Ich bin im Vogtland geboren und aufgewachsen. Wer jetzt nicht weiß, wo das liegt (denn die meisten tun es nicht), es handelt sich dabei um die Region im Südwesten von Sachsen, die aber auch Gebiete von Bayern, Thüringen und Böhmen umfasst. Der Historiker Enno Bünz beschreibt sie folgendermaßen: „Unter den Kulturlandschaften Sachsens, … ist das Vogtland die kleinste, die freilich über ein ausgeprägtes, historisch gewachsenes Regionalbewusstsein verfügt.“ Das ist eine diplomatische Art auszudrücken, dass so manche aus dieser Gegend sofort jeden berichtigen, der sie als „Sachsen“ bezeichnet; sie seien keine Sachsen, sondern Vogtländer. Und die sind im allgemeinen als „kleines, zänkisches Bergvolk“ verschrien.
Der Name leitet sich von den Vögten von Weida, Plauen, Greiz und Gera her, welche unter den Staufern vom Stand des Reichsbeamten zu Landesherren aufgestiegen waren und maßgeblich die politische Landschaft des Hochmittelalters bestimmten. Im Vogtländischen Krieg Mitte des 14. Jahrhunderts musste sich ihre bis dato recht unabhängige Rolle den Markgrafen von Meißen und dem Kaiser Karl IV., König von Böhmen, beugen. Von da an versickerte ihre politische Macht zusehendst, doch der Name blieb.
Die Vogtländer sind eigen und vielleicht hat sich genau aus diesem Grund vieles an lokalen Geschichten und Brauchtum erhalten. Besonders zu Weihnachten gibt es einen Brauch, der, außer im Erzgebirge und Teilen des Egerlandes, sonst nirgendwo bekannt zu sein scheint und welcher deshalb das Thema unseres vierten Teils im Weihnachtsspecial sein soll: Das Neunerlei, das traditionelle Weihnachtsessen.
Eines muss von vornherein eingeräumt werden: Dem Neunerlei wird der Ursprung im Erzgebirge nachgesagt. Dort war es zu Beginn eine Neujahrstradition, denn, vor der offiziellen Einführung des gregorianischen Kalenders im 16. Jahrhundert, fiel das Neujahr im Erzgebirge auf den 25. Dezember. Eingenommen wurde es, wie auch im Vogtland, daher am 24. Dezember und gilt seitdem vor allem als Weihnachtsbrauch. Zu dem, wie der Name schon sagt, werden neun unterschiedliche Gerichte gereicht, von denen man alle essen muss. Die Zahl verspricht dabei durch ihre magische Kraft Glück, während die Gerichte Bereiche des menschlichen Lebens symbolisieren, die man sich für das neue Jahr wünscht und sichern möchte.
Seit jeher haben Zahlen einen wichtigen Part im Volksglauben gespielt, wobei einige weit verbreitet sind und immer wieder auftauchen. Dabei galten ungerade stets magischer denn gerade Zahlen. Allen voran müssen hier die 3 und 9 genannt werden, die in völkischen Weisen, Zaubern und Sprichwörtern als Kennzeichen besonderer Gewichtigkeit und Macht auftauchen. Da sie eine Kombination aus der göttlichen Zahl 3×3 darstellt, ist die 9 wohl eine der mächtigsten Zahlen, sowohl bei den Germanen als auch in anderen Mythologien und später in verschiedenen europäischen Volksglauben, die oft eine Mischung aus Christentum und vorchristlichen Traditionen darstellten. Zum Beispiel gibt es in der griechischen Mythologie neun Musen und die berühmte Hydra zieren neun Köpfe. Der Göttervater Odin, Oberhaupt des germanisch-nordischen Pantheon, hing neun Tage und Nächte verletzt in den Zweigen des Weltenbaumes Yggdrasil, ein Selbstopfer, um neun Runenzauber zu erlernen. Im frühen Christentum unterteilte man die himmlische Ordnung der Engel in neun Chöre und auf die höchsten der katholischen Feste folgt die Novene, eine Reihe von Gebeten, die neun Tage einnimmt. Isst man nun am Heiligabend neun Gerichte, so glaubt man, nimmt man etwas von der Macht der Zahl gleich mit auf.
