Bertolt Brecht hatte 1938 im Exil ein Gedicht über den daoistischen Meister Lao Tse geschrieben, der selbst nach Westen gezogen sein soll: „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. Auf dem Weg wurde der Meister von einem Zöllner aufgehalten, der ihn bat, für ihn seine Lehre aufzuschreiben. In gewisser Weise war Laozi (oder Lao Tse) tatsächlich in den Westen geritten. Für die deutschen Emigranten in der Nazizeit war dieses Gedicht ein Signal, ein Trost. Wie ein Lauffeuer ging es durch die Lager der Flüchtenden, wie Hannah Arendt schrieb. Es deutet auch auf eine längere Beschäftigung nicht nur Brechts mit dem Daoismus und China überhaupt hin.
Der Daoismus hat zwar viele Jahrhunderte in China überstanden, inkognito manchmal, unterirdisch oder versteckt im Volksglauben – selbst noch in den Farben der chinesischen Revolution, dem Rot und Grün des Maoismus – aber es bedurfte seines Eintauchens in westliche Breiten, um ihn auch in China nach der Kulturrevolution wieder gesellschaftsfähig zu machen. Dem Westen kam er recht in einer Zeit, als alle religiösen und politischen Halterungen brüchig wurden. Er schien weniger streng als der Buddhismus, weniger asketisch, eher lebenszugewandt und anarchisch, freundlich und heiter. Kein störendes Jenseits, „eine Religion ohne Worte, ohne einen Heiland, ohne einen Zweifel, einen Gott oder ein Leben nach dem Tode, eine Religion, deren ganze Wahrheit in dem mit Wasser gefüllten Abdruck eines Pferdehufes liegt, – was kann man mehr verlangen?“ (Cyril Connolly, zit. in Walf 1989, 53)
Das Kennzeichen des Daoismus: man kann über das Wichtigste nicht reden; man kann es nur erleben oder praktizieren. Ein Antidotum sicherlich zur westlichen Diskurskultur, die sich im Laufe der Jahrhunderte aber ähnlichen Widersprüchen ausgesetzt sah – von den christlichen Mystikern bis hin zu Ludwig Wittgensteins „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ und Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos“: Sprache an der Grenze des Unsagbaren, Krise der europäischen Vernunft. Oft erfolgt dann eine Wendung nach Asien, zum Daoismus oder Zen-Buddhismus. Von den Aufklärern war Konfuzius verehrt worden, als unmetaphysischer Philosoph gesellschaftlicher und sprachlicher Ordnung. Den Himmel mochte er verehren, aber das war ein Prinzip, keine persönliche Gottheit. So konnte sich Voltaire für ihn erwärmen und die anderen Deisten, die mit dem christlich-biblischen Gottesbild brachen. Doch auch die Aufklärung geriet in die Krise und es ist immer dann, dass sich der Kontrahent des Konfuzianismus, der Daoismus zu Wort meldet – eigentlich aber, um dem Wort, der Schrift und dem Buchwissen die Legitimation zu entziehen. Die Jesuiten waren vor allem der konfuzianischen Gelehrtheit gefolgt, und aus deren Sicht verkörperte der Daoismus rückständige Volkskultur und Aberglauben.
