Halloween 3.0: „Köpfe werden rollen“

Im dritten Teil unseres diesjährigen Specials im Zeichen des Schaurigen, das sich bislang mit reitenden Toten sowie Folklore, Geistern und Kürbissen beschäftigt hat, sind wir nun den Mythen um Sleepy Hollow und dem Reiter ohne Kopf auf der Spur. Den meisten ist die Geschichte wahrscheinlich durch den 1999 erschienenen Film von Tim Burton mit Johnny Depp und Christina Ricci (und natürlich ebenfalls legendär: Christopher Walken als kopflosen Reiter) bekannt. 2013 bekam der düstere, märchenhafte und gleichzeitig skurril anmutende Film, der Grusel und den einen oder anderen Lacher perfekt kombiniert, Konkurrenz durch eine gleichnamige Serie. Dieses Sleepy Hollow (u. a. mit Tom Mison und Nicole Beharie in den Hauptrollen) verlegt die Handlung – per Zeitreise – in die Gegenwart und verbindet dabei Mysterie- und Krimihandlung in mittlerweile vier Staffeln.

Doch worum geht es überhaupt? Um Ichabod Crane natürlich! Jenen Charakter, den der amerikanische Schriftsteller Washington Irving (1783-1859) in seiner 1820 publizierten Erzählung The Legend of Sleepy Hollow (deutsch: Die Sage von der schläfrigen Schlucht) zum Leben erweckte. Den wenigsten dürfte bekannt sein, dass die literarische Vorlage ein reales Vorbild besaß. Ichabod Bennett Crane (1787-1857) verdingte sich sein Leben lang beim amerikanischen Militär. So kämpfte er u. a.  aktiv während des Zweiten Unabhängigkeitskrieges (1812-1815) in Kanada und war im Zuge des mexikanisch-amerikanischen Krieges (1846-1848) für die Rekrutierungen zuständig. Dass er der Figur einer Schauergeschichte seinen Namen lieh, dürfte indes dem Zufall geschuldet sein. Ebenso bleibt es Spekulation, ob Irving und Crane, die beide Zeitgenossen waren, einander je begegnet sind.

Also zurück zur Geschichte wie sie uns Hollywood präsentiert: „Köpfe werden rollen“. Der Untertiel des Films ist durchaus Programm. Ichabod Crane, Police Constable, Gelehrter und Fortschrittsgläubiger (und beseelt von einer Prise Sherlock Holmes) reist in den verschlafenen, abgeschiedenen und auch irgendwie unwirklich anmutenden Ort Sleepy Hollow außerhalb von New York, der von holländischen Kolonisten bewohnt wird, um dort einer recht eigenartigen Mordserie auf den Grund zu gehen. Man fand diverse Leichen von angesehenen Bürgern, die alle geköpft wurden, deren Köpfe aber nicht mehr auffindbar sind. Bereits die Eingangsszene, bei der ein Bewohner von Sleepy Hollow vor dem Mörder flüchtet, und die schließlich mit der Einblendung einer blitzumtosten, blutbefleckten, mit einem Kürbiskopf versehenen Vogelscheuche endet, taucht den Zuschauer in wohligen Grusel. An Blut, das manchmal den Anstrich von pinkfarbener Marmelade besitzt, wird nicht gegeizt. Und auch nicht an Klischees. Ichebod Crane in schwarzer Kleidung und dunkel-traumatischer Kindheit. Sein weibliches Pendant, Katrina van Tassel, obwohl hexerisch begabt, zumeist in unschuldigem Weiß. Dazu „young Masbeth“ oder der „einzige Masbeth“, dessen Vater vom Kopflosen erfolgreich seines Hauptes entledigt wurde und der schon bald zu Cranes Gehilfen avanciert. Dem Zuschauer, wie auch dem männlichen Protagonisten, der in schönster Tim-Burton-Manier mit unliebsamen Fragen und wüst aussehenden Untersuchungsapparaturen die Gesellschaft von Sleepy Hollow aufmischt, wird bald klar, dass ein System – also eine Verschwörung – hinter den Morden steckt. Der Reiter ohne Kopf sei schuld. Aber dieser tötet nicht wahllos, wie sich herausstellt, viel schlimmer, er wird von jemandem gelenkt, der weder Mythos noch Geist ist, sondern durchaus irdische Motive verfolgt.

Für all jene, die den Film noch nicht gesehen haben, sei an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Vielmehr soll es im Folgenden um den Mythos des Kopflosen Reiters gehen. Zum einen den cineastischen Mythos, wie der Film von Burton ihn präsentiert. Zum anderen, auf welche reale Mythen Washington Irving für seine Erzählung zurückgegriffen hat.

