Flüsse in Kulturgeschichte und Mythologie – ein Gespräch

Flüsse, riesigen Trompeten gleich, singen dem Ozean das Lied von der Schönheit der Erde, der Feldbestellung, der Pracht der Städte und der Menschen Ruhm. (Victor Hugo, 1842)


Flüsse sind vielleicht die gestaltgewordenen Träume
(Stefanie Jung)

Elmar Schenkel: Wir haben vor einigen Jahren gemeinsam – Anglisten und Slawisten – ein Seminar zum Thema „Flüsse“ gemacht. Wir stießen dabei auf viel Interesse, aber sahen auch große Fragezeichen in manchen Gesichtern: Was hat denn das mit Philologie zu tun, was mit englischer oder polnischer oder anderer Literatur?

Christian Trepte: Der Gedanke ein solches Seminar gemeinsam zu veranstalten ist u.a. auch aus einem Gefühl der Unzufriedenheit mit den vorgegebenen Modulen in Folge des Bologna-Prozesses, aber auch weitgehend vermisster, übergreifender interphilologischer, interdisziplinärer und intermedialer Zugänge entstanden. Flüsse waren diesbezüglich zu einer interessanten Herausforderung geworden, die Studierende der West- und Ostslawistik, Sorabistik, Geschichte wie auch weiterer Studienrichtungen in einer gemeinsamen Lehrveranstaltung in Zusammenarbeit mit Kommilitonen der Anglistik vereinen konnte.

Elmar Schenkel: Die Flüsse brachten uns einerseits zurück an die Ursprünge menschlicher Siedlungen, andererseits ging es um ihre Bedeutung heute, als Lebensadern im ökonomischen und im psychologisch-sozialen Sinn. Kann man sagen, dass Flüsse dazu beitragen, Identitäten von Gruppen oder Menschen zu befestigen?

Christian Trepte: Gemeinsam haben wir festgestellt, wie wichtig Wasserläufe für die nationale Befindlichkeit, das menschliche Zusammenleben, die Herausbildung individueller wie kollektiver kultureller Identitäten sind; sie können von identitätsstiftender Funktionen sein. Die in Breslau (Wrocław) lebende polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk hat sich mit Flüssen eingehend beschäftigt, ihnen zahlreiche ethnisch-nationale Grenzen überschreitende Bedeutungen zugemessen:

Sollte es sich plötzlich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen problemlos erlernbar sind, das Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem Hotel genauso zurecht finden können wie in jedem Buch, ganz gleich wie exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen. (Olga Tokarczuk: Die Macht der Oder, 2004)

Elmar Schenkel: Sollte man sagen, dass im kontinentalen Europa die Flüsse ganz besonders wichtig sind, weil sich immer wieder Grenzen verschoben haben und Flüsse solche Territorien bezeichnen? Man denke nur an den „Oder/Neiße-Vertrag“ oder an die territoriale Rolle von Wolga, Rhein und Elbe, von der Donau ganz zu schweigen, da geht es von der „Donaumonarchie“ zu den „Donauschwaben“ bis zur „Schönen blauen Donau“ – immer wieder ein Anhaltspunkt für ganze Gruppen und Städte (Wien, Budapest, Bratislava), die sich durch diesen Fluss definieren. Schade, dass der Strom die Völker nicht vom Krieg untereinander abgehalten hat. Wie sieht es in der slawischen Welt insgesamt aus? Was sind die Zuschreibungen für Flüsse?

Christian Trepte: Dem Wasser kommt in den slawischen Kulturen und Literaturen eine besondere Bedeutung zu, siedelten doch die Slawen zumeist in unmittelbarer Nähe von Gewässern, Flüssen, Bächen, Seen, hatten zu ihnen eine besonders innige Beziehung. Am Wasser entstanden viele ihrer Sagen, Legenden und Mythen von Wassergeistern, Wassermännern, Nixen und Vilen. Einige slawischen Stämme benannten sich nach Flüssen wie die an der Weichsel (Wisła) lebenden Weichselslawen (Wiślane). Aber auch Städtenamen, wie z.B. Rostock, können auf slawische Flussbezeichnungen, hier auf den auseinanderfließenden Flusslauf (roztok) der Warnow zurückgeführt werden. Flüsse können Bezugs- und Erinnerungsorte zugleich sein, sie können nationale und kulturelle Räume schaffen wie das Wolga-Gebiet, das Rhein-, Weichsel- oder Memelland. Sie können aber auch alte, historische wie neue Grenzen markieren, so u. a. Dnepr, Rhein, Oder, Elbe, Bug oder Olsa (polnisch Olza, tschechisch Olše), ein rechter Nebenfluss der Oder, der auch heute noch die Stadt Teschen in das polnische Cieszyn und das tschechische, Český Těšín, teilt. Wichtige nationale slawische Flüsse wie die Wolga, Weichsel oder Moldau (Vltava) bestimmen Sprach- und Kulturlandschaften, häufig werden sie besungen, so u. a. in Bedřich Smetanas Tonmalerei Die Moldau (Vltava) aus dem Zyklus Mein Vaterland (Má vlast).