Von allen chinesischen Weltanschauungsformen wurde der Daoismus im Westen als letzte entdeckt. Er passte nicht ins Bild einer idealisierten, harmonischen, auf rationalen Prinzipien beruhenden Gesellschaft, wie sie von den Aufklärern gefordert wurde. Nach Leibniz war es Hegel, der sich intensiver mit China beschäftigte. Das Dao identifizierte er in einer Vorlesung 1816 mit dem Absoluten in der griechischen Philosophie. Abel Rémusat begann 1824 Studien zum Daoismus zu schreiben. 1889 stellte H.A. Giles den anderen Daoisten vor: Zhuangzi (Dschuang-Tse). Oscar Wilde konnte mit seinem Sinn für Paradoxie gut an daoistische Formeln anknüpfen: „The importance of doing nothing […] Let me say to you now that to do nothing is the most difficult in the world, the most difficult and the most intellectual.“ (zit. in Schuster 156) Einige haben seine Dandys als moderne Version des daoistischen Weisen gesehen. Die schriftliche Fassung daoistischer Ideen fand ihr Schlüsselwerk im Daodejing von Laozi: 81 rätselhafte, vieldeutige Strophen. Der Sinologe Kai Marchal fühlt sich an die „aufputschende Kürze“ deutscher Romantiker wie Novalis oder Schlegel oder auch an vorsokratische Philosophen wie Heraklit erinnert (Marchal 34). Laozi gab es wahrscheinlich gar nicht, er schrieb vielmehr ein Buch „auf der Suche nach einem Verfasser“, den wir auch den Leser nennen können, ganz im Sinne eines Roland Barthes, für den der Autor ohnehin tot ist. Geschrieben wurde es zwischen 350 und 250 v. Chr. Es hatte eine so hohe Reputation, dass auch chinesische Kaiser Kommentare schrieben. Bis 1992 zählt eine Bibliographie 301 Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Allein im Deutschen waren bis dahin 67 Ausgaben erschienen (Walf 1992, 11-38).
Das Geheimnis seiner Wirkung, so Marchal, liegt in seiner Unabschließbarkeit und Deutungsoffenheit – ähnlich wie das Yijing. Man schaue sich nur die erste Zeile in einigen Versionen an, dann weiß man, was Unabschließbarkeit bedeutet, nämlich Unübersetzbarkeit:
The way you can go
isn’t the real way. (Ursula LeGuin)
Tao can be talked about, but not the Eternal Tao. (John C.H.Wu)
Könnten wir weisen den Weg,
Es wäre kein ewiger Weg. (Günther Debon)
sagbar das Dau
doch nicht das ewige Dau (Ernst Schwarz)
TAO:
Durch Wörter nicht zu bannen!
(Theodor Scheufele)
Der SINN, den man ersinnen kann,
ist nicht der ewige SINN. (Richard Wilhelm)
Große Divergenzen also, aber man muss sie nicht bedauern. Vielmehr zeigt sich hier die anregende Kraft der Ideogramme, die über Jahrhunderte hinweg menschliche Intuition, Übersetzungs- und Fragelust inspiriert haben. So unpolitisch der Daoismus zunächst einmal scheint, so greifbar gesellschaftlich können seine Haltungen werden: sei es im Rückzug von der Gemeinschaft und ihren Institutionen, sei es in der Weigerung zu handeln, jenem berühmten wu wei. Diesem Nicht-Handeln (das auch durchaus im Handeln liegen kann) widmete der Niederländer Henri Borel schon 1898 eine Studie (Henri Borel). Deutschsprachige Autoren wie Klabund, Hugo von Hofmannsthal und vor allem Alfred Döblin in seinem chinesischen Romandebüt Die drei Sprünge des Wang-Lun (1916) beziehen sich immer wieder auf Gewalt und Gewaltlosigkeit – eine Thematik, die Döblin kurz vor dem Ersten Weltkrieg aufgriff. Seine Informationen über den Daoismus bezog er von Martin Buber, der 1910 bereits Tschuang-Tse. Reden und Gleichnisse veröffentlicht hatte. Dieser Zhuangzi (geb. um 365 v.Chr.), ist aus anderem Holz als jener vielleicht imaginäre Laozi: anarchisch, witzig, eigenwillig, metaphernreich, unfromm und poetisch, keine gesalbte Weisheiten, stattdessen rohe oder äußerst zarte Intuitionen und Parabeln. Er ist der Dichter unter den Daoisten und hat als solcher andere Dichter und Dichterinnen inspiriert. Der dritte im Bund ist Liezi (um 450 v.Chr.) mit dem Buch Das wahre Buch vom quellenden Ursprung. Diesem widmete Döblin seinen Roman. Döblins während des Ersten Weltkriegs entstandener Pazifismus hat viele andere Autoren, die den Nationalsozialismus ablehnten, angeregt: so Lion Feuchtwanger, Ernst Toller und Oskar Maria Graf. Damit hat er die Gewaltlosigkeit des Daoismus zu einer politischen Kraft werden lassen, wie, natürlich in ganz anderem Maß, Mahatma Gandhi in Indien. „Waffen sind unheilvolle Geräte“, heißt Spruch 31. Noch in der Zeit des Nationalsozialismus hat der Daoismus dem Widerstand gedient – auf den Flugblättern der Weißen Rose wurde auf Laozi verwiesen. So im Juli 1942:
