Es sind Gesänge, wie man sie nicht oft in den Räumen des Grassi Museums für Völkerkunde zu Leipzig hört. Major Sumner, genannt Uncle Moogy, von der Ngarrindjeri Community Südaustralien, ruft mit seiner eindringlichen Stimme die Geister der Ahnen herbei. Einen seiner mit rituellen Zeichen versehenen beiden Bumerangs hält er in alle vier Himmelsrichtungen. Der dazugehörende Gesang und das Aneinanderschlagen von Holz, welches mit einem eindringlichen Sprechgesang einhergeht, richten sich nicht nur an die Ahnen seines eigenen Clans, sondern auch an die Ahnen der Anwesenden. Alle sind willkommen. Denn in der Schöpfung wie im Tod sind wir alle gleich. Die Ahnen sind unser aller Verbindung. Und es scheint tatsächlich, als würde sich an diesem 27. November 2019 eine enorme Ruhe über den Veranstaltungsraum im zweiten Museumsobergeschoss legen, eine Gelassenheit, welche Zuhörer und Erzählende durch den Abend trägt.
Das Thema des Abends ist denn auch freudig und bedrückend zugleich. Es geht um die Rückführung von Gebeinen australischer Ureinwohner, die im 19. und 20. Jahrhundert ihren Weg in die ethnografischen Sammlungen von deutschen, europäischen und amerikanischen Museen weltweit gefunden haben, oft auf zweifelhafte Art und Weise – von Diebstählen und geschändeten Begräbnisorten ist die Rede. Aber auch Leichenraub oder in die Fremde verkaufte Kinder sind keine Seltenheit gewesen.
Aborigines (vom Lateinischen „ab origine“ > von Anfang an) werden die australischen Ureinwohner im Allgemeinen genannt. Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert und fasst alle Ureinwohner von Down Under ausnahmslos zusammen. Dabei wird in der Gesprächsrunde im Grassi Museum rasch klar, dass es „die Aborigines“ nicht gibt, sondern man zwischen einzelnen Stämmen, Familien oder Clans unterscheiden muss. Neben Uncle Moogy von den Ngarrindjeri sind für die Rückführung auch Megan Krakouer von der Menang Noongar Community aus Westaustralien sowie Bianca-Ann Baxter von der Gunaikurnai Community aus dem südöstlichen Bundesstaat Victoria angereist. „To take them home“. Um sie nach Hause zu bringen. Diese Worte hört man am diesem Abend und auch während der offiziellen Übergabezeremonie am darauffolgenden Tag sehr häufig und sie machen klar, wie viel den nach Leipzig Gekommenen die Rückkehr der Ahnen in ihr Land und vor allem zu den spirituellen Orten bedeutet. Hört man die Geschichten, wird schnell klar, dass es uns Europäern (und wahrscheinlich sogar manchem Australier) schwerfällt, die Verbindung zwischen Land, Geistern und Menschen zu begreifen, welche die Aborigines seit über 60.000 Jahren praktizieren bzw. als Ganzheit auffassen und leben.
Seit der Aufklärung, in deren Folge Vernunft, Naturwissenschaften, religiöse Toleranz, die Orientierung am Naturrecht sowie der Fortschrittsoptimismus einen unermüdlichen Siegeszug antraten, ist uns die „memoria“ (das Gedächtnis), auch begriffen als rituelles Totengedenken, mehr und mehr verlorengegangen. Das Miteinander von Toten und Lebenden, das seit der Antike als koexistierend wahrgenommen wurde und für das im Mittelalter sogar rechtliche Verbindlichkeiten galten, erlosch. Die Toten waren fortan nur noch tot. Ihre Gebeine oder Aschen ruhten und ruhen zumeist auf Friedhöfen, zwar Teil der heutigen Städte, aber dennoch abgekoppelt vom Raum der Lebenden. Über den Tod reden wir nicht gerne. Unserer Vorfahren erinnern wir uns durch Bilder oder Gegenstände oder gar nicht. Es scheint, dass wir mehr und mehr einzig dem Leben verpflichtet sind. Dabei haben wir gelernt, uns vor dem Tod zu fürchten, statt ihn als unausweichlichen und vielleicht sogar sinnstiftenden Teil von uns zu begreifen. In gewisser Weise könnte man sagen, wir seien spirituell entwurzelt. Wir singen keine Lieder für unsere Ahnen. Und wir bitten auch nicht darum, dass sie uns leiten, uns unterstützen oder uns wohlgesonnen sein mögen. Je nachdem, woran wir im Leben glauben, findet sich unsere Seele im Himmel, im Fegefeuer oder der Hölle wieder. Oder in der Leere. Dem Nichts. Alles hat eben einen Anfang. Und ein Ende.
