Meine diesjährigen Beiträge, die dem Thema Musik im religiösen bzw. philosophischen Kontext gewidmet waren, sollen an dieser Stelle mit einem dritten Text zu einem gleichsam ternärem Ganzem Abschluss finden. Dies war weniger geplant, als dass es sich aus Nachtlektüre von Übersetzungen diverser chinesischer Erzählungen bzw. philosophischer Texte ergab, welche interessantes Material zu Tage förderte. Darunter war „Frühling und Herbst“, das gemeinhin unter der Verfasserschaft von Lü Bu We (3. Jh. v. Chr.) geführt ist (wahrscheinlich versammelte er aber „a team of scholars to produce this work“, Stock in Bohlman, S. 397). Dieses Werk kann allgemein als eine Art Kompendium bezeichnet werden, in dem maßgebliche Bräuche und ethisch-moralische bzw. politische Vorstellungen seiner Zeit versammelt sind. Darunter sind nun auch einige sehr interessante Ausführungen zur Musik zu finden, die gut zur Komplementierung der rauschlastigen anderen beiden Beiträge geeignet erscheinen. Ich bin kein Sinologe und kann nicht anders, als mich dem Thema mit einer gewissen Unbedarftheit zu nähern. Das betrifft eventuell die Art der verwendeten Ausgaben oder die notwendigerweise begrenzte Kenntnis der Forschung. Irrtümer mögen mir deswegen verziehen und gern angezeigt werden. Dem Grundgedanken, dem ich dabei folge, sollte das jedoch keinen Abbruch tun.
Ursprünge und Grundidee der Musik in „Frühling und Herbst“
Hinweise auf Musik und Tanz in China reichen bis in die Jungsteinzeit zurück, wie bspw. Tanzornamente auf Keramiken oder Funde von Musikinstrumenten aufzeigen (vgl. Dongsheng/Yuanyou 2009, S. 9ff bzw. S. 21ff). Zeugnisse aus den frühen Dynastien (spätes 3. bis spätes 1. Jt. v. Chr.) sind noch deutlich zahlreicher (vgl. ebd.). In „Frühling und Herbst“ wird auf eben diesen Umstand hingewiesen und mehrfach geäußert, dass „die Ursprünge der Musik“ weit zurück lägen und sie „nicht durch ein einzelnes Geschlecht“ erschaffen wurde (Lü Bu We, S. 85). Zu Lü Bu Wes Zeit im 3. Jh. v. Chr. war dann die Musik in China bereits eine hoch entwickelte und präsente Kunst, einschließlich des Instrumentariums (z. B. Trommeln, Glocken, Flöten, Zittern), der Aufführungsregularien (Ort, Zeit, Besetzung, Tanz) und Theorien (Tonarten, Intervalle, Rhythmen). Als Händler und Gelehrter, der in den Kreisen der Herrschenden verkehrte und der zeitweise auch eine Ministerstellung des Qin-Reiches begleitete, ist es also nicht ganz verwunderlich, dass in dem von Lü Bu We beauftragten Werk „Frühling und Herbst“ auch der Musik eine genauere Betrachtung gewidmet wird (zur Wichtigkeit der Musik am Hof vgl. Stock in Bohlman, S. 397). Es geschieht dies vor allem in den Büchern 5 und 6 über die Sommermonate.
Der grundsätzliche Gedanke zur Musik darin ist, dass sie „aus dem Maß“ entstehe und „im großen Einen“ wurzele (Lü Bu We, S. 74). Entsprechend des wesentlich auf der Dynamik zwischen zwei Gegensätzen beruhenden chinesischen Denkens – das wohlbekannte Yin und Yan, differenzierte Ausführungen hierzu vgl. Granet 1985, S. 86ff – ergibt sich daraus, dass die Musik aus dem sinnvollen Zusammenstimmen eben dieser zwei Pole hervorgeht: „Die Musik beruht auf der Harmonie zwischen Himmel und Erde, auf der Übereinstimmung des Trüben und Lichten.“ (Lü Bu We, S. 75). Nicht geht es also um die Ausgestaltung nur eines der beiden Prinzipien, sondern um deren ausgewogene Kombination, um das „innere Gleichgewicht“ (ebd. S. 76), so dass der Hörer eine Heiterkeit im Herzen erfährt (vgl. ebd. S. 79). Man kann hier durchaus mit dem europäischen Begriff arbeiten und die bei Lü Bu We favorisierte Musik als eine Apollinische bezeichnen.
