfriedhof: „Ich grüße Dich Du Haus der Nacht mit Deiner schauerlichen Pracht!“ (Vgl. Blöthner, S. 99) Obwohl auf dem Areal heutzutage keine Bestattungen mehr stattfinden, lässt sich beim Besuch der Anlage erahnen, dass es sich hier um den ältesten noch erhaltenden Leipziger Friedhof handelt, dessen historische Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen; man bekommt auch einen Eindruck der früheren Pracht beim Betrachten der Grabkapellen, Schwibbögen, Reliefs, opulenten Figuren oder von Mauerdurchgängen, die architektonisch den Gang ins Jenseits symbolisieren sollten. Das Gelände ist zudem gespickt mit einzelnen Grabsteinen oder Denkmalen, die wie mehr oder minder verwitterte Zahnstumpen aus dem Rasen zu wachsen scheinen. Sie alle waren einst Teil des neuen Johannisfriedhofs. Aber Moment – Neu? Alt? – Um keine Verwirrung zu stiften eine kurze topographische Einordnung:

Der alte Johannisfriedhof, von dem in diesem Artikel die Rede ist, befindet sich hinter dem heutigen Grassimuseum am Leipziger Johannisplatz. Das gesamte Museumsareal, aufwartend mit Völkerkunde, Musikinstrumenten und angewandter Kunst, gehörte einst zum Ensemble eines außerstädtischen Leprosenhospitals (Johannishospital) mit Kapelle (vor 1399 dann Kirche St. Johanni) und Friedhofsgelände.

Den neuen Johannisfriedhof sucht man in realis derweil vergebens. An seiner Stelle befindet sich mittlerweile der Friedenspark im Zentrum-Südost, samt Spielplatz, Bänken und Wegen für den geruhsamen Sonntags- oder Feierabendspaziergang. Zwischen 1973 bis 1983 erfolgte die Umgestaltung des Friedhofs zum Erholungsort. Dafür wurden sämtliche Gräber und Gruftanlagen beräumt, verfüllt, eingeebnet bzw. aufgetürmt (der Rodelhang im Park beherbergt in seinem Inneren u. a. die Reste von Grabsteinen). Einige ausgewählte Stücke fanden, wie bereits erwähnt, ihre allerletzte Ruhe auf den Rasenflächen des alten Johannisfriedhofs. Und Ruhe ist denn auch das Stichwort. Obwohl die Anlage direkt an einer Leipziger Hauptverkehrsader – der Prager Straße – liegt und sich am Johannisplatz mehrere Straßen kreuzen, umfängt Besucherinnen und Besucher beim Betreten des Geländes eine angenehme Stille, als sei der Ort aus der Zeit gefallen. Man ist einfach nur im Jetzt, ist Beobachter, Spaziergänger, Anwesender, Sterblicher und sich der eigenen Endlichkeit auf eine melancholische, aber nicht schmerzvolle Weise bewusst.

Aber zurück zum Rundgang. „Bevor der 1279 neben dem gleichnamigen Hospital [geweiht dem Bußprediger Johannis dem Täufer] angelegte Johannisfriedhof im Jahre 1536 vom Rat als alleiniger Begräbnisplatz der Stadt Leipzig bestimmt wurde, hatten die Bürger ihre Toten in den Kirchen und Klöstern, auf den städtischen Friedhöfen sowie in der Nähe der Hospitäler beigesetzt. Alte Leipziger Begräbnisstätten waren der Nikolai-, Thomas-, Pauliner- und Neukirchhof, der Spitalsfriedhof am alten Georgenhause sowie der Friedhof des Lazaretts vorm Rosental. Infolge der Sitte, diese Friedhöfe immer wieder neu zu belegen, sind Grabfunde aus frühdeutscher bis spätmittelalterlicher Zeit in Leipzig und überhaupt in Sachsen sehr selten.“ (Blöthner, S. 99f.)

Aufgrund einer latenten Gefahr von Seuchen spielten seit dem 15. Jahrhundert Hygienemaßnahmen in den Städten zunehmend eine Rolle. Heinrich Stromer von Auerbach (1476-1542) – Professor und Rektor der Leipziger Universität, Ratsherr und Leibarzt verschiedener Fürsten, u.a. des albertinischen Herzogs Georg des Bärtigen sowie Gründer des legendären Leipziger „Auerbachs Keller“ – verwies in seiner Schrift Saluberrimae adversus pestilentiam observationes (Heilsame Betrachtungen gegen die Pest) auf die Gefahren von giftiger Luft durch verwesende Leichname hin. Mit Ausnahme einiger Erbbegräbnisse (u.a. in der Paulinerkirche) legte eine neue Begräbnisordnung im Jahr 1536 (eine erweiterte Fassung erschien 1543) fest, dass sämtliche Bestattungen „auf dem Gottesacker des Hospitals St. Johannis vor dem Grimmaischen Tore vollzogen werden“ mussten. (Vgl. Timm, Geschichte, S. 123) Bis ins 17. Jahrhundert erfuhr die Nekropole daher zahlreiche Erweiterungen und ist gleichzeitig auch architektonisch Ausdruck des Wohlstands der Stadt geworden. Bis zu 353 Schwibbögen und weitere künstlerisch mehr oder weniger aufwändig gestaltete Grabanlagen sollen dem Ort eine morbide Schönheit verliehen haben, die sich gut und gern mit den berühmten Pariser Cimetières vergleichen ließ. (Vgl. Blöthner, S. 100) Schon Johann Wolfgang Goethe bezeichnete Leipzig nicht ganz unbegründet als ein Klein-Paris.