Aborigines wiederum begreifen sich und auch ihre Seelen bzw. die Seelen ihrer Vorfahren als Teil des Landes und auch Teil der Traumzeit (oder Dreaming) ihrer zentralen Mythologie. Die real erlebte Gegenwart ist dabei Teil einer nicht enden wollenden Schöpfung, die ihrerseits wieder zum Teil der Traumzeit wird. Das Wort „Traumzeit“ basiert dabei auf einem Übersetzungsfehler. Der Anthropologe Francis James Gillen und sein Kollege, der britische Ethnologe William Baldwin Spencer, übersetzten das Wort „alcheringa“ der zentralaustralischen Aranda mit dem Wort „träumen“ (to dream). Allerdings hat die Traumzeit nichts mit solchen Träumen zu tun, wie wir sie im Schlaf erleben. Für Spencer und Gillen waren die Schilderungen der Ureinwohner, ihre Wahrnehmung und Verbindung zu ihrem Land und ihren Geschichten, ihr Begreifen von Schöpfung und Zeit dem ähnlich, was der Europäer im Allgemeinen mit „träumen“ assoziiert. Allerdings ist die Traumzeit, neben ihrer permanenten Schöpfungsgegenwart, eine Art Ordnung des Kosmos in natürlicher, spiritueller und moralischer Dimension. So stammen die Seelen der Aborigines aus dem Land oder von bestimmten Orten des Landes, an dem die Schöpfung besonders stark wirkt (bzw. dort Schöpfungswesen ihre Kraft in die Erde gegeben haben), und müssen nach dem Tod wieder dorthin zurückgebracht werden. D.h. Aborigines begreifen sich als Teil der Traumzeit, und ein Teil von ihnen kehrt auch wieder in die Traumzeit zurück. Daher ist die Rückführung der Gebeine der Ahnen so wichtig. Die im 19. und 20. Jahrhundert stattgefundene „Entwurzelung“ der Ureinwohner, die Trennung von ihrem Land, von der Traumzeit, könnte man vielleicht mit der europäischen Vorstellung vom Wiedergänger beschreiben, der keine Ruhe findet. In Antike und Mittelalter fürchtete man diese Form der Geistererscheinungen (und natürlich die Folgen für die Lebenden) am meisten.
Im Grassi Museum Leipzig geht es indes weder um Heimsuchungen noch um Angst. Es geht um Versöhnung, um Neu-Verwurzelung und eine Heimreise, die hart erkämpft ist. Birgit Scheps-Bretschneider, Kustodin der Australien- und Ozeaniensammlung hat sich gemeinsam mit dem Australian Gouvernment’s Indigenous Repatriation Program, Vertretern der Aborigines-Communities und den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens für die Rückgabe der Gebeine eingesetzt. Sie erzählt an diesem Abend von ihren eigenen Reisen nach Australien und den Ureinwohnern, mit denen sie seit über dreißig Jahren in Kontakt steht und menschlich sehr verbunden ist und wie schmerzhaft es oft für sie war, ihnen auf die Fragen nach den verschollenen Ahnen keine Antwort geben zu können. Auch Léontine Meijer-van Mensch, Direktorin des Grassi Museums Leipzig, betont immer wieder, dass diese nun stattfindende Rückführung im Grunde viel zu lange gedauert hat. Umso wichtiger sei es nun, mit den Übergaben neue Brücken zu bauen. Denn Brücken sind die beste Antwort gegen das Vergessen.
Wie bedeutsam die Rückführungen für die Aborigine-Communities sind, hängt aber nicht allein mit der Traumzeit, den Ahnen und den aktuellen Versöhnungsbemühungen der australischen Regierung zusammen. Es handelt sich bei diesen Rückführungen vor allem um Rückführungen von Identität. Und zwar im doppelten Sinne. „To take them home“, das richtet sich auch an heutige Generationen von Aborigines, deren Lebenswege in vielen Fällen von den einstigen Traumpfaden abweichen. Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogen, fehlende Perspektiven, Selbstmord. Es ist ein Leben zwischen zwei Welten und dem Gefühl und der Erfahrung, zu keiner von beiden zu gehören. Megan Krakouer, die als Sozialarbeiterin tätig ist, hat tagtäglich mit dieser Entwurzelung zu tun und versucht ebenso tagtäglich dagegen anzukämpfen. Ihre Rede ist eindringlich. Auch verstörend. Ausgrenzung und Formen von Teilhabe sind auch in Europa viel diskutierte Themen. Hört man die Lebensberichte aus Down Under, bekommen diese noch eine andere Dimension. Die Rückführung, das Erzählen, das Interesse von Medien und anderen Staaten, Museen, Ethnologen und Interessenten, es dient auch dem Zweck aufmerksam zu machen, den Fokus auf das Hinschauen zu legen, das Jetzt, das Hand in Hand mit dem Vergangenen geht.