Wie bereits erwähnt, gibt es eine traditionelle Liste an Speisen, die zum Neunerlei auf dem Tisch stehen. Traditionell heißt in diesem Fall, dass von Dorf zu Dorf, von Familie zu Familie, die Traditionen unterschiedlich sind. Einige wiederkehrende Gerichte stehen jedoch meist fester im Plan. Dazu zählen Bratwurst (oder auch Roster, wie sie im Vogtland genannt werden), Sauerkraut, Brot, Salz und Klöße. Mehr Variationen gibt es bei den weiteren ‚Beilagen‘ die aus Linsen, Karpfen, Hering, Gänsebraten, Schweinebraten, Kompott, Grießbrei, Buttermilch, Pilzen, rote Rüben und vieles mehr bestehen können.
Jedes Jahr richtet das Vogtlandmuseum Plauen eine „Weihnachtsschau“ aus, zu der auch die Einrichtung einer typisch vogtländischen Küche aus der Vergangenheit samt einem Neunerlei gehört. Es ist eine Weile her, dass ich sie besucht habe, doch als Kind war ich jedes Jahr dort und meine Großmutter, gebürtige Vogtländerin der älteren Generation, kannte es noch ähnlich aus früheren Zeiten.
Ein Bestandteil, der niemals fehlen darf, ist Brot und Salz. Ersteres war stets das wichtigste Hauptnahrungsmittel und damit es im folgenden Jahr auf keinen Fall ausgeht, muss an diesem Tag reichlich davon auf dem Tisch sein. Schon im Mittelalter galt Salz als Abwehrmittel gegen Dämonen und böse Geister, weshalb es auch im Neunerlei diese Funktion übernimmt. Zusammen bestehen Brot und Salz als Einheit schon sehr lange; bei dem Bezug eines neuen Heims verschenkte man beides an die neuen Hausherren, was Reichtum, Fruchtbarkeit und Gesundheit bescheren sollte. Ich persönlich kenne, dass ein Teil gegessen, der andere auf der Türschwelle platziert wird, um die Hausgeister zu besänftigen und milde zustimmen. Auch zu Hochzeiten wird der Brauch immer noch angewandt, Brot und Salz werden also überreicht, um besondere Anlässe zu weihen. Auch zum Neunerlei kann ein Teil gegessen, der Rest in die Tischdecke gewickelt und über Nacht ruhen gelassen werden.
Ein weiterer Hauptbestandteil im vogtländischen Neunerlei sind die Klöße. Traditionell isst man die „grünen Klöße“ (Griene Kließ oder Griegeniffte), die aus rohen Kartoffeln gemacht werden und daher beim Kochen eine leicht grünliche Färbung erhalten. Sie sind eine sehr sättigende Beilage (ich spreche da aus Erfahrung) und symbolisieren das große Geld, welches im neuen Jahr stets im Hause sein soll. Für viel kleines Geld steht der Hirsebrei (manchmal auch Grießbrei), so wie die Hirse aus vielen kleinen Körnern besteht.
Ebenfalls unabkömmlich ist das Sauerkraut, das wegen seiner gesunden Inhaltsstoffe im Vogtland seit jeher zur Winterküche gehört. Am Heiligabend wird es gegessen, damit das Leben nicht sauer werde. Kompott, das als Nachtisch gereicht wird, soll hingegen dafür sorgen, das Leben zu versüßen.
Für Reichtum und Glück im Allgemeinen wurde Hering oder Karpfen gereicht, manchmal aber auch Schweinebraten. Welche Variante man wählte, hing wohl auch von den finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Familie ab, denn gerade Hering war für viele erschwinglich und taucht daher auch in den meisten Varianten auf.