Der, des Verwaltung unauffällig ist, des Volk ist froh. Der, des Verwaltung aufdringlich ist, des Volk ist gebrochen […] Wer unternimmt, das Reich zu beherrschen und es nach seiner Willkür zu gestalten – ich sehe ihn nicht sein Ziel erneuern; das ist alles. (zit. in Chaussy 30)
Ernst Bloch lässt den Daoismus in Das Prinzip Hoffnung (1959) sinnlich erscheinen: „Teeduft zieht durch dieses Religions-All, so fern von Gewalttat, Roheit und Lärm; Anti-Barbarus ist hier am weltfrömmsten zu Glaube geworden, zur Mutterlandschaft […]“ (zit. in Walf 1989, 115) Auch er betont die Stärke des Schwächsten, des Geringsten Tuns – allesamt als Gegengifte zu der westlichen (und östlichen) Gegenwartskultur gedacht, die auf Wachstum, Stärke, Egoismus und Gewalt setzt. Auch Luise Rinser, obwohl Christin, fand in dunklen Zeiten eher im Daoismus als in anderen Religionen ihre Kraft.
Jüdischen Autoren wie Martin Buber, Franz Kafka oder Elias Canetti kamen daoistische Denkweisen sehr nahe. Kafka bezieht sich ausdrücklich auf Laozi in den Gesprächen mit Gustav Janouch. Chinesische Themen sind in seinem gesamten Werk zu finden – man denke an die Erzählung „Beim Bau der chinesischen Mauer“. Übrigens ist er als Autor seit den 1990ern in China sehr beliebt und wird dort inzwischen ohne allzu große ideologische Einschränkungen gelesen. Auch Elias Canetti hat sich immer wieder China zugewandt, vor allem in seinem Roman Die Blendung (1936). Der wahnsinnige Sinologe und Bibliomane, der am Ende mit seiner Bibliothek in Flammen aufgeht, verkörpert ein imaginäres, altes China, das in der Moderne untergehen muss.
Konfuzianische Zwischenspiele: Canetti, Pound, Brecht
Canetti hat nicht nur eine Romanfigur als Konfuzianer geschildert, er hat sich auch andernorts mit Konfuzius beschäftigt, vielleicht, weil im 20. Jahrhundert, insbesondere für die Juden, kein Ort mehr war für Gelehrsamkeit und Sitte. Wie die Konfuzianer musste er sich mit seiner eigenen großen Bibliothek in Wien und später im Exil auf einer Art Endmoräne der Kultur gefühlt haben. In dem Weisheitslehrer sah er einen Sprachkritiker, fast eine Art chinesischen Karl Kraus, den Canetti ja zugleich verehrte und anklagte. Konfuzius habe die Schwächung der Sprache durch „leichten und glatten Gebrauch“ gefürchtet – ein Kritiker des Feuilletons vor dessen Zeit und in anderen Breitengraden. In diesem Konfuzius steckt hauptsächlich also Canetti. Er ist beeindruckt von der Erfolglosigkeit des Meisters; mit ihr musste Canetti lange leben, während des Exils und eigentlich bis zum Nobelpreis. Konfuzius ist ihm „ein Meister des Nein-Sagens“, sein größtes Glück besteht im Lernen – nicht anders als bei dem immens gelehrten Canetti, dem immer kritischen Denker. Beide teilen eine „Abneigung gegen das Spezialistentum“, sie hassen das Handeln aus Berechnung, das aus Menschen Werkzeuge macht (Canetti 206). Sie pflegen die Wissenschaft von der Macht, deren Studium „gerade für den eingefleischten Gegner der Macht unerlässlich“ ist. Und schließlich geht es ihm wie Canetti um die Frage des Überlebens: „Es ist, von allen Zivilisationen, der einzige ernsthafte Versuch, der mir bekannt isst, die Lüsternheit des Überlebens aufzulösen.“ (ebd. 210). Ahnenverehrung betreibt Canetti wiederum mit seinen unablässigen Bezügen auf die Klassiker und vor allem die alten Kulturen der Welt, auf das Gedächtnis der Stämme, auf die älteste Kunde vom Menschen auf dieser Erde.