Elmar Schenkel: In Deutschland ist es eher verpönt, Nationalismen an Flüssen zu errichten, zumindest seit dem Ende des Nationalsozialismus. Man denke an die deutsche Hybris, wenn im Deutschlandlied „Von der Maas bis an die Memel“ gesungen wurde. Oder wie der Vater Rhein zum Schutzgott gegen Frankreich aufgezäumt wurde, mit entsprechenden Denkmälern zur Seite – das Kaiserdenkmal in Koblenz, die Germania in Rüdesheim. Wenn sich aus Flüssen Reiter erheben oder schwer bewaffnete Damen, wird es gefährlich für die Nachbarn. Ich denke, im 19. und 20. Jahrhundert haben viele Länder ihre Flüsse ideologisch aufgerüstet, so dass sie in der politischen Rede und Ikonographie zu nutzbaren Allegorien wurden, eigentlich auch zu Waffen. Richard Wagners Opern, zum Beispiel Das Rheingold als Teil des Rings des Nibelungen haben diesen Fluss sozusagen mythisch aufbereitet für spätere Nutzer.

Christian Trepte: Eine durchaus vergleichbare nationale Vereinnahmung erfuhren auch slawische Flüsse. So verkörpert die Moldau (Vltava), mythischer Zeuge uralter Geschichten, seit der nationalen Wiedergeburt als der tschechische Fluss die Kontinuität tschechischer Geschichte und Kultur schlechthin. Die Weichsel (Wisła) wiederum ist nicht nur Polens wichtigster und größter Fluss, er ist auch der patriotische „Getreue Strom“, so Stefan Żeromski in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1912). Sein Flusslauf wurde als ein Gegenzeichen zum Hakenkreuz zum nationalen Symbol (Rodło) der Polen. An der „Vermählung mit der Weichsel“ wurden Fahnen mit diesem Zeichen feierlich in den Fluss eingetaucht. Der Universalkünstler des „Jungen Polen“, Stanisław Wyspiański, malte nicht nur den Weichselfluss, sondern schuf auch, von Richard Wagner inspiriert, seine literarischen Legenden (1897 und 1904). Als Nationaloper geplant, erzählt Wyspiańskis Libretto vom legendären König Krak und dessen Tochter Wanda, die sich lieber in den Weichselstrom stürzte, als den hartnäckigen Werbungen des deutschen Rittersmannes Rüdiger nachzugeben. Für diese patriotisch verstandene Tat schenke ihr der Künstler als slawische Nymphe ein ewiges Leben im Weichselfluss. Aufgrund der im 19. Jahrhundert einsetzenden Bewegung der nationalen Wiedergeburt, der Herausbildung von Sprachnationen und dem damit verbundenen Widerstand gegen sprachliche und kulturelle Unterdrückung (Polen, Böhmen, Mähren, Slowakei) sind national vereinnahmte Flüsse von besonderer Bedeutung.

Elmar Schenkel: Wie sieht es in der heutigen polnischen Literatur aus, welche Rolle spielen Flüsse dort?

