Es weihnachtet schwer 5.0: „Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren“

Frohe Weihnachten! Mit welchem Recht bist du froh? Aus welchem Grund bist du froh? Du bist doch ganz arm!“
Na komm”, versetzte der Neffe freudig. „Mit welchem Recht bist du trübsinnig? Aus welchem Grund bist du mürrisch? Du bist doch ganz reich!” (14)

Wir schreiben das viktorianische London. Arm und Reich leben durch einen tiefen Abgrund getrennt und doch dicht gedrängt in der, von den schwarzen Rauchwolken der Industrie überspannten Metropole. Allen täglichen Kämpfen und Sorgen zum Trotz liegt so etwas wie freudige Erwartung in der Luft. Denn es ist der 24. Dezember, der Tag vor dem Weihnachtsmorgen. Als Ebenezer Scrooge – alt, bitter und steinreich – die Zeit damit verbringt, seine ablehnende Haltung zum Weihnachtsfest kund zu tun und anderen die Freude gründlich zu verderben, hat er noch keine Ahnung, dass die vor ihm liegende Weihnachtsnacht alles verändern wird.

Ein Weihnachtsklassiker

Charles Dickens A Christmas Carol ist wohl eine der bekanntesten Geschichten über den Zauber des Weihnachtsfestes und erlangte durch vielfache Verfilmungen und Bühneninterpretationen nicht nur Berühmtheit, sondern auch Beliebtheit. Denn selbst wenn man nicht das Buch gelesen hat, so kennen doch viele Disneys Zeichentrickfilm Mickys Weihnachtserzählung, die 80er Jahre Filmadaption Die Geister, die ich rief mit Bill Murray in der Hauptrolle, oder die wohl jüngste, animierte Version mit Jim Carrey und Gary Oldman. Jeder scheint hier oder da einen Teil der Geschichte zu kennen, in der ein Geizhals von drei Geistern heimgesucht wird, nicht nur um ihm die wahre Bedeutung von Weihnachten, sondern auch sein eigenes egoistisches, hartherziges Verhalten klar zu machen, und ihn eines Besseren zu belehren. Ebenezer Scrooge, Protagonist der 1843 erstmals veröffentlichten Novelle, wurde über die Zeit zur Symbolfigur des grimmigen Geizhalses. Sogar der berühmte Geldscheffler unter den Comicfiguren wurde nach ihm benannt: Die Rede ist von Dagobert Duck, der in der englischen Originalfassung Scrooge McDuck heißt. Donald Duck’s berühmter Ausruf „Onkel Dagobert!“ bekommt daher als „Uncle Scrooge!“ einen völlig neuen Kontext, der in den deutschen Übersetzungen natürlich verloren geht. Denn auch der eigentliche Scrooge hat einen Neffen, Fred, der seinen Onkel trotz aller Hartherzigkeit wirklich zu lieben scheint und seinen Schimpftiraden mit versöhnlichen Worten und unbezwingbarer Positivität begegnet. Er bildet sein empathisches Gegenstück und spricht im Verlauf der Erzählung viele Wahrheiten aus, deren Bedeutung Ebenezer Scrooge am Ende selbst erkennen wird.

Im Englischen ist das Werk in fünf staves, ‘Strophen‘, unterteilt und bezieht sich auf seinen ursprünglichen, vollen Titel A Christmas Carol. In Prose. Being a Ghost Story of Christmas, welcher erst im Laufe der Zeit zu A Christmas Carol abgekürzt wurde. Carol bedeutet so viel wie ‘Lied‘ oder ‘Gesang‘ und schließt an die Tradition der gemeinsamen Singens und der umherziehenden Sternsinger zur Weihnachtszeit an. Charles Dickens Geschichte ist in dem Fall ‘Ein Weihnachtslied in Prosa – Eine Geistergeschichte zu Weihnachten‘ und wird dem Genre der Gothic fiction – der Schauerlitertur – zugeordnet. Obwohl man ihre Unheimlichkeit und die Verwendung übernatürlicher Elemente nicht mit anderen Beispielen der Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Bram Stokers Dracula, gleichsetzen kann, so sind sie doch unübersehbar vorhanden. Der Schrecken, der durch die Geister verbreitet wird, ist nicht das Hauptaugenmerk der Erzählung, sondern ein Mittel zum Zweck, um zu einem bestimmten Schluss zu gelangen. Geister haben seit jeher ihren Platz in der Literatur und erfüllen die unterschiedlichsten Funktionen. So erscheinen sie als Verkörperungen von Erlebnissen, Ängsten und ungelösten Problemen und suchen die Lebenden heim, oft nicht um ihnen zu schaden, sondern um sie zu warnen. Dass sie meist in Gestalt einer vertrauten, verstorbenen Person auftreten, stellt nur noch einen engeren Bezug zu der gegenwärtigen Problematik dar. So ist es auch im Fall des Ebenezer Scrooge.