Jede Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie im Westen zeigt das Gesicht des westlichen Interpreten wie in einem zerbrochenen Spiegel. Als Konfuzius zuvor im 20. Jahrhundert auftauchte, trug er das Gesicht eines ganz anderen Interpreten, eines Faschisten namens Ezra Pound. Bei aller Liebe, die dieser Amerikaner zur chinesischen Kultur in seinem Lebenswerk, den Cantos (1922-1962), an den Tag legte, diente ihm diese doch zur Stützung seiner autoritären Ideen zur Gesellschaftsordnung. Konfuzius rief er als Patron von Ordnung an, von Ordnungszwang und Zwangsordnung – von der Sprachreinigung hin bis zum Antisemitismus in seiner verkappten Form als Kritik an Kapital und Macht. Allerdings muss man auch bei Pound differenzieren. Seine vier Versuche, Konfuzius zu übersetzen, laufen parallel zu seinen sich ändernden politisch-literarischen Einstellungen. Man kann zunächst eine Stärkung der Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft erkennen, sodann ab den 1930ern eine totalitäre Interpretation: Anstreben einer kompletten Einheit von Individuum, Gesellschaft, Erde. Nach 1945 wendet er sich der Frage sprachlicher Präzision zu, die für Konfuzius sehr wichtig war, denn sie bildete die Grundlage gesellschaftlicher Beziehungen. Auch die persönliche Integrität rückt in den Vordergrund (Cheadle).
Es wäre aufschlussreich, Pounds reaktionären Gebrauch des Konfuzius mit Brechts sozialistischer Auffassung zu vergleichen, denn Brecht arbeitete etwa gleichzeitig, zwischen 1927 und noch im Exil 1942 an seinen Aufzeichnungen zu Me-ti. Buch der Wendungen, eine klare Anlehnung an Richard Wilhelms Titel des Yijing als Buch der Wandlungen. Me-ti (zwischen 490-381 v.Chr.) Mozi, Motsu, Mo Di, Me Ti, lat. Micius) entwickelte eine dem Konfuzius nahestehende Lehre von der Rechtschaffenheit, wobei er allerdings mehr Wert auf Gesetzgebung und Prägung des Einzelnen durch die Gesellschaft und das Recht legte. Produktivität und das Wohlergehen des Volkes standen im Mittelpunkt. Das fügte sich gut zu Brechts Vorstellungen der Erziehung zu kommunistischen Idealen, wie er sie in diesen Lehrgesprächen, Aphorismen und Essays darlegte. Auch hier schält sich unter dem Zeichen chinesischen Denkens ein ganz und gar westliches Gesicht heraus.
Drei Daoisten in der Literatur
Auch der Daoismus zeigt die Gesichter seiner Interpreten. Er kam seinerseits in der Theorie dem Poststrukturalismus gelegen: beide reden von Zeichen, die sich fortwährend entziehen, von Subjekten, die keine sind, von Täuschungen, die durch das Netz der Sprache erschaffen werden. Gibt es einen Derridaoism (Michelle Yeh)? Subversivität ist sicherlich ein weiteres gemeinsames Merkmal, wenn auch vieles andere wie Projektionen erscheint. Wie man überhaupt viel in das Dao hineinprojiziert hat. Darüber hat schon Martin Buber geklagt: man habe das Dao als Vernunft, Natur oder Energie gedeutet. Doch mit dem Dao sei gar keine Welterklärung gemeint. Heute finden wir Dao ungefähr in denselben Branding-Vorgängen wie Alchemie, sei es, wenn Kampfkünste beworben, Erfolge als CEO versprochen oder das Mysterium als solches geraunt wird: „Die rätselvolle Silbe Tao ist neuerlich in die Kitschzone geraten […]“, wie Peter Sloterdijk schreibt, der sich aber selbst gerne für Verdächtigungen zur Verfügung stellt. Statt andere Interpretationen der Welt immer nur zu verdächtigen, komme es darauf an, sich auf sie einzulassen (9).