Christian Trepte: Es sind keinesfalls nur die großen, bekannten Ströme wie zum Beispiel die Weichsel, die man gerne mit der großen Handelsstadt Danzig (Gdańsk) in Verbindung bringt, sondern auch kleinere, wie die Mottlau (Motława), die als Danziger „Stadtfluss“ sowohl in den gemalten Stadtansichten als auch in den literarischen Werken deutscher und polnischer Schriftsteller thematisiert wird, u.a. bei Stefan Chwin, Günter Grass oder Sabrina Janesch. Als wichtiger Handelsweg wird die Mottlau mit anderen großen europäischen Strömen wie der Seine oder Weser verbunden, so in den literarischen Gesprächen über die genannten Flüsse (Rozmowy nad Motławą, Sekwaną i Wezerą) von Marek Wittbrot. In einer verklärten, nostalgische Züge tragenden Literatur werden Flüsse häufig zum Ausdruck von Heimweh und Sehnsucht nach der Heimat, der Kindheit, der verflossenen Zeit. Flüsse können dabei selbst vom ungestillten Heimweh in zur Selbstheilung in der Fremde verfassten Werken sprechen. Zu ihnen gehören die „sentimentalen Flüsse“ der  verlorenen Heimat wie der Njemen (Niemen/Neman/Memel) und die kleine, liebliche Niewiaża in literarischen Texten des polnischen Nobelpreisträgers Czesław Miłosz. Sein Roman Tal der Issa (1980) ist eine poetische Liebeserklärung an seine alte Heimat, eine Evokation der eigenen Kindheit, ein Traktat über den menschlichen Reifeprozess. Der Fluss gleicht dabei dem universellen Strom des Lebens.

Elmar Schenkel: Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland die Flüsse derzeit weniger politisch, als vielmehr ökologisch bedeutsam sind. Wenn wir uns mit Flüssen und Nationalfragen beschäftigen, so nur im historischen Rückblick oder im Gespräch mit vor allem mittel-osteuropäischer Literatur. Ein Buch wie Claudio Magris’ Die Donau – über die es noch eine Reihe anderer Bücher gibt – hat uns nach langer Zeit wieder einmal mit einem Fluss und seinem politischen Schicksal, mit seinen kulturellen Phänomenen und seiner Literatur, ja sogar Philosophie bekannt gemacht. Für mich war das ein entscheidendes Werk, das mich überhaupt erst auf die Idee brachte, ein solches Seminar über Flüsse zu machen. Wie kam es bei dir zu dieser Idee?

Christian Trepte: Es begann eigentlich mit einem eindrucksvollen vorchristlichen Brauch zur Sonnwendfeier an der Weichsel, „wianki“ (Kränzchen) genannte. Junge Mädchen lassen aus Blumen und magischen Kräutern geflochtene, mit einem Kerzenlicht versehene Kränze bei Einbruch der Dunkelheit in das Wasser, in der Hoffnung auf diese Weise einen geeigneten Bräutigam zu finden. Die am Fluss wartenden jungen Männer versuchen einen solchen Kranz abzufangen, um sich anschließend auf die Suche nach der Besitzerin zu begeben.

Ökologische Fragen werden in vielen slawischen Ländern mit einer gewissen Verspätung diskutiert. Ich denke u.a. an die hitzigen Debatten den Bau von Staudämmen und die Regulierung großer Flüsse für die Schifffahrt betreffend. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an Valentin Rasputins Roman Abschied von Matjora (1976, deutsch 1985). Das Dorf Matjora muss durch den Bau eines Wasserkraftwerks und dem damit verbundenen Stau des Flusses verschwinden, seine Einwohner werden umgesiedelt. Die Idee ein Seminar über Flüsse zu machen ist tatsächlich eng mit der Lektüre entsprechender Texte, aber auch mit persönlicher Erlebnisse verbunden. In meinem Fall spielen europäischen Begegnungsflüsse  wie die Elbe, Donau und Oder eine wichtige Rolle. Hinzu kommen Bücher über heimische und fremde, mit Abenteuern und Entdeckungen verbundene Flüssen, die oft mit der Sehnsucht nach der unerreichbaren Ferne verbunden waren.

Elmar Schenkel: Das Seminar hatte in gewisser Weise ein Ungleichgewicht zu bestehen. Während sich deine Studenten vor allem mit ost-, südost- und mitteleuropäischen Flüssen beschäftigt haben, sind meine von den britisch-irischen Flüssen ausgegangen…

Christian Trepte: … das hört sich an, als ob die Flüsse englisch sprächen! Sicher haben Flüsse ihre eigenen Töne und Klänge; sie können am Rauschen, Murmeln, Schäumen, am Grollen und Brüllen, erkannt werden. Was würden wohl die Flüsse der Welt uns sagen, wenn sie mit uns kommunizieren könnten? Für Saša Stanišić heißt Fiktion, dass „Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben“, auch die Sprache gleicht einem Fluss: beide gewinnen durch ihre Zuflüsse Eigenmächtigkeit und Eigenständigkeit. Damit verbunden ist auch die Frage, ob Flüsse eine bestimmte Poetik bedingen können, sei es das „hydronomische Denken“ oder die „Flusslieder“.

