„Kurz gesagt: Ich will die hohe Bedeutung eines sich szientistischer und technizistischer Metaphern bedienenden neuen religiösen Denkstils für die Moderne aufweisen. […]. Es wird sich herausstellen, dass sich in naturwissenschaftlichen Eliten eine Art doppelter Wirkungsgeschichte von Ideen ereignet. In einem wechselseitigen Inkognito ist der geniale Nobelpreisträger zugleich banalstem religiösem Gedankengut anhängender Neomythologe […].“ (Hauser Bd. 1, S. 23)
In meinen bisherigen Beiträgen habe ich schon öfters auf sogenannte „Neomythen“ bzw. „neomythische“ Denkweisen verwiesen, um gewisse Impulse moderner bzw. gegenwärtiger Erzählungen zu charakterisieren. Diese Begrifflichkeiten und das zugrundeliegende Konzept stammen von dem eben zitierten Gießener Theologen und Philosophen Linus Hauser, der sich mit dem Thema in seinem Großwerk intensiv auseinandergesetzt hat. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um darüber einen knappen Überblick zu geben. Es ist freilich nicht durchführbar, ein dreibändiges Werk mit knapp 2000 Seiten auf vier Standardseiten zu ca. 400 Wörtern erschöpfend vorzustellen, gerade hinsichtlich des mehr als 200 Jahre umfassenden ideengeschichtlichen Horizonts, den Hauser eröffnet und der wesentlich in der Abarbeitung exemplarischer Persönlichkeiten besteht. Ich hoffe dennoch das Wichtigste vermitteln und den einen oder anderen Leser anregen zu können, die Hauptideen zu durchdenken oder die „Kritik der neomythischen Vernunft“ einmal zur Hand zu nehmen.
Mythos und Neomythos
Mythen bergen – unbestritten ihres kulturellen, künstlerischen und teils auch erkenntnistheoretischen Wertes – bekanntermaßen nicht unwesentlich die Gefahr, zu Manipulation oder Machtausübung missbraucht zu werden. Es ist an sie sozusagen mit ideologiekritischer Vorsicht heranzutreten und zu hinterfragen, was diese oder jene Mythe uns nahe bringen möchte, wo sie ihre Ursprünge hat, worauf sie abzielt und wer sie uns erzählt. Dies gilt im gesteigerten Maße für die Neomythen, die zwar zu den „klassischen“ Mythen gewisse Ähnlichkeiten aufweisen können, aber doch einen deutlich anderen Akzent setzen, weil ihnen eine andere Anthropologie zu Grunde liegt (vgl. Hauser Bd. 1, S. 78). Während Mythen gemeinhin, trotz allen möglichen Heldentums, die Begrenztheit und Geworfenheit des Menschen in den Mittelpunkt stellen und dessen Abhängigkeit, z. T. auch Verantwortlichkeit gegenüber jemandem oder etwas außerhalb seiner selbst aufzeigen, kennt der Neomythos etwas derartiges nicht: Er postuliert vielmehr im Rahmen einer Allmachtsphantasie die Selbstermächtigung, ja Selbstvergöttlichung des Menschen und negiert dessen radikale Begrenztheit und Endlichkeit (Wendungen in Kursiv bspw. Hauser Bd. 1, S. 89, 25 und S. 78). Der religionsförmige Neomythos ruft so den Menschen zur Selbstüberhöhung auf, leugnet Grenzen und verlangt geradezu Aktion und Herrschaft (vgl. Hauser Bd. 1 S. 88: den Kosmos „untertan machen“). Damit zeigt er nicht nur eine große Nähe zum Faustisch-Promethischen, sondern ist in ebenso hohem Maße als ideologisch zu charakterisieren.
Grundlage der Genese von Neomythen
Der Neomythos bedarf als Substrat seiner Entstehung der modernen Gesellschaft, genauer: der wesentlich durch Technik und Wissenschaft geprägten Gesellschaft. Durch die Dominanz dieser zwei Aspekte ist einerseits bei jedem Menschen ein wie auch immer geartetes wissenschaftliches Weltbild impliziert (Hauser Bd. 2, S. 24-27). Andererseits kann daraus auch als „eine spezifische Interpretation“ (Hauser Bd. 2, S. 28) eine wissenschaftliche Weltanschauung hervorgehen. Während im Weltbild noch eine durchaus heterogene Einordnung der Wissenschaften im Lebens- und Sinnkontext eines Menschen erfolgt, hält die wissenschaftliche Weltanschauung in der Wissenschaft die Beantwortung aller „großen menschheitlichen Fragen“ (Hauser Bd. 2, S. 28) für möglich und betrachtet sie gleichsam als Heilsweg. An diesem Punkt knüpft die von Hauser sogenannte Kollportage an, das längere Gedankenspiel, welches sich damit befasst, wie die wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse, Bedingungen und Handlungen Schritt für Schritt zur Verbesserung und Perfektionierung des Menschen und der Welt führen sollen. In einer derartigen Kollportage werden „Maßstäbe einer speziellen Disziplin und/oder auch mehrerer aktueller Leitwissenschaften“ (Hauser Bd. 2, S. 31) verabsolutiert und auf andere Bereiche des Lebens übertragen bzw. oktroyiert. Von der Kolportage ist es schließlich – befördert bspw. durch Vereinfachung, Akzentsetzung und Verbreitung – nicht mehr weit zur neomythischen Erzählung.