Ich möchte noch drei daoistische Besenkammern in der englischsprachigen Literatur öffnen. John Cowper Powys (1872-1963), der große, immer noch unbekannte Titan der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts, war ein Verehrer des Zhuangzi. 1930 notierte er in seinem Tagebuch, dass er sich zwei Chinesen, die er zufällig traf, als Daoisten vorstellte. Woraufhin die Chinesin sagte, er gehe mit seinem Wanderstab genauso wie ein alter Chinese. Immer wieder kam er in seinen Romanen und lebensphilosophischen Schriften auf den Daoismus zurück. Er entsprach seiner eigenen gesellschaftskritischen und kosmischen Lebenseinstellung am besten. Als er, der Keltomane, später in sein geheiligtes Wales zog, wurde es zu einer Art daoistischer Umgebung für ihn. In den Spätwerken tritt Zhuangzi neben Buddha und Gott auf und plädiert für Skepsis, Toleranz und Humor. Der Daoismus hilft ihm, mit dem Leben als Unsicherheit umzugehen (Schenkel 425f.).
Eine wahrhaft daoistische Stimme im Chor westlicher Literatur stellt die Amerikanerin Ursula K. Le Guin (1929-2018) dar. Schon ihre frühen phantastischen Romane der Earth-Sea Reihe stellen die Weisheit im Umgang mit Macht in den Vordergrund. In The Lathe of Heaven (1971, dt. Die Geißel des Himmels) bezieht sie sich auf ein Wort Zhuangzis (Kap. 23, Abschnitt 7). Demnach wird ein Mensch, der nicht aufhören kann, das zu tun, was er nicht tun kann, auf die Drehbank (lathe) des Himmels gelegt. Ein Träumer stellt fest, dass seine Träume Wirklichkeit werden. Er lässt sich von einem Therapeuten behandeln, der in diesen Vorgängen große Möglichkeiten der Veränderung von Realität sieht – und damit eine Orwellsche Welt heraufbeschwört (der Protagonist heißt George Orr). So führt ein Traum zwar zum Ende des Rassismus, aber alle Menschen haben nun eine graue Haut. Die Überbevölkerung auf dem Planeten soll weggeträumt werden und so kommt es zu einer großen Seuche, die einen Großteil der Menschheit hinwegrafft. In späteren Jahren hat sich Le Guin von dem Titel distanziert, denn der britische Wissenschaftshistoriker Joseph Needham habe sie freundlich darauf hingewiesen, dass es zu Zhuangzis Zeiten noch keine Drehbänke gab. Es handele sich um einen Übersetzungsfehler von James Legge. Le Guin hat sich bis zu ihrem Lebensende mit dem Daoismus beschäftigt, der ihren feministischen und ökologischen Einstellungen sehr entgegenkam. Das Daodejing von Laozi kannte sie seit ihrer Kindheit, Einmal sah sie, wie ihr Vater bestimmte Abschnitte markierte. Auf ihre Frage hin, warum er das tue, antwortete er: Diese Abschnitte sollten bei seiner Beerdigung vorgetragen werden. Und so geschah es. Das Buch hat die Autorin viele Jahrzehnte begleitet, es bildet die Grundlage ihrer neuen Übersetzung, die sie mit einem Sinologen unternommen hat. Aber warum noch einmal diesen so oft übersetzten Text übertragen? Sie hatte den Eindruck, dass die bisherigen Übersetzungen sehr ‚männlich‘ zentriert waren:
Ich wollte ein Buch vom Weg, das zugänglich wäre für zeitgenössische, un-weise, un-mächtigeund vielleicht un-männliche Leser, die nicht esoterische Geheimnisse suchen, sondern einer Stimme lauschen, die zur Seele spricht. Ich möchte, dass diese Leser sehen, warum Menschen das Buch seit 25 Jahrhunderten geliebt haben.