Christian Trepte: Ja, wie sie das R rollen! Jede Sprachgruppe hört sich wohl selbst im eigenen Fluss sprechen, es ist eine ideale akustische Projektion, ein Echo der Kultur. Für die Literatur gilt ähnliches: – das heißt, die Flüsse wählen sich Autoren, die ihnen zur Sprache verhelfen – James Joyce, Mark Twain. Jedenfalls noch einmal dies: meine Studenten haben also auch Flüsse aus Asien, Südamerika und Afrika ins Buch genommen, Mekong, Kongo, Nil, Euphrat und Tigris und andere. Der Grund ist, dass auch diese Flüsse die Weltliteratur – bis hin zur Bibel – durchströmen. Die Slawisten haben dagegen nur Flüsse aus ihren Sprachgebieten gewählt. Ich finde das aber richtig, denn das eine spiegelt das andere sehr wohl. Je genauer man sich die Flüsse in Mittel- und Süd-Osteuropa anschaut, desto deutlicher wird einem, wie Flüsse in der ganzen Welt Kultur aufnehmen, sie begleiten oder auch ausspucken, wenn es ihnen zu viel wird. Es ist ein Mikrokosmos besonderer Art, in dem sich die Konflikte und Kulturen der Welt spiegeln. Aber vielleicht noch einmal zurück zur Frage der Nationenbildung durch Flüsse.

Christian Trepte: Tatsächlich sind wir im Rahmen unseres slawistischen Fluss-Seminars weitgehend im Bannkreis des Slawischen geblieben. Doch Grenz- wie Verbindungsflüsse sind auch Mittler zwischen den einzelnen, nicht nur slawischen Kulturen. Nicht zu vergessen die Bedeutung von Verbannung, Emigration und Migration, das Interesse für fremde, unbekannte Länder und Kulturen. In diesem Sinne werden exotische Flüsse wie der Nil, der Amazonas oder der Mississippi thematisiert. Das Koloniale bzw. Postkoloniale, das im englischen Kontext u.a. mit der literarischen Thematisierung von großen Flüssen in den Kolonien zusammenhängt, spielt in den meisten slawischen Literaturen eine untergeordnete Rolle. Postkoloniales ist allerdings auch im russischen, selbst im polnischen Kontext vorhanden, und das sowohl in Gestalt von Werken einer Entdeckungs- und Reiseliteratur als auch in Form einer postkolonial geprägten Literatur. In der russischen Literatur bildet der Terek im Süden des Russischen Reichs eine solche „zivilisatorische Grenze“ zum wilden, ungezügelten Kaukasus. Flüsse können auch als Hindernisse, als Bollwerke anderen Sprachen, Kulturen und Religionen gegenüber gesehen werden; sie können Kultur- und Mentalitätsgrenzen sein wie der Dnepr (Dnipro), der dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch zufolge den „Globus Ukraine fast idealtypisch in zwei Halbkugeln“ teilt. Ähnliche Vorstellungen gab es über den Rhein, so galt die rechte Flussseite als „Schäl Sick“, als die „falsche Seite“ des Flusses, auch als „Kultur- und Mentalitätsgrenze“ verstanden. Vergleichbares kann über die polnische Hauptstadt Warschau gesagt werde. Dort galt der östliche Stadtteil Praga auf der anderen Seite der Weichsel als „dunkel“, „gefährlich“, fast „halbasiatisch“; der Weichselfluss trennte aber auch das westliche, prosperierende Polen A vom östlichen, abgehängten Polen B.

Elmar Schenkel: – da sehen wir, dass die Flüsse bis in die heutige politische Lage hinein eine große Rolle spielen! Wie sieht es genauer aus in der Ukraine?