Ein Reiter – zwei Mythen

Man darf als Zuschauer wahrlich an einen Reiter der Apokalypse denken, wird man in feueruntermalten, martialisch-endzeitlich gehaltenen Bildern mit dem geisterhaften Übeltäter von Ichebod Cranes Fall konfrontiert. Der Kopflose, so wird es dem Ermittler berichtet, sei zu Lebzeiten ein hessischer Söldner gewesen, den eine deutsche Prinzessin in die nordamerikanischen Kolonien geschickt habe, um die Briten im Kampf gegen die Aufständischen zu unterstützen. Seine Grausamkeit sei legendär gewesen. Sein Markenzeichen bestand darin, dem Gegner in der Schlacht den Kopf abzutrennen. Um sein Aussehen seinem Ruf anzupassen, feilte er sich zudem die Zähne spitz. Der Teufel zu Pferde, so kommt dieses halb Mensch, halb Monster anmutende Wesen daher. Natürlich wird seinem Treiben ein Ende gesetzt und der Köpfende verliert selbst den Kopf. Allerdings haben seine Häscher unglücklicherweise den Fehler begangen, ihn auf spirituell aufgeladenem indianischen Boden zu begraben. Und so kann der Unhold – allerdings nur, wenn sich jemand in Besitz seines Schädels befindet – wiederauferstehen und erneut auf die Jagd nach Köpfen gehen. Ein dämonisches Wesen mit einer Mission, das seine Beute dann auch in einem Baum – dem Baum des Todes – hortet, der passenderweise gleich den Eingang zur Hölle bildet.

Soviel zur Filminterpretation. Der Mythos bzw. besser gesagt die Mythen über den Kopflosen Reiter oder den dullahan („dunklen Mann“), den jhinjhār oder den Headless Horseman, wie man ihn aus irischen, indischen, englischen oder amerikanischen Erzählungen kennt, sind – allen Ausnahmen zum Trotz – ein europäisches Phänomen. In Mittalter und Früher Neuzeit war das Enthaupten von meist männlichen Straftätern die gängigste Hinrichtungsart. Daher sind Sichtungen des Kopflosen Reiters und Geschichten über ihn ab dieser Zeit bekannt. Wer ihm begegnete, musste mit dem Tod oder aber mit einem zeitnahen Ableben rechnen. Im deutschen Sagenkreis konzentriert sich das „Erscheinen“ des Kopflosen vor allem auf das Rheinland, aber auch im Norden, in Sachsen oder in der Gegend um Braunschweig treibt er immer wieder sein Unwesen. Seine Zeit ist die Nacht. Er kann aus dem Nichts erscheinen oder aber einem Grab bzw. einer Gruft entsteigen. Dass er seinen Opfern während des Ritts die Köpfe abtrennt, ist indes nicht überliefert. Vielmehr gilt die Berührung seiner Hand als tödliches Omen. In den Bremer Sagen, herausgebeben vom Schrifsteller und Volkskundler Will-Erich Peuckert (1895-1969), berichtet eine Geschichte davon, dass eine Schar junger Leute einem Leichenzug begegnet, der aus kopflosen Geistern und auch Tieren besteht. Als ein Lebender von einem der Geister eine Ohrfeige erhält, stirbt er nach mehreren Tagen. Der Kontakt mit Wiedergängern, wie man die ruhelosen, umherstreifenden Gestalten von Verstorbenen bezeichnet, raubt dem Lebenden alle Lebenskraft. Von vielen Wiedergängern glaubte man, dass es Seelen seien, die wegen Missetaten im Leben oder aber wegen Selbstmord dazu verurteilt waren, nach dem Tod keine Ruhe zu finden und daher die Lebenden heimzusuchen, sie zu bestrafen, von Sünden abzuhalten oder die Aufklärung eines begangenen Unrechts zu fordern. Zudem findet sich in den Mythen um den Kopflosen Reiter etwas Wesentliches, das dem Film-Reiter fehlt: Er kann erlöst werden. Denn das Wiedergängertum fußt nicht allein auf dem Glauben, dass Geister einzig des Schadens willen umhergehen, sondern dass es sich um eine Buße handelt. Ein Gebet oder ein Gruß konnten also genügen, um die Strafe des Elenden zu beenden.

Eine besondere Form des Kopflosen Reiters ist der Kopflose Junker – vielerorts gedeutet als Wiedergänger eines Vergewaltigers, der während seines Lebens ungestraft blieb und dafür im Jenseits gerichtet wurde -, der in den Gebieten zwischen Rhein und Ruhr sein Unwesen getrieben haben soll. Ihm wird nachgesagt, er habe sich Mädchen und jungen Frauen, die des nachts unterwegs waren, genähert und sie an der Brust berührt. Im darauffolgenden Todskampf sahen die Opfer den dämonischen Bräutigam wieder. Die Verbindung zwischen toten und lebenden Geliebten findet sich u. a. auch in der Sage der Lenore wieder. Der Schriftstellers Gottfried August Bürger widmete dem Stoff eine bekannte Ballade.

