Auf wenig mehr als einhundert Seiten gelingt es Remco Campert, tief in das Innere eines Mannes zu blicken, der sich einer Selbstbefragung mit offenem Ausgang unterzieht.
Es ist der erfolgreiche Schriftsteller Walter Manning, der im Zentrum der Handlung steht. Er kehrt von der Premiere eines Films, dessen Drehbuch er geschrieben hat, nicht nach Hause zurück. Seine Geliebte, die talentierte Schauspielerin Nora Dorée, lässt er wortlos zurück. Weder sie noch Mike Groenewey, Regisseur des Films, in dem Nora auch die Hauptrolle spielt, können verstehen, was in Walter Manning vorgeht.
Es ist, als müsse er etwas zurückgewinnen, dass ihm abhandengekommen ist im Strudel der stetigen Handlungen und Ereignisse, der mächtigen Gegenwart, die fordert und manchmal dafür sorgt, dass man innehalten muss, um sich zu erinnern und seiner selbst zu vergewissern. Dabei ist Manning kein junger Mann mehr, er schleppt sechs Jahrzehnte mit sich herum. In einem kleinen Ort an der französischen Küste geht er im „Hotel du Nord“ vor Anker. Eine Fotografie in der Bar seines Rückzugsortes wird hier zum zentralen Motiv einer Besinnung auf die Welt, aus der auch Manning stammt, die Welt der Eltern der Kindheit, die Welt der „kleinen Leute“, denen er sich verbunden fühlt. Und mit dieser Fotografie, auf der zwei längst verstorbene Schauspieler zu sehen sind, entfaltet sich auch ein Spiel um das titelgebende „Hôtel du Nord“. Denn „Hôtel du Nord“ ist nicht nur der Name des Hotels, sondern auch eine Hommage an den gleichnamigen französischen Filmklassiker, der 1938 nach der Romanvorlage von Eugéne Dabert entstand.
Drei Kapitel – drei Perspektiven. Campert ist ein ebenso feinsinniger wie schnörkelloser Erzähler. Satz für Satz entwickelt sich ein Sog, der den Leser weiter und weiter in die Welt des Walter Manning hineinzuziehen versteht. Es ist eine geradlinige und klassisch anmutende Prosa, die durchaus an Georges Simenon denken lässt.
Remco Campert wurde 1929 in Den Haag geboren. Seit 1950 veröffentlicht er Lyrik und Prosa, die ihn in den Niederlanden zu einem bewunderten und beliebten Autor werden ließ. Auf Deutsch sind bisher erschienen: der Roman „Eine Liebe in Paris“, der Erzählband „Sanfte Landung“ und das „Tagebuch einer Katze“, dazu der Lyrikband „Jagen, Leben, Erinnern“.
Ein Beitrag von Jörg Jacob
Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. 2023 erhielt er nicht nur das Stipendium des Künstlerhaus Ventspils House (Lettland), sondern wurde zudem mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis ausgezeichnet.
Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien u. a. Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020, Aus der Stadt und über den Fluss: Zwölf Versuch über das Gehen, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2022 sowie Eng beschriebene Postkarten. Unterwegs an den Rändern Europas, Edition Hamouda, Leipzig 2023.
Literaturhinweis: Remco Campert: Hôtel du Nord. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Edition Rugerup, 2016. 17,90 EUR.
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