„Ich trage die Kette, die ich im Leben geschmiedet habe“

Wie schon erwähnt, beginnt die Geschichte mit der ersten Strophe am Tag vor Weihnachten, das traditionell am 25. Dezember gefeiert wird. Der Leser wird zu allererst darüber informiert, dass ein gewisser Jacob Marley, langjähriger Geschäftspartner und einziger „Freund“ des Protagonisten Ebenezer Scrooge, tot ist und bei seinem einsamen Begräbnis lediglich eben dieser zugegen war – nicht so sehr aus Trauer, sondern aus geschäftlichen Gründen. Während man sich noch fragt, was für ein Mensch dieser Marley gewesen sein muss, dass sonst keiner seinem Begräbnis beiwohnt, wird bereits näher auf die Hauptfigur eingegangen und die Frage beantwortet sich indirekt von selbst. Nur ein scheußlicher Mensch scheint der Freund eines ebenso scheußlichen Mannes wie Ebenezer Scrooge sein zu können.

Oh!, aber er war ein alter Geizkragen, dieser Scrooge!, ein drängender, zerrender, packender, scharrender, schnappender, habsüchtiger alter Sünder! Hart und scharf wie ein Flintstein, aus dem noch kein Stahl kräftiges Feuer geschlagen hatte, zurückhaltend, verschlossen und einsam wie eine Auster. […] Kein Bettler bat ihn um ein Scherflein, kein Kind fragte ihn nach der Uhrzeit, kein Mann, keine Frau erkundigten sich bei Scrooge in seinem ganzen Leben nach dem Weg zu diesem oder jenem Ort.” (10-11)

Das gemeinsame Warenhaus leitet Scrooge nun allein, nur mithilfe eines einzigen Angestellten, Robert „Bob“ Cratchit. Dort wird er von seinem Neffen Fred aufgesucht, der ihn, wie jedes Jahr, zum Weihnachtsessen in sein Haus einläd, was Scrooge jedoch auch diesmal ausschlägt. Für das Weihnachtsfest hat Scrooge nur eine Meinung übrig: Humbug! Seine ganze Ablehnung, ja, seinem Hass gegenüber dem Fest, macht er lauthals Luft – was sei Weihnachten denn „eine Zeit, in der du Rechnungen ohne Geld bezahlst, eine Zeit, um wieder ein Jahr älter zu sein, aber keine Stunde reicher,“ (14). Nachdem sein Neffe gegangen ist, sieht sich Scrooge von zwei Herren besucht, die um Spenden für einen Fond bitten, welcher den Armen zu Weihnachten zugute kommen soll. Ärgerlich und mit derben Worten entlässt Scrooge die Beiden, deren Ansinnen er aus vollstem Herzen ablehnt. Seine Hartherzigkeit wird noch deutlicher, als er seinen Angestellten Cratchit zwar den Weihnachtstag frei gibt – der einzige Tag im Jahr – , allerdings dafür den Lohn streicht.

Als er an diesem Abend in seine trostlose Wohnung zurückkehrt, bekommt er den ersten Vorgeschmack auf die Ereignisse, die in der Nacht folgen werden. Statt des Türklopfers an seiner Haustür erscheint ihm Marleys Gesicht, einen Moment später jedoch, ist es verschwunden und Scrooge glaubt seiner Einbildungskraft erlegen zu sein. Auch in seiner Wohnung scheint alles normal, bis ihm Marleys Gesicht auf einer der Kacheln rund um seinen Kamin und schließlich Marley selbst erscheint. Er ist ein vierter Geist, der erste, der ihm erscheint und der gesondert von den übrigen zu betrachten ist. Ähnlich wie der Geist des alten König Hamlet zu seinem Sohn zurückkehrt, um diesen zu warnen und in Mysterien einzuweihen, von denen dieser nichts ahnen kann, erscheint Marley als ein Bote aus dem Jenseits. Sein geisterhafter Körper ist unter einer schweren Kette gebeugt, an der er Objekte des iridischen Lebens, wie Geldkassetten und so weiter, hinter sich herzieht. Obwohl zuerst perplex, begegnet Scrooge auch diesem Besucher mit seiner üblichen Ruppigkeit – diesmal aufgesetzt – und wirft ihm vor, lediglich das Produkt einer Magenverstimmung zu sein. Der Geist lässt sich jedoch nicht beirren und beginnt seine Geschichte zu erzählen.