In der irischen Mythologie treibt der dullahan ebenfalls in der Dunkelheit sein Unwesen, wobei er seines Kopfes nicht verlustig gegangen ist, sondern diesen stets bei sich trägt. Solange er reitet, ist er nicht gefährlich. Nur wenn er anhält oder mit Hilfe des Kopfes einen Namen ausspricht, bedeutet das Unglück oder Tod. Andere kopflose Gestalten, die im Gefolge des dullahan Schrecken verbreiten, können dagegen mit Gold vertrieben werden. Entweder wirft man ihnen eine Münze oder einen anderen Goldgegenstand in den Weg oder man trägt den entsprechenden metallenen Schmuck am Körper.

Der jhinjhār der indischen Mythologie, über den vor allem in Rajasthan (Nordwest-Indien) und Madhya Pradesh (Zentralindien) Geschichten erzählt werden, ist wiederum kein Schurke, der auf Opferjagd geht. Da er eines gewaltsamen und unrechtmäßigen Todes starb, beschützt er jene Lebenden, denen ebenfalls Unrecht und Todesgefahr droht.

Die Fülle der Kopflosen-Reiter-Mythen hat wohl zurecht nicht nur Tim Burtons Fantasie, sondern auch die seiner literarischen Vorlage, Washington Irving, beflügelt. Daher wollen wir nun, zurückkehrend nach Sleepy Hollow, der Geschichte um Ichabod Crane einen näheren Blick zuwenden.

Die Legende von der Schläfrigen Schlucht

„Gerade in diesem Augenblicke vernahmen Ichabod’s feine Ohren ein Getrampel in dem Morast an der Brücke. In dem dunkeln Schatten des Gebüsches, am Ufer des Baches, sah er etwas Gewaltiges, Unförmliches, Schwarzes und Thurmhohes. Es rührte sich nicht, sondern schien in dem Dunkel zusammengezogen wie ein riesenhaftes Ungeheuer, und im Begriff, sich auf den Reisenden zu stürzen. Das Haar des erschrockenen Pädagogen sträubte sich vor Furcht auf seinem Kopfe. […] In diesem Augenblick setzte sich der dunkele Gegenstand des Schreckens in Bewegung, und stand mit einem Ruck und einem Sprunge plötzlich mitten auf dem Wege. Obgleich die Nacht dunkel und schauerlich war, so ward doch nun die Gestalt des Unbekannten einigermaßen kenntlich. Er schien ein Reiter von gewaltiger Größe, der ein schwarzes Pferd von mächtigen Formen ritt.“ (Kapitel 33)

Washington Irving’s Erzählung ist eine Geistergeschichte, die aber auch im Stile der Romantik bäuerlich amerikanisches Leben um 1800 darstellt und sich in ihrer Begeisterung für volkstümlichen Sagenstoff an die gothic fiction anlehnt. Sie ist zum Teil Komödie, verbindet stimmungsvolle Bilder mit Aberglaube und verarbeitet gleichzeitig das Grauen der jüngsten Vergangenheit, den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in Fiktion. Während filmische Adaptionen aus der Geistergeschichte einen Krimi mit übernatürlichen Elementen gemacht haben, erzählt die ursprüngliche Geschichte vom Schullandmeister Ichabod Crane, seinem Leben inmitten der Menschen der schläfrigen Schlucht und wie er nach einer Begegnung mit dem geisterhaften kopflosen Reiter aus deren Mitte verschwand.

Am Anfang erfährt man, dass die folgende Geschichte unter den Sachen des verstorbenen Dietrich Knickerbockers gefunden wurde, auf den aber nicht näher eingegangen wird. Es beginnt eine eingehende Ortsbeschreibung: Die zugetragene Geschichte spiele in einer Gegend, genannt “die schläfrige Schlucht” (“Sleepy Hollow”), die sich nahe dem Städtchen Tarry Town in einer Bucht des Hudson Rivers befinde. Dieser Fleck Erde, der im Staat New York liegt, besitze neben einer romantischen Landschaft auch den Ruf von zahlreichen übernatürlichen Phänomenen heimgesucht zu werden.

