Hierophanie und Hieromanie. Anmerkungen zum Tiertotemismus

Es war das große Verdienst des Sudanforschers und Kunsttheoretikers Fritz W. Kramer, in „Der rote Fes“ die kulturkonstituierende Kraft der Fremdwahrnehmung für die heutige deutschsprachige Ethnologie zum Bewusstsein gebracht zu haben. Während in der rationalistischen Fachtradition die Daseinsbewältigung, der „Stoffwechsel mit der Natur“ (Karl Marx) zur Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse (Bronislaw Malinowski) im Zentrum stand, versuchte Kramer die – oft erschreckende – Begegnung mit Fremdheit als immer sprudelnde Quelle emotionaler wie geistiger Produktivität herauszuarbeiten, ein Verhältnis zum „Anderen“, das dank seiner Asymmetrien und Ambivalenzen die menschliche Kultur in fortwährender Unruhe hält.

Die erste Ebene für derartige Fremderfahrungen ergibt sich nach Kramer in der Begegnung mit dem Tier – in den Jahrzehntausenden des Paläolithikums noch eher in Augenhöhe als von oben herab –, das sich in der Menschwerdung tief eingeprägt hat und als Grundschicht jene älteste Religion hervorbrachte, die die frühen Ethnologen Totemismus genannt haben. Wie bei allen Erscheinungen des Unkontrollierbaren bewältigte der frühe Mensch auch die Begegnung mit dem Tier durch Heiligsprechung; das Tier ist die Hierophanie auf vier Beinen, näher dem schauenden und reflektierenden Zweibeiner als die Pflanze, der Himmel oder die Steine, aber doch ebenso unverständlich und rätselhaft, selbst wenn es keine Gefahr mehr darstellt. Wie bei seinen expressionistischen Vorgängern Frobenius und Jensen sieht der „Neoexpressionist“ Kramer in der ergriffenen Nachahmung, wofür er den Mimesis-Begriff des Marburger Romanisten und Emigranten Erich Auerbach (1892-1957) fruchtbar macht, die typische Auseinandersetzung mit der fremden Erscheinung. Solange eine rationale Bewältigung mit ihr nicht möglich ist, wird die irrationale Abbildung versucht, in der Tiermaske, im Vogelkleid, im Nachahmen von Lauten und Gebärden der unverständlichen Zeitgenossen, vor allem im Tanz, der damit vor allem aus dem Schrecken geboren sei. Kramer nennt es „Fremdgeistbesessenheit“, wenn durch ernsthafte bis heitere Mimesis sich ein Austausch über Verständnisgrenzen hinweg anzubahnen scheint, der aber weniger dialogische als magische Züge verrät. Die Hierophanie wird zur Hieromanie, wenn der der Übermacht Erlegene ihren Geboten zu folgen scheint und Raserei als Ausdruck innigster Ergriffenheit allgemeine Akzeptanz erfährt. An diese breite Kulturtradition, in der der Mensch das Tier darstellt, weil er mit ihm nicht anders zurande kommt, bis hin zum Abgesang des Totemismus bei Claude Lévi-Strauss und der überraschenden Wiederkehr des Verdrängten im gegenwärtigen Dilemma, soll im Folgenden erinnert werden – im Sinne einer ethnologischen Reflexion des großen Themas „Fabelwesen“, der betroffenen und deswegen kreativen und ausdrucksvollen Beschäftigung mit anderen Lebewesen und dem ernsthaften Spiel mit deren Anders- und Ähnlichsein, das Jorge Luis Borges schon einmal durch weltliterarische Umschau als „phantastische Zoologie“ zusammengefasst hat.

 Grundannahmen des Totemismus

 Modern gesprochen geht es im Totemismus um das Inklusion-Exklusion-Problem, also um die sich zu allen Zeiten und in allen Räumen aufdrängende Frage: Wer gehört zur „Wir-Gruppe“ und wer nicht. Dieser geschlossene Lebenskreis wird im vorwissenschaftlichen Denken als Verwandtschaft begriffen, die Brüderlichkeitsethik und bestimmte Tabus, z.B. Sexualtabus mit Exogamiegebot, vorschreibt. Wenn hier Pflanzen, Tiere und besondere Erscheinungen mit in das Kollektiv einbezogen werden, spricht man von Totemismus, weil die Algonkin-sprachlichen Ojibwa nördlich der Großen Seen mit „ototeman“ zum Ausdruck bringen: “Er gehört zur Wir-Gruppe.“