Im Laufe seines Lebens habe er sich diese Kette selbst durch Gier und Herzlosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen geschaffen. Nach seinem Tod konnte er keinen Frieden finden sondern muss nun unter den Menschen wandeln, und erscheine Scrooge in der Nacht seines Todes – Marley war vor sieben Jahren in der Weihnachtsnacht gestorben – um ihn vor seiner eigenen, schon jetzt gewaltigen Kette zu warnen. Dann prophezeit er ihm, dass die folgende Nacht seine einzige Chance sein werde, etwas daran zu ändern.

Heute Abend bin ich hier, um dich zu warnen, dass du noch eine Chance und die Hoffnung hast, meinem Schicksal zu entrinnen. […] Du wirst“, sprach das Gespenst, „von drei Geistern aufgesucht werden. […] Erwarte den ersten morgen, wenn die Glocke ein Uhr schlägt.” (37)

Kaum ist der Greist verschwunden, quittiert Scrooge den ganzen Vorfall mit seinem typischen Ausruf “Humbug!” und legt sich schlafen.

„Ein Kind, von seinen Freunden vernachlässigt, ist noch da.“

Die zweite Strophe beginnt mit dem Auftreten des ersten, von Marley prophezeiten Geistes. Der Geist der vergangenen Weihnacht. Seine Erscheinung ist höchst eigenartig, „wie ein Kind, und doch weniger ein Kind als wie ein alter Mann” (43) in weißem Kleid, mit einem Stechpalmenzweig in der Hand und einem Schein, wie der einer Kerze, um den Kopf. Passend zu letzterem, trägt er auch ein Löschhütchen unter dem Arm. Dieser Geist entführt Scrooge auf eine Reise zu den Schatten der Vergangenheit. Der Leser erfährt vom kleinen Ebenezer, der einsame Weihnachten auf Wunsch seines Vaters in einem Internat verbrachte; von der engen Beziehung zu seiner kleinen Schwester, die als junge Frau starb und der Lehrzeit bei dem gutmütigen Mr Fizziwig. Es ist ein Versuch, dem alten, bitteren Mr Scrooge zu zeigen, dass er nicht immer so war, wie er in der Gegenwart ist, und ihm dabei zu helfen, seine eigene Vergangenheit zu bewältigen; und tatsächlich beginnt die starre Fassade des Ebenezer Scrooge hier und da schon ein wenig zu schwanken. Die Symbolik der Armut und des Reichtums tritt in vielerlei Form auf: der Armut an Beachtung durch den Vater und die finanziellen Nöte, in denen er als junger Lehrling steckte. Die enge Verbundenheit zu seiner Schwester, welche für ihn das Größte war, oder eine betriebliche, einfache Weihnachtsfeier zeigen ihm, das Menschen kein riesiges Vermögen brauchen, um glücklich zu sein. Als Leser erhält man immer mehr Einblick in Scrooges Seelenwelt und, obwohl er durch viele Bemerkungen immer noch wenig sympatisch scheint, versteht man seinen Charakter doch besser.

Ein Kapitel der Reise in die Vergangenheit schmerzt Scrooge jedoch besonders, denn der Geist der vergangenen Weihnacht lässt ihn auch seine erste, große Liebe sehen. Und wie er sie verlor. Oder besser gesagt, wie er sie gegen das Geld eintauschte.