Christian Trepte: Wir sehen hier die ganze Brisanz aktuellen ukrainisch-ukrainischer bzw. ukrainisch-russischer Probleme. Die Ukraine war politisch, vor allem aber sprachlich-, kultur- und mentalitätsgeschichtlich ein gespaltenes Land. So lesen wir bei Andruchowytch: „Alles westlich des Flusses erscheint als seit ewigen Zeiten kultiviert, besiedelt, agrarisch und beständig, alles östlich davon hingegen als wurzellos-nomadisch, kolonisiert, proletarisch, verwüstet.“ (Atlas. Meditationen, 2005) In ihrer Zwischenstellung zwischen West- und Mitteleuropa auf der einen Seite und Russland auf der anderen, kommt dem Land eine Brückenfunktion zu, die einer einseitigen Vereinnahmung für (das westliche) „Europa“ oder „Russland“ widerspricht.

Elmar Schenkel: Ostelbisch und westelbisch, linksrheinisch und rechtsrheinisch – es verbinden sich immer wieder Stereotypen mit solchen Einteilungen.

Christian Trepte: Genau so ist es. Die Flussmetaphorik als Grenzziehung kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Dabei sind Flüsse nicht nur in Mittelosteuropas ein Spiegel historischer Prozesse. Sie wurden und werden funktionalisiert, sind wichtige Bestandteile messianischer Ideen in einer patriotischen, die Herzen stärken wollenden Literatur. Die kalten, ins nördliche Eismeer fließenden Ströme Sibiriens (Lena, Petschora, Kolyma) stehen für Deportation und Verbannung, für Arbeits- und Straflager, für die Gulags. Eine andere Bedeutung kommt dagegen den ins Schwarze Meer mündenden russisch-europäischen Flüssen zu wie dem „Väterchen Don“ in der Literatur Lew Tolstois, Michail Scholochows oder Viktor Jerofejews. Der Mythos „Mütterchen Wolga“ (Wasili Rosanow) gilt als Sinnbild Russlands, als Verkörperung des russischen Wesens, russischer Identität in zahlreichen Meistererzählungen der russischen Literatur, Malerei und Musik.

Elmar Schenkel: Ähnlich könnte man den Mississippi zur Zeit von Mark Twain als Grenze zwischen Sklaven haltenden Südstaaten und für die Sklavenbefreiung stehende Nordstaaten sehen. Auch er ist ein Strom der Sehnsucht und ein möglicher Weg in die Freiheit wie in die Unfreiheit. Dagegen ist der Kongo bei Joseph Conrad ein Weg zurück in die Tiefen der Wildnis und Evolutionsgeschichte, wobei dies gespiegelt wird in der Themse selbst, als einem übertünchten, nur dünn zivilisierten Kongo. Eine solche Sicht des Kongo zieht dann wiederum den Vorwurf des Rassismus auf sich, was ja bei Conrad geschah. Man kann ihn auch im Sinne deiner Deportationsliteratur lesen – Conrad geißelt die Unmenschlichkeiten des Regimes, das der belgische König errichtet hat, um Elfenbein zu gewinnen. Dafür werden Lager geschaffen, Menschen misshandelt und Raubzüge in großem Maßstab organisiert – klingt wie ein Vorspiel zum 20. Jahrhundert.

Christian Trepte: Wenn man dann noch an die Übersetzung des Kongo in den vietnamesischen Dschungel bei Coppolas Apocalypse Now und damit an den Mekong-Strom denkt. Hinzu kommen zahlreiche narrative Parallelen zwischen Conrads Buch „Herz der Finsternis“ als Vorlage und Inspiration für Coppolas Film… So fährt Captain Willard mit einem Patrouillenboot den Fluss hinauf bis nach Kambodscha, um den wahnsinnig gewordenen Colonel Kurtz (sic!) zu eliminieren. Die Kinoparaphrase gleicht einer grandiosen wie verstörenden Reise ins Innere der menschlichen Seele.

Elmar Schenkel: Der nicht mehr ganz junge Marlon Brando stieß zum Team im Dschungel, völlig unvorbereitet, übergewichtig – und doch wurde es ein Kultfilm, Brando spielte den größenwahnsinnigen Tyrannen mit Überzeugung.