Das Jahr 1788 gilt als so etwas wie das Schicksalsjahr für die Aborigines. Es ist das Jahr, in dem die Weißen kamen. Der britische Kapitän Arthur Phillip war es, der mit seiner Flotte, deren Ladung fast ausnahmslos aus Strafgefangenen bestand, in der Nähe des heutigen Sydney landete. Auch hierbei ging um eine Vertreibung aus der Heimat, ein Entfernen von Unerwünschten – auch eine Art Entwurzelung, wenn auch gänzlich anderer Art. Denn es ging auch um die Eroberung eines Kontinents. Nicht nur bewaffnete Konflikte, Massaker, Vergewaltigungen oder brutale Landnahme waren es, mit denen die neuen Siedler während des Aufbaus ihrer neuen Heimat gegen die Ureinwohner vorgingen. Vor allem waren es Krankheiten wie Pocken, Cholera oder Grippe, welcher die Aborigines zu Tausenden zum Opfer fielen. Gemessen am damals weltweit gültigen europäischen Standard von Bildung und Technisierung, muteten die Ureinwohner zudem wie Steinzeitmenschen an. Nomaden, die durch eine unwirtliche Welt wandelten. Ohne Pfeil und Bogen, Werkzeuge oder Gewehre. Menschen, die eins waren mit der Natur, für die das Land nicht den Menschen gehörte, sondern die Menschen dem Land.
Diese Einheit, diese beständige Interaktion von Geben und Nehmen, von Eingebundensein und dem Wissen, woher man kommt und wohin man geht, macht das Sozialgefüge der Aborigines zu einem der einzigartigen und auch faszinierendsten. Das Bewusstsein darum, vor allem von europäischer und australischer Seite, hat lange gebraucht, um Früchte zu tragen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Aborigines derart dezimiert, dass sie beinahe als vom Aussterben bedroht gelten. Es dauert dann noch bis in die 1960er Jahre, bis Organisationen sowie die Ureinwohner selbst, sich zunächst die australische Staatsbürgerschaft und schließlich die Bürgerrechte erkämpfen. Parallelen zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sind dabei unübersehbar. 2008 entschuldigt sich der australische Premierminister Kevin Rudd schließlich in seiner „Sorry“-Rede für Unterdrückung, Leid, Elend, Entwurzelung und in gewisser Weise auch Entmenschlichung. Es ist ein Schritt, der in die richtige Richtung weist.
Auch davon ist am Leipziger Novemberabend sowie am Tag der offiziellen Rückführungszeremonie die Rede. Von Vergebung. Und Vergessen. Oder besser gesagt Nicht-Vergessen. Mich überkam dabei das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, wenn auch nur für die eigene Ignoranz. Wann liest oder hört man in Deutschland oder generell in Europa etwas über Australien? Gerade der kleinste und der zweitkleinste Kontinent der Erde scheinen weiter voneinander entfernt zu liegen als der Mond, den man ja mit dem bloßen Auge sehen kann. Natürlich hat es sich die Presse nicht nehmen lassen, über die Rückführung, die Zeremonie und den Austausch der Dokumente zu berichten. Sogar die australische Botschafterin ist dafür extra von Berlin nach Leipzig angereist. Und nach dem sogenannten „Smoking“, dem Verbrennen verschiedener Pflanzen und Hölzer wie Eukalyptus und Birke, um Ahnen und Anwesende von negativen Energien und Geistern zu reinigen, nach den Gesängen, den warmen Worten und der Übergabe der offiziellen Zertifikate (denn nichts ist für den Europäer so bindend wie eine Unterschrift), hat sich das „to take them home“ endlich realisiert. Zumindest für dieses Jahr. Denn die bisherigen Rückführungen, in die sehr viel Recherche, Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen eingeflossen sind, sind nur ein kleiner Teil einer langen Reihe in Kisten gebrachten Unrechts. Man darf hoffen, dass sich die übrigen ebenso zügig und vor allem bürokratielos realisieren lassen.
Viele, die über die Ereignisse im Leipziger Grassi Museum während dieser beiden Novembertage 2019 in der Zeitung gelesen oder Ausschnitte davon in einer Reportage gesehen haben, haben eben jenes Gesehene und Gehörte vielleicht schon wieder vergessen. Wir leben in flüchtigen Zeiten. Ich bin sehr bewegt und dankbar gewesen, den Geschichten und Berichten und natürlich Uncle Moogys Gesängen lauschen zu dürfen und dabei einen kleinen Blick über den Tellerrand auf eine Kultur zu erhaschen, die für uns in Europa so unendlich weit entfernt scheint. Aber ist das tatsächlich so? Oder sind wir nicht doch alle Teil einer sich stets selbst erneuernden Schöpfung?
Das ist das Faszinierende bei der Begegnung zweier Welten, dass man immer voneinander lernen kann. Vielleicht liegt darin das wahre Brücken bauen. Australien und seine Ureinwohner werden mich künftig jedenfalls weiterhin beschäftigen.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
Birgit Scheps: Marayin. Die spirituelle Welt der Ureinwohner des Arnhemlands, Australien. Edition Hamouda: Leipzig, 2016.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Sehr wichtiger Beitrag! Dank an Birgit Scheps, dass sie uns die Kultur der Aborigines immer wieder nahe bringt – als Erinnerung an vergessene Seiten unserer eigenen Menschlichkeit.