Er sei ein anderer, jetzt, da er zu Wohlstand gekommen sei. Das sei ihm nicht genug, sagt Belle, seine große Liebe, und so habe ein ‚goldenes Idol‘ sie verdrängt. Sie spricht sanft zu ihm, trotz ihrer Worte, die die harte Wahrheit beinhalten: er versprach sich ihr, als sie beide noch arm waren und nun würde er sich niemals um sie bemühen. Scrooge leugnet es, doch es hat keinen Zweck:

Ich würde mit Freuden anders denken, wenn ich’s nur könnte“, anwortete sie. „Weiß der Himmel! […] Wärst du aber heute, morgen, gestern frei, kann sogar ich glauben, dass du ein mittelloses Mädchen wählen würdest – du, der du selbst in deiner Vertrautheit mit ihr alles mit Gewinn abwiegst: oder, solltest du sie wählen, wenn du einen Augenblick lang deinem einen Leitprinzip gegenüber untreu geworden wärst, weiß ich denn nicht, dass Reue und Bedauern bei dir sicher folgen würden? Ich weiß es, und ich gebe dich frei. Mit vollem Herzen um der Liebe zu dem willen, der du einmal gewesen bist.” (64)

Sie verlässt ihn und der alte Scrooge, welcher als onmächtiger Zuschauer Zeuge werden muss, ist zutiefst gequält von diesem Anblick. Als ihm der Geist seine frühere Liebe viele Jahre später zeigt, umringt von ihren Kindern und mit Ehemann in glücklicher Harmonie, ergreift Scrooge in seiner Verzweifulng die Löschkappe, welche dem Geist zur Seite liegt und löscht diesen aus. Kurz darauf findet er sich in seinem Zimmer wieder, totmüde, und geht zu Bett, wohlwissend, dass dies noch nicht alles war.

„Herein! und kenne mich besser, Mensch!“

Als es die richtige Zeit schlägt, erwacht Ebenezer und folgt dem Feuerschein, der durch die Tür fällt, ins Zimmer nebenan. Dieses findet er wohlig, warm und weihnachtlich dekoriert und ein riesenhafter Mann sitzt, umgeben von einem Berg herrlichen Essens und mit einer Fackel in der Hand, auf seinem Sofa. Er ist in ein langes, grünes, mit Pelz verbrämtes Gewandt gekleidet, hat lange braune Haare und seinen Kopf ziert eine Krone aus Stechpalme. Das Auffälligste an ihm ist jedoch seine fröhliche, lustige Art. Das Äußere des Fremden mag den ein oder anderen an Jesus mit der Dornenkrone erinnern und auch die Verbindung zu Jesu Geburt als Anlass für das Weihnachtsfest wird sogleich hergestellt: Der Geist erzählt von seinen 1800 Brüdern, die vor ihm schon der Geist der gegenwärtigen Weihnachten waren – denn der und kein anderer ist es, der Scrooge nun gegenüber sitzt. Jedes Jahr, seit Jesu Geburt und der daraus resultierenden Geburt des Weihnachtsfestes, gibt es einen Geist der gegenwärtigen Weihnacht, die alle ein recht grausames Schicksal teilen: ihre Lebenszeit ist an die heilige Nacht gebunden und von kurzer Dauer.

Dieser Geist nimmt Scrooge mit auf eine Tour durch die weihnachtlichen Straßen Londons. Dabei sieht Scrooge seinen Angestellten Cratchit zum ersten mal als mehr als nur einen ihm untergebenen Arbeiter. Dessen Familie ist alles andere als gutsituiert und neben dem Lohn des Hausvaters auch auf den der ältesten Tochter angewiesen, die bei einer Putzmacherin in Stellung ist. Trotzdem ist die Weihnachtsfreude bei den Cratchits groß. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem kleinen Tim (Tiny Tim), der durch eine körperliche Behinderung gezwungen ist an Krücken zu gehen und stets kränkelt. In ihrer Armut ist es den Eltern jedoch nicht möglich, eine bessere medizinische Versorgung zu bezahlen. Es ist an diesem Punkt, dass Scrooge eine tatsächliche Veränderung durchmacht, sieht er doch sich selbst in dem kleinen Tim. Die Antwort auf seine Frage nach der Überlebenschance des Kindes wirft ihn in tiefe Verzweiflung:

Ich sehe einen leeren Platz“, erwiederte das Gespenst, „in der ärmlichen Kaminecke und eine Krücke ohne Besitzer, sorgsam aufbewahrt. Bleiben diese Schatten von der Zukunft unverändert, wird das Kind sterben.” (86)