Was ist mit dem Rausch?
Diese Grundkonzeption von Musik impliziert folgerichtig eine ablehnende Haltung gegenüber einseitigen und rauschhaften Formen der Kunst: „Wenn Pauken und Trommeln erdröhnen wie der Donner, wenn Becken und Klingsteine erklingen wie der Blitz, wenn Flöten und Geigen, Tanzen und Singen lärmend erdröhnen, so ist das wohl geeignet die Nerven zu erschüttern, die Sinne zu erregen und das Leben überschäumen zu lassen. Aber eine Musik, die mit diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter. Darum: Je rauschender die Musik, desto melancholischer werden die Menschen […].“ Der Autor kann der rauschhaften Musik also nichts Positives abgewinnen, keine Rede von einer Entgrenzung, von einer Vereinigung der Menschen miteinander oder von einer Öffnung hin zu höheren Sphären. Vielmehr führt der Rausch nur zu inneren, seelischen und moralischen Ermattung (oder ist umgekehrt Ausdruck dessen).
So gedacht schließt Musik auch Folgen auf der Ebene der Gemeinschaft als Ganzem und der Struktur von Herrschaft ein, weswegen Musik nicht nur eine Form des künstlerischen Ausdrucks ist, sondern gewissermaßen eine gesamtgesellschaftliche und politische Dimension erhält. Anders ausgedrückt: Zwischen Zustand der Gesellschaft, Herrschaft und Musik, wie eigentlich auch allen anderen Komponenten der Welt, besteht eine Korrelation hinsichtlich ihrer Qualität. Um das Zitat aus dem vorigen Absatz fortzuführen: „Je rauschender die Musik, desto melancholischer werden die Menschen, desto gefährlicher wird das Land, desto mehr sinkt der Fürst. Auf diese Weise geht auch das Wesen der Musik verloren.“ (Lü Bu We, S. 77). Die rauschhafte Musik ist in dieser Sichtweise also nicht Ausdruck überschwenglicher Lebensfreude, die sich Bahn bräche und der Gesellschaft positive Impulse verleihen würde, sondern genau das Gegenteil, Anzeichen vom Verfall einer Ära – was dann im übrigen auch in allen anderen Facetten der Welt emblematisch seinen Niederschlag findet, wie Garnet schreibt: „Ein Vogel, der sein Nest zerstört, liefert das (materielle und geistige) Kennzeichen für eine Störung der Ordnung im Reich, die sehr schwer sein muss, nachdem das Gefühl der häuslichen Pietät sogar den niedrigsten Tieren abgeht“ (Garnet, S. 250).
Musik als berechnendes Herrschaftsinstrument?
Musik ist demnach nur positiv konnotiert, wenn sie gemäß des oben genannten Grundsatzes im Maß vollendet ist. Dies wiederum ist dann auch wieder Ausdruck dessen, dass „die Welt in Frieden ist“ bzw. „alle Dinge in Ruhe sind“ (Lü Bu We, S. 75). Das schließt, wie ausgeführt, die staatliche und gesellschaftliche Verfasstheit ein. „Will man“, so schreibt der Autor „höchste Musik sehen, so ist es sicher in Ländern, wo höchste Ordnung herrscht. Wo edle Sitten walten, da waltet edle Musik […]“ (ebd. S. 93). Bei einem solchen Verständnis schwingt dann allerdings eine durchaus ideologische Komponente mit: „[…] Throughout history Chinese authorities have regarded music as able to shape the well-being of society as a whole. Accordingly, it was force to be reflected upon in works on the ideologies of rulership“ (Stock in Bohlman, S. 397). Vom Gedanke der Musik als Aus- und Eindruck glitte man also über zum Gedanke der Musik als Herrschaftsinstrument, mit dem man das „Wohlergehen“ der Gemeinschaft befördern könne. Die Frage bleibt angesichts dieser Theorie von Musik, ob die sog. vollendete Musik dann Ausdruck einer tatsächlich vollendeten Gesellschaft ist – was eher utopisch erscheint – oder umgekehrt apollinisch geprägte Musik doch nur ein Mittel der Wahl, die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellung zu beeinflussen. Die Musik bekäme in letzterem Fall gewissermaßen den faden Beigeschmack von Manipulation. Dass dann dionysisch geprägte Musik verunglimpft würde, erschiene nur folgerichtig, da sie ja Aufbegehren und kritische Impulse durchaus befördert.