Die Berufung auf einen Sammler der Geschichte und ihre Ansiedelung in einem real existierenden Landstrich stellt einen gewissen Eindruck von Realitätsanspruch her, so als wäre die Geschichte um Ichabod Crane tatsächlich geschehen. Der Titel jedoch, der die Handlung bereits als ‚Legende‘ darstellt, weißt auf ihren fiktionalen Charakter hin. Auch der ironische und humoristische Umgang mit übernatürlichen Elementen zeigt, dass sich die Erzählung eher an die Schauerliteratur anlehnt, anstatt tatsächlich dazu zu gehören: Angeblich fallen die anwohnenden Menschen, aber auch Reisende, die, sobald sie sich dort länger aufhalten, unter den Bann einer dort herrschenden Zauberkraft. Es heißt, ein Hexer oder ein Häuptling amerikanischer Ureinwohner (es werden noch einige andere stereotypische Verantwortliche für so eine Tat genannt) hätte die Gegend verflucht. Man würde eigenartige Stimmen und Musik hören; geheimnisvolle Lichter, Schatten und Wesen würden am Tag und des nachts in den Wäldern und auf den Wegen ihr Unwesen treiben. Ganz besonders berühmt ist die Gestalt des kopflosen Reiters, der sogar über die Grenzen der schläfrigen Schlucht hinweg bekannt ist. Dieser, so heißt es, sei der Geist eines hessischen Reiters, welcher im Unabhängigkeitskrieg durch eine Kanonenkugel den Kopf verlor und nun jede Nacht zurück zum Schlachtfeld reite, um seinen Kopf wiederzufinden. Das Grauen ist also perfekt, kein Mensch würde freiwillig einen Fuß dorthin setzen. Interessanterweise scheinen die Menschen der schläfrigen Schlucht jedoch den übernatürlichen Schrecken ihrer Gegend recht gelassen zu sehen. Knickerbocker erwähnt, dass die ursprünglich siedelnden holländischen Familien noch immer dort leben und sich ihr Brauchtum durch die Abgeschiedenheit beinahe unverändert erhalten habe. Eine Abwanderung des Übernatürlichen wegen scheint hier also nicht der Fall gewesen zu sein – im Gegenteil, keiner der Ansässigen verliert über eine Begegnung mit einem kopflosen Reiter oder Geist die Nerven.

Ein Horror-Fan stolpert in seine eigene Schauergeschichte

Die eigentliche Geschichte spielt laut Knickerbocker etwa 30 Jahre vor seiner Zeit; man kann also davon ausgehen, dass sie etwa in den 1790er Jahren angesiedelt ist. Ichabod Crane, dessen Person eine eigenwillige Mischung aus Gefräßigkeit, Gelehrsamkeit und Aberglaube ist, kommt in die Mitte der schläfrigen Schlucht und verdingt sich als Lehrer für die Kinder der Gegend. Da sein geringes Entgeld ihm keine eigene Bleibe erlaubt, wohnt er abwechselnd bei einer der Familien, deren Kinder er unterrichtet und verdingt sich neben dem Lehren bei ihnen auch als Land- und Haushilfe. Für keine Arbeit scheint er sich zu gut, und so erfreut er sich bald einiger Beliebtheit. Besonders die Damenwelt ist ihm trotz seines als unansehnlich beschriebenen Äußeren (dürr, lange Gliedmaßen, Hakennase und große Ohren auf einem kleinen Kopf) zugetan, da er sich ausgezeichnet auf Konversation und Scherzereien versteht. Tatsächlich pflegt Ichabod Crane mit Menschen jedweder Couleur Umgang, unterhält und lässt sich unterhalten, wobei sein Interesse den Geschichten und Sagen um Geister und Übernatürliches gilt. So geht er gern mit einer Gruppe Damen spazieren und spricht über das Werk Wonders of the Invisible World von Cotton Mathers, einem puritanischen Geistlichen und Gelehrten, der eine maßgebliche Rolle in den Salemer Hexenprozessen spielte, in dem dieser 1693 seinen Hexen- und Dämonenglauben zu Papier brachte. Ichabod ist von dessen Ausführungen über Hexerei und Magie fest überzeugt und behauptet sogar, Mathers Werk auswendig zu kennen. Auch setzt er sich gern zu den alten Frauen, während sie spinnen und hört ihnen bei ihren Geschichten und Plaudereien über das geisterhafte Unwesen der Gegend zu.

Man könnte Ichabod Crane also getrost als einen Horror-Fan bezeichnen. Wie so viele genießt er den Nervenkitzel des Unheimlichen, Schaurigen und Scheußlichen, allerdings nur, solang er sich in einem hell erleuchteten Raum voller Gesellschaft befindet. Muss er sich nach solchen Erzählrunden in der Abenddämmerung auf den Heimweg machen, so führt ihn sein Weg durch dichte Wälder und verlassene Schluchten, auf dem ihm meist keine Menschenseele begegnet. Die Geschichten, welche er noch kurz zuvor so begeistert angehört hat, jagen ihm nun einen Schauer über den Rücken und er tut, was viele Menschen in dieser Situation tun – er fängt an zu singen oder pfeift. Ironischerweise schafft er es auf diese Weise regelmäßig, die Bauern und ihre Familien, die nahe seines Wegs wohnen, zu erschrecken; wenn diese abends vor der Tür noch gemütlich zusammensitzen weht dann der vom Wind verzerrte Psalmengesang Ichebods zu ihnen herüber und so manche Gruppe räumt dann eilig das Feld.