So weiß der Leipziger Apotheker Elias Weidemann im Jahr 1647 über den Johannsfriedhof folgendes zu berichten: „Der Gottesacker war mit hohen Mauern, Dächern und Schwibbogen um und gar zierlich angebaut und schönen und herrlichen Epitaphien aus Marmorstein, Holzwerk und Malwerk mit biblischen Gemälden, Sprüchen, Figuren, Historien und anderen Gemälden, von Bildhauern, Malern und Künstlern herrlich geziert. Die edlen Geschlechter, welche längst abgestorben, die hat man nebst ihren rühmlichen Taten und Herkommen, mit ihren alten Gebräuchen, Trachten, Kleidungen und anderen Monumentis allda finden können. In Summa, dieser Leipziger Gottesacker ist so wohl erbaut gewesen, dass wenn fremde Nationes und Völker alhero kommen, sie denselben als ein Wunder angeschaut, und ist dergleichen Gottesacker an Zierrath, Gebäuden und Gemälden im ganzen Römischen Reiche nicht zu finden gewesen.“ (zitiert nach Brauns, S. 121) Inwieweit Weidemann hier zur Übertreibung neigt, kann freilich nicht mehr überprüft werden. Vor allem die Leipziger Völkerschlacht von 1813 hat der Opulenz von St. Johannis ein Ende bereitet. Der Friedhof diente damals als Gefangenenlager, was bedeutete, dass Grüfte aufgebrochen wurden und als Schlafstätten dienten. Aus Särgen wurde Feuerholz gemacht. „In den Grüften lagen die Leichen aus den Särgen geschüttet mit grinsenden Schädeln umher, inmitten mancher hinabgestürzte Soldat, der da unten seinen Geist ausgehaucht hatte“, so der Bericht des damaligen Totengräbers Johann Ahlemann. (Vgl. Gretzschel, S. 49f.)

Staunend und beklemmend muten viele weitere Geschichten an. Auf der Friedhofstour machen wir u.a. am Grab der Verlegerfamilie Reclam halt, das an einen riesigen Sakopharg erinnert, dem man ansonsten wohl weder einen ersten noch einen zweiten Blick gegönnt hätten. So ist das mit Namen und mit Steinen, sie sind zwar Teil des Jetzt und gehören irgendwie doch nicht dazu. Und die Namen, die noch lesbar geblieben sind, können von uns Gegenwärtigen nur noch selten sofort in die dazugehörige Geschichte verwandelt werden. Ein Beispiel bildet das Grab von Wilhelm His (1831-1904). Dieser stammte aus der Schweiz und war Anatom und Mitbegründer der Embryologie. Trotz seiner wissenschaftlichen Erfolgen ist er aber bis heute deswegen nicht Vergessenheit geraten, weil er maßgeblich an der Identifizierung der Gebeine von Johann Sebastian Bach beteiligt war. Dass sich Bachs Grab auf dem Johannisfriedhof befunden hatte, galt als bekannt. Nur der genau Ort war unbekannt. Sogar sein Komponistenkollege Robert Schumann hatte erfolglos danach gesucht. Im Jahr 1894 exhumierte man nun aufgrund von Umbauarbeiten des Areals einen Eichensarg, bei dem vermutet wurde, dass es sich um den Sarg des Gesuchten handeln müsse. Das Gutachten des Anatomen His bestätigte dies. Doch herrscht immer noch Uneinigkeit darüber, ob es sich tatsächlich um Bachs Gebeine handelt, welche nach einer erneuten Bestattung in der Johanniskirche im Jahr 1950 schließlich in die Thomaskirche überführt wurden. Eine Rekonstruktion von Bachs Schädel (angefertigt vom Lithographen Carl Ludwig Seffner, 1861-1932) liegt hinter einem schützenden Netz im Stadtgeschichtlichen Museum des Alten Rathauses verborgen.

Das letzte Geheimnis behalten die Toten am Ende also doch selbst, wiewohl es bei ihnen noch die eine oder andere Geschichte zu erzählen gibt. Von Anna Katharina Kanne (Käthchen Schönkopf), Goethes Leipziger Studentenliebe vielleicht, von Richard Wagners Mutter Rosina, vom Verleger Karl Tauchnitz oder der Schriftstellerin und Mitbegründerin der Frauenbewegung Louise Otto Peters.

Trotz oder gerade wegen der Konfrontation mit dem Tod sollten man die Zeitreise nicht scheuen. Und für allzu große Angsthasen wartet am Ende des Gruseltour-Rundgangs der alte Leipziger Steinlöwe, bei dem ein Wünscheritual Abhilfe gegen Beklemmung schafft und uns alle daran gemahnt, dass Tod und Leben zusammengehören und wir vor allem letzteres viel bewusster genießen und es feiern sollten. Vielleicht mit einem neuen Buch von der Leipziger Buchmesse.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Literaturhinweise:

Alexander Blöthner. Magische Orte in Leipzig und Umgebung. Sagen, Mythen, Legenden und Altertümer, Vorzeitliche Flurnamen und Fundstätten, Heidnische Kult- und Kultverdachtsplätze. Bd. 1. Das Stadtgebiet von Leipzig mit seinen alten und neuen Vororten. 4. Aufl. Tannhäuser, Plothen 2021.

Gustav Brauns (Hg). Leipzig in seiner Vergangenheit und Gegenwart. Eine Darstellung sämtlicher Denkwürdigkeiten der Stadt Leipzig in ihren äußeren und inneren Verhältnissen. Leipzig 1847.

Matthias Gretzschel. Stille Winkel in Leipzig, Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2009.

Constance Timm. Geschichte im Wandel. Das Dominikanerkloster und die Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig. edition vulcanus, Leipzig 2015.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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