Der Geist reagiert höhnisch auf seine Gefühlsregungen und erinnert Scrooge an seine eigenen Worte, dass weniger Arme doch lediglich zur Verringerung der Überbevölkerung beitragen würden. Diesen, gezwungenermaßen konfrontiert mit der ärmlichen Realität seines Angestellten, reuen seine Worte nun. Doch ist er mehr als überrascht, als jener sein Glas auf ihn erhebt, obwohl seine Frau ihn dafür bitter tadelt. Ein so scheußlicher Mann verdiene es nicht, dass man auf ihn trinke, doch Cratchit entgegnet lediglich, dass es Weihnachten sei, eine Zeit, in der man vergibt. Allerdings dimmt der Name des Mannes, der „das Ungeheuer der Familie ist” (87) die Weihnachtsstimmung sichtlich und Scrooge ist erneut zutiefst von Scham und Schuld erfüllt.

Der Geist und Scrooge verlassen die Cratchits und finden sich bei Scrooges Neffe wieder, der in einer Gruppe von Freunden das Weihnachstfest feiert. Diese haben nicht viele freundliche Worte für dessen Onkel übrig, doch Fred, der Sohn von Scrooges geliebter Schwester, nimmt ihn immer wieder in Schutz, wobei er sich eher mitleidig über diesen äußert. Es ist eine ausgelassene Zusammenkunft und obwohl er immer wieder das Ziel für Sticheleien ist, möchte Scrooge bleiben und noch länger zusehen. Daraus wird jedoch nichts, denn der Geist führt ihn fort um noch andere Haushalte zu besuchen.

Hier wird Scrooge plötzlich bewusst, dass der Geist im Laufe ihrer gemeinsamen Reise merklich gealtert ist. Bei seiner näheren Betrachtung fällt ihm auch etwas auf, das unter dem Saum des langen Gewandes hervorschaut: es sind zwei Kinder, oder kindähnliche Gestalten, die der Geist da verborgen hielt. Kinder der Menscheit, Dummheit und Not, wie er sie nennt. Diese will er Scrooge überlassen und auf dessen Frage, ob sie denn keine Bleibe hätten, reagiert er erneut höhnisch mit Scrooges eigenen Worten:

Gibt es denn keine Gefängnisse?“, sagte der Geist und wandte sich ihm ein letztes Mal mit dessen eigenen Worten zu. „Gibt es denn keine Arbeitshäuser?” (104)

Die Glocke schlägt und Scrooge sieht sich an der Stelle des Riesen seinem letzten Geist gegenüber.

„Langam, gravitätisch, lautlos“

Die dritte und letzte Erscheinung, der Geist der künftigen Weihnachten, wird nur als Phantom in langem Kaputzenmantel beschrieben, das lautlos wie Nebel wabert. Während die beiden vorigen Besucher beide recht gesprächig waren, lässt dieser nicht ein einziges Wort an Scrooge verlauten.

Gespenst der Zukunft!“, rief er aus, „ich fürchte dich mehr als jede andere Erscheinung, die ich gesehen habe. Doch da ich weiß, dass es deine Absicht ist, mir Gutes zu tun, und da ich hoffe, einmal ein anderer zu sein als der, welcher ich gewesen bin, bin ich bereit, dir Gesellschaft zu leisten, und dies mit dankbarem Herzen. Möchtest du nicht mit mir sprechen?“ Es gab gab ihm keine Antwort. Die Hand wies nur geradeaus.” (107)

Allein diese Aussage zeigt, wie groß der Wandel in Ebenezer Scrooges altem Herz Fuß gefasst hat. Irgendwo zwischen den Geistern der vergangenen und gegenwärtigen Weihnacht, hat er begonnen zu begreifen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, zurück zu seiner Wirklichkeit zu finden. Um dorthin zu gelangen und in irgendeiner Weise den Lauf der Dinge zu verändern, muss er den Weg bis ganz zum Schluss gehen. Die Frage dabei ist nur, ob er es ertragen kann.