Es ist kein Zufall, dass Ichabod seinen Psalmengesang als Zuflucht vor seiner Angst nutzt, denn auch für diese Tätigkeit verdingt er sich als Lehrer. Auf diese Art lernt er Katrina Van Tassel kennen, die einzige Tochter des wohlhabenden Baltus Van Tassel. Sie ist die bekannte Schönheit der Gegend, gilt durch den Wohlstand ihres Vaters als begehrte Partie und ist zudem ein Flirt, wie er im Buche steht. Kaum ein junger Mann hat nicht ein Auge auf sie geworfen, und so erliegt auch Ichebod ihrem Reichtum und Charme (in dieser Reihenfolge). Sofort macht er sich daran, sie für sich zu gewinnen, muss dabei jedoch gewitzt-subtil vorgehen. Denn der größte Rowdy, den man in der schläfrigen Schlucht finden kann, versucht ebenfalls ihre Hand zu gewinnen: Abraham “Brom Bones” Van Brut, ein kräftiger, wenig gebildeter, aber beliebter Grobian, der für jeden derben Spaß zu haben ist. Während Brom Bones Ichabod durch Streiche und öffentliches Bloßstellen auszustechen versucht, schafft dieser es jedoch, durch seine Tätigkeit als Gesangslehrer oft mit Katrina zusammenzukommen und auch das Wohlwollen ihres Vaters zu gewinnen. Diese Dreiecksbeziehung spitzt sich zu, bis schließlich ein großes Fest der Van Tassels, der „Showdown“ sozusagen, stattfindet.

Es ist der Tag der Tage. Am Abend des Festes will Ichabod seiner Angebeteten die große Frage stellen und richtet sich dazu nicht nur sorgfältiger als sonst her, sondern leiht sich auch von dem alten Bauern, bei dem er gerade wohnt, ein Pferd – Gunpowder – , um dort gebührend einen großen Auftritt hinzulegen. Der Abend nimmt jedoch ungeahnte Wendungen. Alles beginnt fantastisch, Ichabod stopft sich randvoll mit Leckereien, tanzt ausgelassen mit Katrina und wird von allen für seine Eleganz dabei bewundert. Anschließend erzählt man sich Gruselgeschichten und Erfahrungsberichte über Begegnungen mit diversen übernatürlichen Wesen, die allerdings niemanden außer Ichabod wirklich zu beunruhigen scheinen. Auch Brom Bones gibt eine Anekdote zum Besten, bei der er sich mit dem kopflosen Reiter ein Wettrennen um ein Glas Punsch geliefert haben soll. Er hätte den Reiter auch sicher geschlagen, wäre dieser nicht nach einem mächtigen Sprung in einer auflodernden Stichflamme verschwunden, welche sich direkt vor der Brücke zu einer im Wald liegenden Kirche auftat. Diese Kirche, so sagt er, sei der Ruheplatz des Reiters und dort könne er keinem etwas anhaben. Irving greift hier weitverbreiteten Aberglauben auf, dass die finsteren Mächte geheiligten Grund nicht betreten, aber auch kein fließendes Wasser überschreiten können. Die Brücke, welche einen wilden Bach überspannt, fungiert daher als magische Grenze.

Es ist bereits spät abends, als die Gäste sich nacheinander verabschieden und sich, sorg- und furchtlos vor Geistern, in ihren Kutschen auf den Heimweg machen. Ichebod bleibt zurück, natürlich mit der Absicht, sich seiner Liebsten zu erklären. An diesem Punkt schaltet sich der Erzähler ein und meint, er wisse nicht genau, was bei dem Gespräch der beiden vorgefallen sei, doch Ichebod wäre mutlos und mit hängenden Schultern gegangen; es sei möglich, dass Katrina ihn nur benutzt habe, um Brom Bones eifersüchtig zu machen und sein Ansinnen spöttisch ablehnte. Der traurige Ichabod nimmt sein Pferd und begibt sich auf den Weg nach Hause. Es ist Mitternacht und der Waldweg, dem er folgt, wird nur hier und da durch einen Mondstrahl erhellt. Noch frisch mit den Geschichten der anderen Gäste im Gedächtnis, wird Ichabod erst mulmig zumute und schließlich himmelangst. Die nächtlichen Geräusche der Tiere erschrecken ihn, seltsame Stimmen und Laute erfüllen die Luft und schließlich – er hört ein Stampfen im Gebüsch am Wegesrand – taucht eine riesenhafte Gestalt auf. Es ist offenbar ein Reiter, der nicht auf Ichabods Nachfragen reagiert, sondern einfach wortlos neben ihm herzureiten beginnt. Panisch vor Angst und Grauen treibt er sein Pferd an, doch der Fremdling folgt ihm im gleichen Tempo, bis schließlich auf einer Anhöhe die dunkle Nacht etwas erhellt wird und Ichabod mit Entsetzen erkennt, wer sein nächtlicher Verfolger ist.