Zuletzt bleiben noch Nüsse und der vogtländische Weihnachtsstollen. Wie schon in unserem letzten Beitrag zum Weihnachtsmann erwähnt, bringt dieser in Skandinavien den Menschen Nüsse, um die schwere Winterzeit gesund zu überstehen, was vor allem den gesunden Fetten zuzuschreiben ist. Diese werden auch zum Neunerlei mit dem Hinweis gereicht, dass damit der Lebenswagen wie geschmiert durchs Leben kommt. Es handelt sich dabei vermutlich um eine Metapher für die körperliche Gesundheit und, dass alles „wie geschmiert laufen“ wird im neuen Jahr. Der Weihnachtsstollen ist eine weitere Komponente, ein weihnachtliches Festgebäck, dessen Vorbereitung und Backen bei manchen Familien schon fast einem religiösen Ritual gleicht. Es gibt im Vogtland sogar einen Stollenverband, der sich ganz dessen Bewahrung als Kulturgut widmet; man sieht also, der Stollen ist neben den Zuckermännle DAS Weihnachtsgebäck schlechthin. Geformt wie ein Brotlaib soll er das “Wickelkind”, das Christkind, veranschaulichen und somit auch den göttlichen Segen auf das Haus herabbitten.
Mit Brot und Salz, Kompott, Hirsebrei, Nüsse, Hering, Klößen, Sauerkraut und Stollen hat man die im Vogtland am weitesten verbreitete Variante. Auch in meiner Familie werden bis heute zu Weihnachten einige dieser Komponenten gegessen, wir persönlich verzichten allerdings auf den Grießbrei und die Klöße, und wählen stattdessen die besagten Roster und irgendeinen Salat für unsere individuelle Variante.
Das Neunerlei ist in den Weihnachtsbräuchen so verwurzelt, dass es sogar im Heiligobndlied, oder auch Heiligohmdlied, nebst anderen einhergehenden Traditionen besungen wird. Es entstand vermutlich um 1799, doch die älteste Niederschrift exisitiert seit dem Jahr 1836. Man kann also davon ausgehen, dass es in mündlicher Überlieferung schon wesentlich länger besteht. Seine Länge variiert zwischen 13 und 16 Strophen:
Heut‘ is der heil’ge Ohmd ihr Mäd
kummt rei, mergießen Blei.
Fritz, laf när glei zr Hannelies
se mußbeizeiten rei.
Mer hahm d’n Lächter a’gebrannt;
satt nauf, ihrMäd, die Pracht.
Do drühm bei euch, is a recht fei,
ihr hot’ne Sau geschlacht.
Ich hob mer a e Lichtel kaaft,
ver zwee un zwanzig Pfäng‘.
Gi Hanne hul ä Tüppel rei,
mei Lächter is ze eng.
Kahr, zindt ä Weihrauchkärzel a,
doß a wieWeihnacht riecht;
unn stell’s ner of des Scherbel dort,
dos unnern Ufen liegt.
Lott‘ dorten of der Hühnersteig
do liegt men‘ Lobsei Blei.
Mahd raffel fei nett sehr dort rüm,
sist werd derKrienerts scheu.
Denn’s Mannsvulk hat sei Frehd an wos,
sei’s a anwos ner will.
Mei Voter hot’s an Vugelstell’n,
der Kahr, derhot’s an Spiel.
Ich gieß fei erst, wann krieg‘ ich da?
Saht heren Hommerschmied!
De Karlin lacht, die denkt gewiß,
ich manihr’n Richter Fried.
Mer ham a sächzähn Butterstoll’n,
su lang wie ’n Ufenbank.
Ihr Mäd, do werd‘ gefräss’n wär’n,
mer wär’n noch alle krank.
Mer ham a Neunerlä gekucht,
a Worscht unnSauerkraut.
Mei Mutter hot sich o geploocht,
die alte, gute Haut.