Christian Trepte: Möglicherweise gerade aus diesem Grunde, Verlust von zivilisatorischen Werten, Dekadenz, Untergang des nur an der Oberfläche scheinbar zivilisierten, gezähmten Westens…

 Elmar Schenkel: Ja, ein Thema, das in der Literatur wie auch im Film von großer Bedeutung ist, nicht nur im Zusammenhang von Huntingtons „clash of civilizations“. Flüsse führen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das Meer ist die Zukunft und der Tod des Flusses. Das Thema des Todes scheint mir auch ein wichtiger Teil der Fluss-Symbolik zu sein. Der Ganges zum Beispiel – er bringt das Leben aus dem Himalaya nach Indien hinunter, aber er ist auch der Fluss, auf dem die Toten ausgesetzt werden. Varanasi, die Stadt am Fluss des Todes, des Übergangs in eine andere Welt. Auch das wurde immer wieder von der Literatur gesehen, beweint und gefeiert. Oder in den Filmen einer Deepa Mehta. „Water“ zum Beispiel, in dem es um das Schicksal indischer Witwen im Jahre 1938 geht. Ich war zufällig in Varanasi, als man versuchte den Film dort zu drehen und es zu Ausschreitungen von rechtsradikalen Hindus kam. Er musste dann Jahre später in Sri Lanka gedreht werden. Der Ganges ist hier als uraltes Symbol des Lebens und Weiterfließens zu sehen. Ich bin sicher, man wird solche Thematik auch in Osteuropa finden? Die Flüsse im Kontrast oder als Begleitung der Lagererfahrung – ob im Zweiten Weltkrieg oder später.

Christian Trepte: Das langsame Übergehen, das Aufgehen des Flusses im Meer bzw. im Ozean besitzt auch eine philosophische Dimension, die mit der Problematik Leben Tod, Eros und Tanatos, dem politischen Anspruch auf das Meer (die polnischen Feierlichkeiten der Vermählung des Binnenlandes mit dem Meer) verbunden ist, u. a. auf die griechische Mythologie zurückgeführt werden kann. Den Flüssen kommt in Katastrophen, Kämpfen, in Kriegen wie im Völkermord eine direkte, aber auch symbolisch-metaphorische Bedeutung zu. Elie Wiesels Autobiographie trägt den Titel „Alle Flüsse fließen ins Meer“ (1995), hier wird Geschichte erst durch Geschichten sichtbar: „Alle Flüsse laufen ins Meer, und das Meer wird doch nicht voll; an den Ort, wohin die Flüsse einmal fließen, dahin fließen sie immer wieder.“

Elmar Schenkel: Wenn wir an die alten Flüsse denken – Saraswati in Indien, Nil, Ganges, Euphrat und Tigris, dann sind diese doch immer Symbole der Fruchtbarkeit, des Lebens und der Bewohnbarkeit der Erde. Erst in der Moderne gibt es anscheinend diese Umkehrungen: die düsteren Flüsse der industriellen Revolution – ich denke an Dickens’ Themse in seinen Romanen, finster, Leichen anschwemmend, vergiftet wie die Gesellschaft, die dort ihren Abfall ablädt. Oder an Huysmans’ Briève.

Christian Trepte: Tatsächlich waren und sind Flüsse lebensspendend. Ihnen musste Land abgerungen werden, sie wurden eingedeicht, kanalisiert, urbar gemacht werden. Der Mensch machte die Lebensadern, vor allem in der Zeit der Industrialisierung, zu stinkenden Kloaken, zu Symbolen einer bevorstehenden Apokalypse. Oft verschwanden Flüsse, sie wurden unsichtbar gemacht, in den Untergrund, in unterirdische Kanäle und Röhren verbannt, so z. B. die legendäre Poltwa, ein Fluss, der einst die Verbindung der Handelsstadt Lemberg (Lviv) zum offenen Meer war. Das Thema der unterirdischen Flüsse fußt auf dem Mythisch-Metaphorischen wie auch auf dem Wirklichen, Realen. Flüsse nehmen die Opfer, die Toten, Ermordeten auf. Sie können in einem engen Zusammenhang mit Verbrechen, Verderben und Tod stehen (Tomasz Jastrun: Rzeka podziemna/Der unterirdische Fluss, 2005).

Elmar Schenkel: Sie sind allerdings auch mit den Kräften des Unbewussten verbunden. Ich denke an den Fluss Alphaeus in der griechischen Mythologie, der unter dem Meer fließt und in Sizilien wieder aufsteigt, an der Quelle der Arethusa in Syrakus. Der Philosoph Roger Caillois hat ihn als Symbol für die Kraft der Phantasie gesehen, die unterschiedlichsten Bereiche des Denkens zusammenzubringen – Le fleuve Alphée heißt eins seiner essayistischen Bücher über diese Diagonalen. Als Alph taucht er in Coleridges berühmten Gedicht „Kubla Khan“ auf und da ist er ziemlich deutlich ein Symbol der schöpferischen Energie des Unbewussten, „where Alph the sacred river ran“.