„Als Ichabod eine Anhöhe hinaufritt, welche die Gestalt seines Reisegefährten frei zeigte, von riesenhafter Größe und in einen Mantel gehüllt, war er von Entsetzen zerschmettert, denn er sah, daß sie keinen Kopf hatte! – aber sein Entsetzen wuchs, als er bemerkte, daß er den Kopf, der auf den Schultern hätte stehen sollen, vor sich auf dem Sattelknopfe trug.“ (Kapitel 33)

Es ist der kopflose Reiter, das Scheusal, von dem er schon so viel gehört hat und, dass ihm nun wie im Albtraum begegnet. Ichabod tut, was jeder vernünftige Mensch in solch einer Sitation tun würde – er flieht. Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, in der sein altes Pferd die Nerven verliert und statt den Weg in die schläfrige Schlucht hinein zu nehmen, wie von Sinnen in eine benachbarte und dichtbewaldete Schlucht rast. Der Sattel löst sich und geht verloren, doch Ichabod klammert sich an sein Pferd, reitet wie besessen und sieht von Weitem etwas Weißes durch die Bäume schimmern – die Kirche und ihre Rettung versprechende Brücke.  Diese ist nun nicht mehr weit und tatsächlich, das Pferd prescht über das Holz der Brücke und erreicht die andere Seite. Sich umwendend erwartet Ichabod zu sehen, wie der Reiter in einer Flamme verschwindet und der Spuk ein Ende hat. Doch es kommt anders.

„Gerade jetzt sah er den Kobold sich in den Steigbügeln erheben und eben im Begriffe, ihm seinen Kopf nachzuschleudern. Ichabod suchte der furchtbaren Wurfwaffe auszuweichen, aber umsonst. Sie begegnete mit einem gewaltigen Krache seinem Schädel – er stürzte kopfüber in den Staub, und Gunpowder, das schwarze Roß und der gespenstige Reiter sausten wie ein Wirbelwind vorüber.“ (Kapitel 33)

Am nächsten Tag taucht Ichabod nicht bei seiner Arbeit auf und das geborgte Pferd grast seelenruhig vor dem Haus seines Herrn – ohne Sattel. Man beginnt, alles nach dem Schulmeister abzusuchen und findet schließlich den Sattel auf der einen Seite der Brücke, auf der anderen Ichabods Hut nebst einem zerschmetterten Kürbis. Allerdings finden sich auch auffallend große und tiefe Hufspuren in den Schlamm eingedrückt, zu mächtig, um von Ichabods Pferd stammen zu können. Keiner vermag mit Genauigkeit zu sagen, was passiert ist. Der Lehrmeister bleibt jedoch verschwunden und nach einiger Zeit der Spekulation kehren die pragmatischen Dörfler zu ihrem gewohnten Leben zurück. Da Ichabod Crane keinerlei Schulden oder derlei hinterlassen hat, kümmert man sich nicht mehr weiter darum, obwohl vor allem die alten Frauen davon überzeugt sind, dass Ichabod Crane vom kopflosen Reiter fortgezaubert wurde und ein elendes Ende gefunden hat. Auch die Nachricht eines alten Bauern, welcher aus New York kommend davon berichtet, Ichabod Crane sei am Leben und habe sein Glück woanders versucht, tut diesen Überzeugungen keinen Abbruch: Die Geschichte wird zu einer der beliebtesten überhaupt.