Fritz brock de Semmelmillich ei,
nasch oder net derfu.
Ihr Ghunge warft kee Raspel nei
in’s heilig Ohm’nd Struh.
War gieht den über’n Schwammentupp?!
Nu Lotteruh’ste nett!
Wart, wenn när weerd der Voter kumm‘,
do mußtdee gleich ze Bett.
Nä hurcht ner a mohl in Ufentupp,
dos Rumpeln unddos Geig’n.
Na wenn es när nett winseln tut,
denn sistbedett’s noch Leich’n.
Den heiling‘ Ohmd um Mitternacht,
do läft stattWasser Wei.
Wenn ich mich ner nett färchten tät,
ich hult ’nTupp voll rei.
Denn drühm an Nachbar’sch Wassertrug,
do stieht ägrußer Mäh.
Und war nett rächte Totzen hat,
dän läßt ergor nett na.
Lob hul derweil ben Hanne Lieb
’n Voter ä KännelBier.
’nochert, wenn de kümmst,
do singe mer: „Ich freue mich in Dir“.
Ihr Kinner, gieht in’s Bett nu nauff,
der Seeger zeigt schu ens.
Ob mer ä Weihnacht wieder erle’m?
Wie Gottwill, su gescheh’s.
Man findet das Lied vor allem im erzgebirgischen Dialekt, der mit dem vogtländischen verwandt ist und welchen ich weitgehend verstehe. Doch es gibt auch Versionen mit vogtländischem Vokabular, wo es zum Beispiel heißt “Heit is der heilsche Ohmd ihr Leit”. Der Inhalt bleibt dabei weitgehend der gleiche.
“Mer hahm d’n Lächter a’gebrannt” bezieht sich auf das Heiligabendlicht im Erbleuchter, welches vor dem Essen entzündet wird. Die Aufforderung “zindt ä Weihrauchkärzel a” widmet sich dem Brauch des Räucherns durch Räucherkerzchen und Räuchermännchen, was für viele auch heute noch ein Hauptbestandteil der weihnachtlichen Stimmung von der Adventszeit bis in die Raunächte darstellt.
Mer ham a Neunerlä gekucht,
a Worscht unn Sauerkraut.
Mei Mutter hot sich o geploocht,
die alte, gute Haut.
Das Neunerlei und seine Hauptkomponenten, Wurst und Sauerkraut, finden Erwähnung ohne weiter ausgeführt zu werden, denn zur Entstehungszeit war sein Brauch noch allgemein verbreitet, während in heutiger Zeit nicht mehr viele diese Tradition beleben.
Fritz brock de Semmelmillich ei,
nasch oder net derfu.
Ihr Ghunge warft kee Raspel nei
in’s heilig Ohm’nd Struh.
Das Heiligabendstroh, welches hier erwähnt wird und unter der Tischdecke versteckt wurde, ist kaum mehr bekannt. Modernere Interpretationen des Neunerlei bestehen einfach aus einem gedeckten Tisch und dem Bestreben neun verschiedene Dinge zu essen, auch wenn keines davon den Traditionen entspricht. Denn auch wenn immer weniger Vogtländer auf diese Weise ihr Essen am Heiligabend begehen, wenn man herumfragt, so kennen doch die meisten das Neunerlei und wissen, worum es geht.
Ein Beitrag von Pia Stöger.
Literaturhinweis:
Das Heiligobndlied
https://www.lieder-archiv.de/heiligabendlied_heiligobndlied_heiligohmdlied-notenblatt_211102.html
Bünz, Enno u.a. Vogtland. Dresden 2013.
Spieß, Moritz. Aberglauben, Sitten und Gebräuche des sächsischen Obererzgebirges. Ein Beitrag zur Kenntnis des Volksglaubens und Volkslebens im Königreich Sachsen. Kgl. Hofbuchhandlung H. Burdach, Dresden 1862, S. 7–24.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.