Christian Trepte: Flüsse unterliegen auch der Personifizierung, und sie können heilig sein. So vergleicht Olga Tokarczuk den Oderstrom mit einem „großen Lebewesen“, das häufig die von den Menschen aufgezwungenen Gesetze und Regeln übertritt. Der Bau einer Pontonbrücke, über die 1968 polnische Panzer den Oderfluss überquerten, um den Prager Frühling niederzuwalzen, wird als ein „unmoralischer“ Akt verurteilt, der den Fluss „entheiligt“ hatte.

Elmar Schenkel: In abgeschwächter Form hatten wir dies mit der Waldschlößchenbrücke bei Dresden. Da hatte man das Gefühl, dass die Heiligkeit der Elbe beschädigt würde. Vielleicht gilt das für jeden Brückenbau, weshalb es ja auch in alten Zeiten Opferungen dabei gab. Man opferte den Flussgöttern. Heute muss es eine Fledermaus tun. Oder man stellt ein Tempo30-Schild auf. Brücken und Flüsse – ein besonderes Verhältnis. Der Mensch versucht seine Macht über das Fließende auszudehnen, sei es mit Schiffen, Booten, Dämmen oder Brücken. Aber die Flüsse wehren sich. Oft sehen wir ja Flüsse als Tiere, wilde Tiere, die sich aufbäumen in Zeiten der Fluten.

Christian Trepte: Ja, denken wir an die vielen maroden Brücken in Deutschland wie die eingestürzte Carola-Brücke in Dresden, die als ein trauriges Symbol für die deutsche Infrastruktur stehen kann. Zu den sich wilden, ungezähmten Flüssen gehört im polnisch-slowakischen Kontext der malerische Bergfluss Dunajec, der das Pieniny-Gebirge an der ehemaligen polnisch-ungarischen Grenze durchbricht… Ihn gilt es wie die letzten uns verbliebenen Wildflusslandschaften zu schützen. Wir sollten natürlich auch die nostalgische Seite der Flüsse erwähnen, wie einst unsere Flüsse waren, wie sie aussahen, wie ihr wahres Wesen war. Denken wir an die durch uns bedrohten bzw. bereits verlorenen Lebensräume als eine existentielle Lebensgrundlage für Mensch und Natur.

Elmar Schenkel: Flüsse also auch als Heimat?

Christian Trepte: Ja, durchaus. Flüsse umströmen, durchströmen, definieren die Heimat, daheim und in der Fremde. Über das europäische Flusssystem, über die großen Ströme, die dem Meer entgegeneilen, kann der „heimatliche Erdenwinkel“ (Czesław Miłosz) zu einer „Adresse zum Paradies“ (Zofia Ilińska) werden. Heimat als gefundenes wie bedrohtes Paradies am Fluss, als Garten Eden. Der Fluss steht aber auch für das erbarmungslose Verrinnen der Zeit, für das Leben und Überleben, für die Geheimnisse, die Liebe, für Freude und Schmerz. Wie oft bleiben wir im Fluss der rasenden Zeit gefangen, verfluchen ihn, weil er sich nicht aufhalten lässt und in seinem Lauf auch keine Rückkehr gestattet…

Elmar Schenkel: Die Flüsse tragen die Zeit, das könnte man daraus schließen. Eigentlich merkwürdig, denn sie sind ja gleichzeitig das Unbeständigste, sie sind immer in Bewegung. Du steigst nie zweimal in denselben Fluss, sagt Heraklit. Wahrscheinlich nicht einmal einmal! Dass wir die Zeit oft mit einem Strom vergleichen, hat ja Auswirkungen auf die Literatur: den Bewusstseinsstrom, den die Moderne entwickelt. Virginia Woolf hat das Fluten des Wassers mit dem Fluten der Zeit in eins gesetzt. Wir versuchen immer wieder die Zeit sichtbar zu machen. Besteht sie aus Wellen oder Partikeln? Ist sie kontinuierlich oder sprunghaft? Die Literatur über Flüsse, der Roman als Fluss ist oft beides zugleich. Man denke an T.S. Eliots „The Waste Land“, in dem die Themse sowohl eine fließende Begleitmusik darstellt, zugleich aber sprunghaft evoziert wird, in Form von Splittern und Fragmenten, von Sprachfetzen, die herumtreiben im trüben Medium der modernen Stadt. Noch zwei letzte Fragen an dich: Nenne doch erstens bitte den Fluss, an dem du aufgewachsen bist und die Flüsse, an denen du später gelebt hast (ich denke, jeder sollte sich seine Flussbiographie schreiben). Und zweitens welcher Fluss, welche Flüsse für dich heute eine besondere Bedeutung haben.