Zuerst führt der Geist Scrooge zu einer Konversation zwischen ein paar Herren, die von dem Ableben einer ihm unbekannten Person sprechen. Offenbar war diese ein Mann von beachtlichem Vermögen und weithin bekannt, doch die Gespräche sind wenig freundlich, eher gleichgültig bis schadenfroh. Zuerst wundert sich Scrooge: warum sollte der Geist ihm solch unwichtige Gespräche zeigen? Was hat es mit ihm zu tun? Er wird zu einem weiteren Gespräch in den Armeleutewinkel von London geführt, wo in einem Laden von zweifelhaftem Ruf recht teure Dinge von einer Gruppe Leute verkauft werden. Wieder wird von einem Verstorbenen gesprochen, dem die Verkaufenden offenbar untergeben waren, und dem keine Träne nachgeweint wird. Besonders über ein paar Bettvorhänge, die derjenige noch abgenommen hat, als der Tote im Bett aufgebart lag, wird sich amüsiert; die Pietätlosigkeit des Ganzen trägt nur zu weiterer Erheiterung der Gruppe bei.

Scrooge ist entsetzt, solch ein Verhalten schreckt ihn mehr ab als er vermutlich zu träumen wagte.

Geist!“, sagte Scrooge, vom Kopf bis zum Fuß zitternd. „ich versteh’s, ich versteh’s. Der Fall dieses Uglücklichen könnte auch der meine sein. Mein Leben strebt jetzt da hin. Gnädiger Himmel, was ist das!” (118)

Der Schauplatz hat sich, während er spricht, wieder verändert und die Plötzlichkeit von Lärm zu Todenstille, sträubt Scrooge das Haar: Ein Zimmer, dunkel, kalt und fast leer geräumt. Vor ihm steht ein Bett ohne Vorhänge und darauf liegt etwas in Laken gehüllt, das ihn mit Grauen erfüllt. Auch das Phantom zeigt stumm auf das Ding, welches da verborgen ist. Tausend Gedanken jagen durch Scrooges Kopf, allen voran, weshalb der Tote so allein liegt, mit keinem Menschen weit und breit, der ihn betrauert. Er möchte gehen, doch der Geist weist nur auf den Toten, bis Scrooge ihn fragt, ob nicht jemand seinetwegen auch nur ein Fünkchen fühle. Da zeigt ihm das Phantom ein Paar in verzweifeltem Austausch; sie haben Schulden und ihre Gläubiger sitzen ihnen unnachgiebig im Nacken. Doch nun, so sagt der Mann, bestehe Hoffnung, denn er sei tot. Und so ist ihre Regung, die einzige wirkliche Regung, die Scrooge des Toten wegen sieht, die Freude, dass ihre Schulden womöglich von ihnen genommen sind.

Ein weiterer Sprung und Scrooge findet sich in einem ihm nun vertrauten Haus wieder: das Haus der Cratchits. Eine seltsame Stimmung liegt über der Gesellschaft und Robert Cratchit selbst tritt ein, gebeugt und gezeichnet. Davon sprechend, wie er ‚ihn‘ an einem besonders ruhigen und schönen Ort zum Sonntag besuchen wird, bricht er zusammen. Srooge ist entsetzt, als er versteht, dass sich auch in diesem Haus ein Tod ereignet hat. Wessen Tod es ist, wird Scrooge sofort klar. An diesem Punkt ist der alte, eisige Herr so tief getroffen und resigniert, dass er nur noch weg und die Sache zu Ende bringen will.

Sie erreichen die letzte Station ihrer Reise und erneut umfängt sie Stille. Zuerst ist Scrooge verwirrt, doch nach einigen Momenten erkennt er, wohin ihn der Geist geführt hat. Der bisherige Weg sollte ihm nur die letzte, erbärmlich einsame Reise des Toten zeigen, nun sind sie an seiner Ruhestätte angekommen: einem Kirchhof. Dort zeigt der Geist, ohne zu zögern, auf einen Grabstein.

Bevor ich mich dem Stein nähere, auf den du zeigst“, sagte Scrooge, „beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur diejenigen, die sein könnten?‘ Noch immer zeigte das Gespenst auf das Grab, bei dem es stand. […] Scrooge schlich hin, zitternd, und indem er dem Finger folgte, las er auf dem Stein des vernachlässigten Grabes seinen Namen, EBENEZER SCROOGE.” (128)

Es ist kein Zufall, dass der Geist der künftigen Weihnachten als Tod auftritt, denn dies ist alles, was die Zukunft für Scrooge bereit hält. Keine Familie, keine Freunde, sondern nur einen einsamen Tod. Der ganze Weg, den er zurückgelegt hat, gipfelt in dieser Szene, in der Scrooge dies bewusst wird. Er bricht zusammen, voller Angst und Grauen.