Nach Ichabods Verschwinden dauert es nicht mehr lang und Brom Bones heiratet schließlich Katrina Van Tassel. Allerdings „sah man [Brom Bones] immer eine sehr schalkhafte Miene machen, wenn Ichabod’s Geschichte erzählt wurde, und er brach, wenn der Kürbis erwähnt wurde, immer in ein herzliches Gelächter aus; woraus Einige schließen wollten, daß er von der Sache mehr wüßte, als er zu sagen für gut fände.“ (Kapitel 33)

Viel Spuk um Nichts? Oder: Von Rübezahl zum kopflosen Reiter

Es wird mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass es sich bei Ichabods Begegnung mit dem kopflosen Reiter wohl um einen verkleideten Brom Bones handelte, der die Gelegenheit wahrnahm, um seinem Rivalen einen Schrecken einzujagen. Trotzdem verbleiben die übrigen Berichte der anderen Leute, die von einem solchen Reiter erzählen und bei denen es keinen Grund zu der Annahme gibt, auch dies wäre Brom Bones gewesen. Es stellt sich nun die Frage, gibt es in der Geschichte überhaupt einen Spuk oder ist alles nur Spinnerei? Und angenommen, innerhalb der Realität Washington Irvings Erählung existiert tatsächlich das Übernatürliche, gibt es den kopflosen Reiter, dessen Identität sich Brom Bones zu eigen machte? Denkt man an den Anfang der Erzählung zurück, so reitet der Hesse aus, um seinen Kopf zu finden. In Ichebods Fall trägt er ihn dann jedoch bei sich. Wäre Ichabod nicht vor Angst so gelähmt gewesen, wäre ihm das vielleicht aufgefallen. Am Ende war es doch nur ein Kürbis anstatt eines echten Kopfes, was in der Dunkelheit der Nacht jedoch verborgen blieb.

Auch ein Nachwort Knickerbockers ist der Geschichte am Ende beigegeben, in dem er erklärt, wie er die Geschichte in der Stadt Manhattoes in Gesellschaft einiger wichtiger Bürger von einem ärmlich aussehenden, alten Herrn hörte. Weiterhin berichtet das Nachwort, wie einer der Zuhörer die Glaubwürdigkeit und den Ausdrucksgehalt der Geschichte in Zweifel zieht.  Nun Herr, erwiederte der Erzähler, was das betrifft, so glaube ich selbst nicht die Hälfte davon. (Kapitel 33, Nachschrift). Der metafiktionale Charakter der beschriebenen Personen stellt die Frage nach dem Sinn fiktionaler Erzählung und beantwortet diese sogleich – der künstlerische Schöpfungsakt muss als solcher um seinerselbst Willen betrachtet werden.  Irving macht hier deutlich, dass manche Geschichten nicht zu ernst genommen werden sollten und dass jeder selbst entscheiden solle, was er aus der Erzählung um Ichabod Crane mitnehmen wolle.

Für sein Werk Rip Van Winkle, das neben der „Legende“ als eine der ersten Kurzgeschichten amerikanischer Literatur gilt, erntete Irving schnellstens Vorwürfe des Plagiats. So dauerte es nicht lange (und doch wesentlich länger als bei Rip Van Winkle), bis auch seine Legende um die schläfrige Schlucht ins Visier genommen wurde. Tatsächlich finden sich große Parallelen zu der Sammlung Volksmärchen der Deutschen (1782-86) von Johann Karl August Musäus (1735-1787), besonders zur letzten der fünf Rübezahlsagen, welche darin enthalten sind. Wirft man einen Blick auf die Verläufe beider Erzählungen, wird klar, dass Irving nicht nur die Kernhandlung, sondern auch Sätze eins zu eins übernommen hat.

In der Legende bei Musäus fährt der Protagonist nachts mit der Kutsche durch das Riesengebirge und begegnet einer übermenschlich großen, schwarzen Gestalt, die keinen Kopf auf den Schultern hat, sondern ihn auf dem Arm trägt. Auch der Wurf des Kopfes auf den Unglücklichen findet statt:  „Alle guten Geister -; doch ehe er ausgeredet hatte, schleuderte ihm das Ungetüm den abgehauenen Kopf gegen die Stirn, daß er überzwerch von der Zinne des Polsters über dem Ringnagel herabstürzte“ (Musäus 195). Allerdings hüllt sich das Ungetüm hier nicht in Schweigen, sondern streckt noch den Kutscher nieder und gibt sich dann zu erkennen: „Nimm das von Rübezahl, dem Bannwart des Gebirges, daß du ihm ins Gehege fuhrst! Verfallen ist mir Schiff, Geschirr und Ladung.“ (195). Daraufhin schwingt sich Rübezahl auf das Pferd der Kutsche und reitet mit ihr samt den Damen darin auf und davon. Auch hier wird der Angriff vom Erzähler als Streich enttarnt, der einen Rivalen abschrecken sollte. Der Charakter des Rübezahl, den der Schelm sich hier zu eigen macht, ist im schlesischen Volksglauben ein Riese, Zauberer oder Berggeist, der als Herr und Beschützer über das Riesengebirge wacht. Ähnlich wie in Sleepy Hollow fungiert er als zauberische Macht, die den Landstrich erfüllt, doch hat er durchaus tricksterhafte Züge an sich: Mal leitet er Wanderer irr, mal hilft er ihnen; Geschenke wie Tannenzapfen, die erst wertlos erscheinen, werden zu Gold, während von ihm gezahltes Geld gern zu Laub zerfällt. Auch sollte man sich davor hüten, den Spottnamen „Rübezahl“ auszusprechen, während man in seinen Gefilden unterwegs ist, den kann er nämlich überhaupt nicht leiden.