Wenn Nicht-Menschen eine derartige Nähe zugesprochen wird, setzt das eine bündnisfähige Natur voraus, welche die uns geläufige Trennung von Natur und Kultur in Frage stellt bzw. ganz außer Kraft setzt. Der Leipziger Missionar und Ethnosoziologe Bruno Gutmann (1876-1966) sprach von „nächstenschaftlichen Bindungen“, welche die Dschagga am Kilimandjaro auch mit nichtmenschlichen Wesen zu knüpfen und zu pflegen gelehrt bekommen. Die Freund-Feind-Linie durchbricht hier wie bei vielen Stammesgesellschaften die im modernen Denken tief eingegrabene Kluft zwischen Mensch und Natur, Geist und Materie. Es gibt Pflanzen, Tiere und Himmelskörper, die zum engsten Kreis zwischenmenschlicher Wahrnehmung, Tauschbeziehungen und Beistandsverpflichtungen gehören, während andere Wesen – Menschen wie Nichtmenschen – von diesen „urtümlichen Bindungen“ ausgeschlossen sind und zum Feindbild, Hassobjekt oder zur Gefahrenquelle werden.

Wenn wir nach den Präferenzen bei solch offenkundig künstlichen und konstruierten Primärbünden fragen, leuchten dem heutigen Denken die Antworten besser ein, die Mary Douglas und Claude Lévi-Strauss anboten: Es sind Außenverbindungen, die sich leicht denken lassen und die dem allgemeinen Bedürfnis nach Ordnung in der Vielfalt der Wesen entgegenkommen. Dem Entsprechen auch die Erklärungen der „Entdecker“ des Totemismus im rationalistischen 19. Jahrhundert, die die Bindungen an Tiere und andere Wesen dem Klan, dem Geschlecht oder dem Individuum zuordneten wie eine kategorisierende Namensgebung, die Zusammenhalt stiftet und Identifikation nach innen wie nach außen erleichtert. Bei Wilhelm Wundt (1832-1920), dem Vollender des kulturgeschichtlichen Evolutionismus, wurde der Totemismus dann einfach eine Zwischenstufe auf dem langen Weg zur Entfaltung des neuzeitlichen Gottesbegriffs: eine Höherentwicklung des primitiven Zauber- und Dämonenglaubens, aber eine Vorstufe der Helden- und Götterverehrung, lange bevor schließlich die „Humanität“ ihren Siegeszug antreten konnte: „Im totemistischen Zeitalter herrscht nicht der Mensch über das Tier, sondern das Tier über den Menschen.“

Wie aber lassen sich dann Tiertötungen erklären, auf die die Jahrtausende des jägerisch geprägten Paläolithikums angewiesen waren und auf die auch nach dem Siegeszug der Pflanzenkost im Neolithikum keinesfalls verzichtet wurde? An dieser Stelle gelangten Enzyklopädisten wie der “armchair anthropologist“ James George Frazer (1854-1941) oder der Afrikadurchstreifer Leo Frobenius (1873-1938) zu einem besonderen Verständnis vieler Kulthandlungen des archaischen Menschen: Er tötete, was er liebte und verehrte. Tiertöten ist Gotttöten mit allen sozialpsychologischen Konsequenzen. Jäger- wie Pflanzergesellschaften eint deswegen die Angst vor der Rache – der Afrika-Ethnologe Hermann Baumann (1902-1972) glaubte in der Rachemacht Nyama eine zentrale Gottheit der afrikanischen Mythologie erkannt zu haben. Der gesellschaftliche Zusammenhalt lässt sich dann mit Mörderbünden und Komplizenschaften vergleichen, ihre Kulte werden von Vorkehrungen geprägt, die vor der Rache der getöteten Götter, Tiere und Geister zu schützen haben. Dazu gehören Gebete, die die Schuld leugnen: „, Wir haben dich nicht getötet‘, versichern die kamtschadalischen Itälmen dem Bären, ‚die gewalttätigen Russen waren es.‘“

Bei den ebenfalls sibirischen Giljaken bekommt der getötete Bär sein eigenes Fleisch serviert – die Kommunion verbindet Täter und Opfer zu einer versöhnlichen Tischgemeinschaft. Es geht hier um den ältesten Tierkult der nördlichen Hemisphäre, der dem Bären, dem hier stärksten aller Raubtiere, gilt und der in ländlichen Strohbären und kindlichen Teddybären bis in die Gegenwart nachklingt. Die Bärenreligion der Nordhalbkugel vereint alle Aspekte der vormodernen Tierverehrung: die Angst vor der Übermacht, die Unterwerfung unter ihr Regime, ihre Aneignung durch Imitation, devote Pflege und sadistische Quälerei bis hin zum Göttermord als Gipfel. Töten ist im archaischen Verständnis oft Befreiung von Geistern. Für getötete Götter gilt das umso mehr.