Geist!“, rief er und packte ihn fest am Gewand, „hör mich an! Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich werde nich derjenige sein, der ich wohl gewesen wäre, wenn’s diese Begegnung nicht gegeben hätte. Warum zeigst du mir das, wenn’s keine Hoffnung für mich gibt! […] Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr hindurch zu begehen. Ich werde in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister aller drei sollen in mir ringen. Die Lehren, die sie erteilen, will ich nicht aussperren. O sag mir, dass ich die Schrift auf diesem Stein auswischen kann!” (130)

In seiner Verzweiflung greift er nach dem Geist, greift seine Hand und sein Gewand, doch dieser stößt ihn zurück. Das Gespenst weicht, schrumpft, schrumpft und zerfällt, verschwindet in einem Bettpfosten.

„Das Ende vom Lied“

Von einem Moment auf den nächsten findet sich Scrooge in seinem Zimmer wieder. Im Schockzustand, anders kann man es wohl nicht beschreiben. Er sieht sich in seiner Verwirrung um und interessanterweise sind es seine Bettvorhänge, die er wohl in seiner Panik herabgerissen, aber noch immer dort hängen hat, die ihn davon überzeugen, dass alles eine Vision war. Wie viel Zeit vergangen ist, davon hat er keine Ahnung und so rennt er an sein Fenster und fragt einen vorbeigehenden Jungen, welcher Tag es ist. Dieser reagiert verständlicherweise etwas perplex. Und mit dem Ausruf „Na, WEIHNACHTEN!” (134). In diesem Augenblick begreift Scrooge, dass seine lange Reise in einer Nacht stattfand – nicht in einem Monat, nicht in einem Jahr, eine Nacht ist vergangen und er ist überglücklich, dass er das Weihnachtsfest nicht verpasst hat.

Seine erste Amtshandlung ist es, den Jungen zum Geflügelladen zu schicken um einen sehr großen ‚Preisputer‘ – einen Truthahn – zu kaufen und ihn an die Cratchits zu liefern. Dafür verspricht er dem Jungen ein gutes Geld und dieser eilt davon. Den ganzen folgenden Morgen ist Scrooge geradezu euphorisch, kleidet sich sorgfältig an und geht aus – mit einem Lächeln im Gesicht, das alle, die ihn kennen, geradezu erschreckt. Er trifft auf einen der Herren, die den Tag zuvor um Spenden baten und dieser glaubt wohl einen Doppelgänger vor sich zu haben, so artig und mürbe entschuldigt sich Scrooge bei ihm. Das Versprechen einer großen Spende verwundert ihn noch mehr, doch sieht er wohl, dass es Scrooge durchaus ernst ist. Keine Spur ist mehr zu sehen von dem geizigen, verbitterten Mann, sein Gemüt hat sich komplett gewandelt.

Er ging zur Kirche und lief durch die Straßen und sah, wie die Leute hin und her hasteten, tätschelte Kinder auf den Kopf, befragte Bettler, schaute in die Küchen der Häuser hinab und erkannte, dass alles ihm freude bereiten konnte. Er hätte sich nie träumen lassen, dass ein Gang – dass überhaupt etwas – ihm so viel Glück bescheren konnte.” (137)

Doch mit seiner guten Tat der Spende ist Scrooges Mission der Rehabilitation noch nicht beendet. Er besucht seinen Neffen zum Abendessen, welches er noch den Tag zuvor mit harten Worten ausgeschlagen hatte, und dessen Freude ist offensichtlich. Auch als die weiteren Gäste eintreffen, ist Scrooge so weit davon entfernt die Gesellschaft zu geringschätzen oder ihre Spiele mit Bitterkeit zunichte zu machen, dass er auch hier für Verwunderung sorgt. Keiner kann begreifen, woher dieser Sinneswandel kommt und Scrooge erzählt keinem davon. Er verbringt einen famosen Abend, wohlwissend, dass am nächsten Tag sein wichtigstes Vorhaben ansteht.