Da die Sammlung von Musäus bereits 1791 durch die Verlagsbuchhandlung John Murray in London ins Englische übersetzt worden war, ist es wahrscheinlich, dass Washington Irving die Geschichte kannte. Aber auch die Ballade Der Wilde Jäger, verfasst vom Lenore Autor Gottfried August Bürger, scheint Einfluss auf die „Legende“ gehabt zu haben.

Manche Details der Erzählung, besonders jene historischer Natur, sind jedoch zu spezifisch, um einfach von anderen Texten abgekupfert worden zu sein. Die Legende von der schläfrigen Schlucht stellt auf erzählerische Weise politische und gesellschaftliche Umwälzungen dar. Sie dramatisiert den Konflikt der Mentalitäten zwischen New York und den Yankees Neuenglands um 1790, als erstere Teil einer Republik geworden waren. Die Besiedelung des Staates New York durch niederländische Siedler ist historisch belegt, wobei sie hier für das Altertümliche, Völkische, die Magie der alten Welt stehen. Das Gespenst des Reiters, der ein hessischer Söldner gewesen ist, verkörpert als Schreckgespenst die Nachwirkungen des Unabhängigkeitskrieges; auch dieser Charakter hat Wurzeln in der Realität. Im Jahre 1776 war New York britisch besetzt und vor allem die Mietssoldaten der Briten, angeworbene Soldaten aus Hessen, waren besonders zahlreich und gefürchtet. In einem verzeifelten Schlag mitten in der Winterpause des Krieges, schlägt Washington eine ihrer Truppen und ist siegreich. Dass die Hessen dabei ein ebenso grausames Ende ereilt haben mag, wie es in Irvings Geschichte und in Filmadaptionen ausgeführt wurde, ist wohl sicher.

Faszination Schauergeschichte

Die Lust am Unheimlichen, dem Grauen und Gruseln hat für einige der berühmtesten Bücher und Filme der Literatur- und Filmgeschichte gesorgt. Frankenstein, Dracula, Der Mönch bis hin zu modernen Horror-Produktionen wie Es, die Halloween-Filmreihe, die Serie Penny Dreadful und vieles mehr. Manche allerdings sind weniger bekannt, wie zum Beispiel Washington Irvings Die Legende von der schläfrigen Schlucht, welche erst durch ihre Verfilmung einem breiten Publikum zugänglich und dann zum absoluten Kult wurde. Wie geschaffen scheint der Stoff für Tim Burtons eigenwilligen Stil des Filmemachens, der meisterlich Horror und Komik vereint und dabei oft herrlich verkorkst ist. Die Geschichte lebt nicht vordergründig von Jump-Scares oder Splatter-Elementen, sondern funktioniert durch ihre Bildgewalt und die düstere, unheimliche Atmosphäre, die auch in der eigentlichen Erzählung allein durch Worte erzeugt wird. Der kopflose Reiter als Zentrum der Handlung bietet einen perfekten Gegenspieler, der durch Burton zu einer wahrlichen Horror-Gestalt stilisiert und durch Christopher Walken legendär zum Leben erweckt wurde.

Unser Blogspecial im Zeichen des Schaurigen um Übernatürliches, heidnisches Brauchtum, Horror, Sünde und Tugend, endet mit dieser Kultgeschichte und schließt somit den Kreis an dem Punkt, an dem wir begonnen haben: Die Toten reiten schnell.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm und Pia Stöger

Literaturhinweise:

Berthold Seewald: „Wie die furchtbaren hessischen Söldner untergingen“. Gefunden auf Welt.de, 26.10.2018, veröffentlicht am 25.12.2016. https://www.welt.de/geschichte/article160555886/Wie-die-furchtbaren-hessischen-Soeldner-untergingen.html

Johann Karl Auguts Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Leipzig: Hendel 1926.

Washington Irving: Die Legende von der Schläfrigen Schlucht. In: Gottfried Crayon’s Skizzenbuch: Frankfurt am Main, 1846. Digitalisat einer frühen deutschen Übersetzung, Projekt Gutenberg-DE.

Washington Irving: Die Sage von Sleepy Hollow: und andere unheimliche Geschichten. Insel-Verlag: 2009.

Quellen:

„Sleepy Hollow“ 1999, Regie: Tim Burton © Constantin Film AG

©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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