Fruchtbarer Boden für Neomythen und Folgen neomythischen Denkens
Dass neomythische Denkwege überhaupt auf eine entsprechende Resonanz stoßen, leitet Hauser von den Umstand ab, dass der Mensch auch in der Moderne das Bedürfnis nach metaphysischer Orientierung hat, haben muss. Epochale Erkenntnisse der Neuzeit und Moderne haben dieses Bedürfnis eher noch wachsen lassen und dessen Abgründigkeit offenbart. Hauser führt hier vor allem vier Aspekte an (vgl. Hauser Bd. 1, S. 110-126): Die Entdeckung des heliozentrischen Aufbaus des Planetensystems, die Evolutionstheorie, die psychologische Theorie über das Unbewusste und die Entwicklung der KI, insbesondere im Rahmen androidischer Roboter. Diese vier Aspekte führen unweigerlich zu „metaphysischen Orientierungsaufgaben“ (vgl. ebd.), weil sie die Fragen, wo und was der Mensch ist und welche Rolle er spielt bzw. welchen Sinn seine Existenz hat, teils schmerzvoll aufwerfen. Wissenschaftliche Weltanschauung oder Neomythen können angesichts dieser Situation durchaus Verortung und Sicherheit anbieten. Letztlich geschieht dies aber um den Preis, dass der Mensch sich von sich selbst entfremdet und sich auch von der Wissenschaftlichkeit und Rationalität, der er sich eigentlich verschrieben fühlt, uneingestanden entkoppelt (es bliebe an dieser Stelle zu ergründen, inwieweit Hausers Ansatz mit dem von Horkheimer und Adorno betreffs „des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie“, Horkheimer, Adorno S. 3, zusammengeht). Das Problem ist nicht im Allgemeinen, dass der Mensch sich überhaupt religiösen oder mythischen Verstehensweisen zuwendete. Es liegt vielmehr in dem absoluten Geltungsanspruch aufgrund der vermeintlichen Vernünftigkeit und im Zwang zur Handlung, dergestalt, dass alles, wozu der Mensch vorgeblich oder tatsächlich in der Lage sei, auch tun müsse.
Neomythische Entwürfe sind, wenn man das Wort nutzen will, transhumanistisch, nicht selten inhuman und können dann entsprechend für die Gesellschaft eine Gefahr darstellen. Das bspw., wenn sich daraus sektiererische Bewegungen speisen, wie es bei Scientology der Fall ist (Hauser Bd. 2, S. 556-670), oder wenn der Mensch auf die Rolle des Leistungsträgers und Konsumenten reduziert wird und ihm dies in religionsförmiger Art, aber unter dem Topos der neuesten Erkenntnisse vermittelt wird (vgl. Hauser Bd. 2, S. 68-171). Angesichts solcher Konstellationen ist die Verantwortung des Wissenschaftlers eine doppelte: Er muss sich nicht nur über Möglichkeiten und Umfang einer technischen Anwendung seiner Erkenntnisse im Klaren sein, sondern auch bedenken, dass gewisse Deutungen und Einordnungen von Erkenntnissen Gedankenspiele und ideologische Implikationen nach sich ziehen und damit auf diese Art und Weise die Gesellschaft prägen können. Umso wichtiger ist es, die in Einzeldisziplinen betriebenen Methoden und errungenen Erkenntnisse nicht vorschnell auf andere Bereiche zu übertragen oder gar metaphysisch zu überhöhen.
Schluss
Hausers Werk hat gewiss seine Schwächen. So gibt es bspw. kein Register, was angesichts des Umfangs des Werks mehr als sinnvoll wäre. Oder so erscheint das Ende der „Kritik der neomythischen Vernunft“ relativ abrupt, nur mit einem kurzen Schlusswort versehen. Dieses fasst die wesentlichen Gedanken zwar konzise zusammen (vgl. Hauser Bd. 3, besonders S. 567-571), eventuell hätte man aber ein ausführlicheres Resümee erwartet. Die „Kritik der neomythischen Vernunft“ ist es nichtsdestoweniger wert, ein Schatz genannt zu werden und eröffnet in beachtlicher Weise den Blick für eine problematische Entwicklung des modernen menschlichen Geistes.
Es bleibt zu sagen, dass hinsichtlich der diffusen Gemengelage aus wissenschaftlicher Erkenntnis, technischer Anwendung und metaphysisch-neomythischer Übertragung, es nach wie vor eine wichtige Aufgabe darstellt, Verstehensweisen und Wirksamkeitsbereiche von Wissenschaft, Metaphysik und Religion klar zu erkennen und zu unterscheiden. Vielleicht ist es eben dieser Punkt, der Hauser zu den an Kant angelehnten Titel motiviert hat. Auch Kant ging es ja darum, wovon, wie und unter welchen Bedingungen Erkenntnis möglich ist. Wenn dabei „widrigenfalls die Grenzen aller Wissenschaften in einander laufen“ (und vielleicht noch religionsartige Intentionen hinzukommen), so kann „keine derselben ihrer Natur nach, gründlich abgehandelt werden“ (Kant, „Prolegomena“, S. 124). Man verbliebe im Halbwissen, indem sich alles nur ausschnittweise oder schemenhaft zeigte, was im Falle der oft verblüffenden modernen Wissenschaften regelrecht nach neomythischer Ausgestaltung schriee. Das bedeutete dann den rasantesten wissenschaftlich-technischen Fortschritt bei gleichzeitig größter Unwissenheit. Die Frage ist, wie weit dieser Zustand bereits eingetreten ist oder nur eine Spukgestalt darstellt.
Ein Beitrag von Dr. Markus Walther
Literaturhinweise:
Hauser, L., Kritik der neomythischen Vernunft, 3 Bände, Schöningh: Paderborn 2004-2016.
Horkheimer, M.; Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 2003.
Kant, I., Prolegomena zu einer jeden künftigen künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Weischedel (Hg.), Werke in zehn Bänden, Bd. 5, Darmstadt 1983, S. 113-264.
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