Am Morgen ist er sehr früh im Kontor, noch vor seinem Angestellten – der eigentlich sogar noch eher da sein sollte – und gibt sich ganz wie das Scheusal, dass er gewesen war. Doch im Angesicht der Angst seines Angestellten, der sich immer wieder entschuldigt, ist es dem neuen Scrooge nicht möglich, diese Maskerade lange aufrecht zu erhalten. Mit dem Versprechen auf mehr Gehalt und dem Ausruf ‚Frohe Weihnachten, Bob!‘ erschreckt er Cratchit vermutlich beinahe zu Tode. Erst nach und nach begreift dieser, dass Scrooge sich keinen Spaß mit ihm erlaubt, sondern es tatsächlich ernst meint.

Dies ist das Ende der Geschichte von Ebenezer Scrooge. In einem sehr kurzen Paragraphen, fast ein Epilog, berichtet der Erzähler davon, wie er sein Wort hielt und mehr als das.

Manche lachten, als sie die Veränderung an ihm wahrnahmen, er aber ließ sie lachen und schenkte ihnen kaum Beachtung, denn er war so klug zu wissen, dass auf diesem Erdenrund nicht zum Guten geschah, ohne dass manche am Anfang kräftig lachten, und da er wusste, dass solche Leute ohnehin blind waren, fand er es ebenso gut, dass sie die Augen zum grinsen kniffen, wie dass sie die Krankheit in weniger reizvoller Form hatten. Ihm jedenfalls lachte das Herz, und das genügte ihm vollkommen.“ (140)

Den Menschen einen Spiegel vorhalten

Aller guten Dinge sind drei. Oder vier, in Scrooges Fall. Denn es war sein alter Partner Marley, der selbst im Tod noch seinen Geschäftspartner vor einem unseligen Ende warnte und damit vielleicht von Anfang an derjenige mit dem größeren Herzen war. Es ist eine klare Botschaft, die Dickens mit seiner Christmas Carol sendet und die sich in jeder Zeit unumstößlicher Wahrheit erfreut. Viele tausend Umstände können uns zu dem machen, was wir sind und in den meisten Fällen muss in unserer weiten Vergangenheit angesetzt werden. Ein Junge, dessen Vater ihm die Schuld am Tod der geliebten Frau gibt weil diese an seiner Geburt starb, und der deshalb weit weg verbannt wird, lebt in Trauer. Eine geliebte Schwester, die zeitig stirbt – Scrooges kleines Herz fand früh Nahrung, um sich nur weiter zu verhärten. Armut, den Kampf mit Gläubigern und um die eigene Existenz, kannte Dickens aus seiner Kindheit selbst. Sein Vater musste wegen Schulden ins Gefängnis, Dickens arbeitete von kleinen Kindesbeinen an in Lagerhallen und kannte die Nöte, den Schmutz und die Verzweiflung der Armen der viktorianischen Gesellschaft. In seinem weiteren Lebensverlauf bekam er die Chance, als Schreiber eines Rechtsanwalts einen Einblick in andere Sphären zu erhalten und sich ein großes Allgemeinwissen anzueignen. Und obwohl er nie eine höhere Bildung erhielt, wurde er zu einem der bekanntesten Autoren der englischen Literatur.

Es sind Dickens reale Charaktere, sein Verständnis von menschlichen Herzen und den Umständen der Gesellschaft, in der er lebte, die seine Werke berühmt machten. Er kannte vermutlich einen Mr. Scrooge, der eiskalt und verbittert sein Geld bewachte, kannte sicherlich viele Robert Cratchits und mildtätige Menschen wie den Neffen Fred, die er in seinem Meisterwerk der Weihnachtsgeschichte verewigte. Und es brauchte drei Geister – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – um einen Mr. Ebenezer Scrooge auf den richtigen Weg zu bringen, die ganz im Sinne Dickens philantropischer Haltung war: Geld kann kein Glück kaufen, das Miteinander ist es, das das Leben lebenswert macht und jener, der mehr als genug hat, kann es verkraften, etwas an weniger wohlhabende Bedürftige abzugeben. Vielleicht sind ihm nicht viele Menschen begegnet, die eine so rapide Wandlung wie Scrooge durchmachten, doch auch hier lässt er Spielraum – es ist nie zu spät, den eigenen Weg zu überdenken.

Ein Beitrag von Pia Stöger

Literaturhinweis:

Charles Dickens. Der Weihnachtsabend. Insel Verlag: Berlin, 2018.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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