Es ist der liebenswerteste aller großen religiösen Texte, witzig, scharfsinnig, bescheiden, unverwüstlich-skandalös und endlos erfrischend. Von allen tiefen Quellen ist dies die mit dem reinsten Wasser. Für mich ist es auch die tiefste Quelle. (Le Guin x, Übersetzung ES).
Und noch ein wichtiges Buch über den Daoismus: Benjamin Hoffs The Tao of Pooh (1982, dt. Tao Te Puh. Das Buch vom Tao und von Puh dem Bären). Es klingt wie ein Kinderbuch, das es auch ist, aber nicht nur dies: es ist eine kleine Einführung in den Daoismus für Laien und ein wunderbares Buch der Lebenshilfe. Ein weiteres Buch folgte: The Te of Piglet (1993). Der amerikanische Autor, Jahrgang 1946, praktizierte unter anderem Tai Chi, Qigong und japanische Teezeremonie, worin er auch einige höhere Ränge erreichte. Er war als Baumgärtner tätig, als Restaurator von Antiquitäten, als Reporter, Musiker und Komponist. 2006 verabschiedete er sich nach gut daoistischer Art von der Welt des Publizierens. Lebenshilfe sind seine Bücher in der Tat, aber haben sie noch viel mit der Lehre vom Dao im chinesischen Sinne zu tun? Sinologen werden sich eher dem zuwenden, was Hoff nicht thematisiert. Besonders werden die politischen Dimensionen des Daodejing unterschlagen. Im Westen, so etwa der Sinologe Philip Clart, sehe man eben vor allem das selbsttherapeutische Potential, die Hinweise zur Selbstverwirklichung. Das gesellschaftliche Ganze wird dabei ausgeblendet.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Ahrendt, Hannah. Menschen in finsteren Zeiten, Piper, München 1989, 2001.
Canetti, Elias. „Konfuzius in seinen Gesprächen“. Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt/M.: S. Fischer 1982.
Cheadle, Mary Paterson. Ezra Pound’s Confucian Translations. Ann Arbor: Michigan University Press 1997.
Diederichs, Ulf, Hrsg. Erfahrungen mit dem I Ging. Vom kreativen Umgang mit dem Buch der Wandlungen. München: Diederichs 1996.
Kafka, Franz: http://www.geisteswissenschaften-in-sachsen.de/kulturraeume/kafka-atlas/laender-artikel/kafka-in-china
Le Guin, Ursula. Lao Tzu: Tao Te Ching. A Book about the Way and the Power of the Way. Boulder: Shambhala 2019.
Marchal, Kai. Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren chinesischen Denkens. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
Schenkel, Elmar. „From Powys to Pooh: Some versions of Taoism in British and American Literature”, in Blaicher, Günther und Brigitte Gleser, eds., Anglistentag 1993 Eichstätt. Tübingen: Max Niemeyer 1994, 419-432.
Sloterdijk, Peter. Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989.
Walf, Knut. Tao für den Westen. München: Kösel 1989.
Walf, Knut. Westliche Taoismus-Bibliographie. Essen: Blaue Eule 1992.
Weinberger, Eliot. „The I Ching”, in The Ghosst of Birds. New York: New Directions 2016, 140-151.
Wilhelm, Richard. Die Seele Chinas. Frankfurt/M.: Insel 1980.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Fasziniert vom Wissen des Autors! Der umfassende Artikel gibt Stoff für mehrere Doktor-arbeiten und regt an, in die Bibliothek zu gehen, um sich Bücher aus der umfangreichen Leseliste auszuleihen!
Vielen Dank, Elmar!!