Christian Trepte: In meiner ersten Heimat gab es zu meinem Bedauern keinen größeren Fluss. Vielleicht zog mich gerade aus diesem Grunde das Wasser, die ferne Flüsse und Meere geradezu magisch an. Flüsse standen für die Verbindung mit der Welt, sie waren fester Bestandteil meines Weltschmerzes, meiner Sehnsucht nach dem Fremden, Exotischen, Ausdruck meines Fernwehs. Der nächste größere Fluss meiner Kindheit war die Elbe, seinerzeit enorm verschmutzt, biologisch fast tot. Geblieben waren aber auch die Erzählungen meines Vaters und meiner Großeltern von einem lebendigen, sauberen Fluss, in dem man einst baden konnte. Heute gibt es den „Elbebadetags“ wieder, der von Tschechien über Dresden bis nach Hamburg begangen wird. Einst stand ich als Jugendlicher am Elbufer und träumte von einer großen Reise bis ins unerreichbare Hamburg. Heute kann ich, frei und ungehindert, dem Lauf der Elbe von ihrer Quelle im tschechischen Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee folgen, ich muss nicht mehr sehnsuchtsvoll den Schiffen auf dem Weg nach Hamburg und hinaus in die freie, weite Welt hinter hersehen… Immer noch sind für mich nach wie vor Flüsse von besonderem Reiz geblieben: Amazonas, Mekong, Rio de la Plata, Amur…

Und wie ist es bei dir?

Elmar Schenkel: Meine Flussbiographie beginnt mit drei kleinen Flüssen: Ahse, Rosenau und Schledde, in meinem westfälischen Heimatdorf. Etwas weiter weg: die Lippe, und die verband uns immerhin mit dem Rhein, der Rhein ging in die Nordsee, die Nordsee in die Südsee… Die frühen Flüsse waren für mich Orte des Spielens, Floßbauens, Träger von Geheimnissen, die sie aus der Ferne der Welt, aber auch der Vergangenheit mitbrachten. Einmal wurde die Ahse zum Grab, nämlich als ein Blödmann meinen Tomahawk hineingeschmissen hat, meinen echten Tomahawk, den mir ein Freund meines Vaters aus Ostberlin (das waren immer Ostpakete für mich) geschickt hatte. Dort wird er noch ruhen, nun also als Anker meines Lebens. Später zogen mich Flüsse an wie der River Severn kurz vor Wales, die Wolga, Ganges, Tiber und Themse. Immer noch möchte ich zum Mississippi. Denken wir also an die Flüsse der Zukunft!

Ein Gespräch mit Elmar Schenkel und Hans-Christian Trepte


Das Gespräch ist die überarbeitete Version eines früheren Gesprächs, das die Autoren in dem von ihnen herausgegebenen Buch Flüsse – Kultur und Literatur der Wasserwege (Edition Hamouda 2015) veröffentlicht haben, das wiederum auf ein Seminar mit Studierenden der Anglistik und Slawistik basiert. Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckerlaubnis.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Flüsse in Kulturgeschichte und Mythologie – ein Gespräch“

  1. …“von der Donau ganz zu schweigen, da geht es von der „Donaumonarchie“ zu den „Donauschwaben“ bis zur „Schönen blauen Donau“

    Flüsse müssen schon immer eine sehr große Rolle in den Köpfen der Menschen gespielt haben. In der Antike wurden die Flüsse personifiziert und es wurden ihnen Gottheiten zugeordnet. In der griechischen Mythologie beispielsweise hieß der Gott vom Unterlauf der Donau Istros. Der Unterlauf der Donau hieß demnach Ister ->

    https://www.mythologie-antike.com/t1075-flussgott-istros-mythologie-fluss-ister-unterlauf-der-donau

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