 Die zauberhaften Bilderhöhlen der altsteinzeitlichen Jäger, oft als grandioser Beginn der Malerei gepriesen, deuten ebenfalls auf einen tieferen Sinn als Vermehrungshandlung hin. Gemeinschaftliche Treibjagden enden (auch heute noch) oft in Massentötungen. Die erfolgreichen Jäger waten in toten Tierleibern. Nach der Fleischorgie blicken die getöteten Tiere wieder von den Felswänden herab, erinnern an die blutige Begegnung und versprechen Fortsetzung des mörderischen Treibens. Die erwähnte Geisterfreisetzung hat sie, zumindest die grafisch begabten unter ihnen, in bildende Künstler verwandelt. Was sie physisch erfüllt bzw. gesättigt hat, drängt nun zum Ausdruck an der Steinwand. Der genannte Felsbildforscher Leo Frobenius formulierte den universalen Zusammenhang von Opfer und Täter in dem berühmten Satz: „Und außerdem folgt jeder Besitzergreifung eine Ergriffenheit durch den Besitz.“

Die Jäger haben sich der Tiere bemächtigt, sie getötet und aufgegessen. In der Folge sprechen die verzehrten Tiere aus ihren Schlächtern, sie verleiten sie zum Bilderschaffen, mit der sie vielleicht die „Herrin der Tiere“ besänftigen wollen, weil diese weltweit belegte Ur-Gottheit für das Jagdglück, für die Vermehrung des Wildes und für die jahreszeitlichen Wanderungen verantwortlich ist. Bleiben die Herden aus, greifen Hunger und Tod um sich. Die Jäger sind materiell wie spirituell dem Tier ausgeliefert; die fremden Mitlebewesen sind ihr ein und alles; Töten heißt Leben und Leben heißt Töten. Das ist das seit Anbeginn gültige Existenzband zwischen Tier und Mensch, das den Totemismus als Grundreligion hervorgebracht hat und über die Jahrzehntausende der Menschheitsgeschichte lebendig gehalten hat.

Der soziologische Aspekt dieser totemistischen Bewältigung von Daseinsnot betrifft aber die Selektion. Der auf das Töten angewiesene Mensch sondert aus dem Tierreich, wie auch aus dem Pflanzenreich oder anderen Teilen der außermenschlichen, doch immer beseelten Welt, bestimmte Arten aus und erklärt sie zu Verbündeten. Der Mord an ihnen wird zum Tabu erklärt, wie der Mord an Verwandten. Die somit ausgesonderten Tiere können ihre unheimlichen Züge behalten, sie werden aber durch mimetische Bearbeitung entschärft, im Tanz angeeignet, im Maskenkleid überhöht, in Erzählungen ausgemalt und werden zu Gemeinschaftssymbolen, d.h. „Zusammenwerfungen“ von Erschreckendem mit Vertrautem, wie es die Tausende von Mischwesen in der Weltkunst so eindrücklich dokumentieren.

Ein Beitrag von Prof. Bernhard Streck


Bernhard Streck ist Professor für Ethnologie i. R. und lehrte u. a. an den Universitäten Gießen, Berlin, Mainz und Heidelberg. 1994-2010 war er Leiter des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Religionsethnologie, Fachgeschichte, Ethnographie Nordostafrikas und Tsiganologie. Zahlreiche Publikationen, u. a. „Sudan – Steinerne Gräber und lebendige Kulturen am Nil“ (1982), „Wörterbuch für Ethnologie“ (1987/2000), „Die Halab“ – Zigeuner am Nil (1996), „Fröhliche Wissenschaft Ethnologie“ (1997).


Der vollständige Artikel inkl. Anmerkungen und weiterführender Literatur ist erschienen in:

Fabelwesen. Kleines Mythologisches Alphabet.  Constance Timm, Elmar Schenkel (Hrsg.). Leipzig, Edition Hamouda 2025. 


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie und Edition Hamouda

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