Nicht ausschließlich rational
Ich möchte mit einer Wertung hier aber nicht zu weit gehen, nicht nur meines eigenen begrenzten Kenntnisstandes wegen. Denn was in „Frühling und Herbst“ – trotz der Vorliebe für den apollinischen Charakter und der Unterscheidung von verderblicher und reiner Musik im Kontext der gesamten Ordnung der Welt – hervorzuheben bleibt, ist, dass die Musik dennoch nicht als ein bloß rationales Konstrukt verstanden wird: „Alle Musik wird geboren im Herzen des Menschen. Was das Herz bewegt, das strömt in Tönen aus; und was als Ton draußen erklingt, das beeinflusst wieder das Herz drinnen“ (Lü Bu We, S. 92). Musik ist also doch Ausdruck eines zumindest nicht ausschließlich rationalen Organs des Menschen. Eine wichtige solcher Regungen, die zur Hervorbringung von Musik führt, ist dann bspw. die Sehnsucht (ebd. S. 91f), was auch in der Dichtung Niederschlag gefunden hat (vgl. bspw. „Der Geist der Hofdame“, in der sehr viel späteren Sammlung bei Pu Sung-Lin, S. 303). Umgekehrt wirkt die Musik freilich auch wieder als Eindruck auf den Hörer und kann dessen Zustand verändern – wobei eben dies interessanterweise in zuletzt genannter Erzählung von der Hauptakteurin verneint wird: „Die Musik vermittelt nur den Sinn. Traurige kann sie nicht fröhlich stimmen und ebenso auch fröhliche nicht traurig“ (ebd.).
Bei all der Wertschätzung von Ordnung und Ruhe, die die Musik kennzeichnen sollte, deuten sich also bei Lü Bu We zumindest auch nichtrationale Momente der Musik an. Und im Allgemeinen ist in der chinesischen Kultur, wenn man Marcel Granet folgt, natürlich das andere, dionysische Moment durchaus enthalten: Zum „Fortbestand des sozialen Verbandes“ wurden im alten China „alle ihm verfügbaren Kräfte“ eingesetzt, „er verausgabte alles und er verausgabte sich ganz: Lebende und Verstorbene, Wesen und Dinge, Besitz und Erzeugnisse aller Art, Menschen wie Götter, Frauen und Männer, Jung und Alt beteiligten sich dann an einer herben, belebenden Orgie. Während der Turniere, die dieser totalen Vereinigung vorangingen, sollten vor allem in jeder nur erdenklichen Weise die Abgeschiedenen und die Lebenden, die Alten und die Jungen, die gesamte Vergangenheit mit der ganzen Zukunft in Berührung kommen.“ (Granet 1985, S. 82). Es mag in dieser Schilderung die Auffassung Batailles – letztlich Zeitgenosse Granets in Frankreich – hindurchklingen, aber offenbar scheint am Ende auch im Kontext der chinesischen Kultur der wohl eingerichtete Rhythmus von Zeit der Ordnung und des gewöhnlichen Lebens einerseits und Zeit des Festes und des Rausches anderseits sein Recht zu beanspruchen. Auch wenn der Rausch in „Frühling und Herbst“ verworfen wird, so deutet ein umfassenderes Bild also wieder auf das Zusammenspiel von Apollinischem und Dionysischem hin.
Ein Beitrag von Dr. Markus Walther
Eingangsbild:
Eigene Aufnahme, Schlosspark Dieskau, Osttor, gefertigt von Jörg Bochow.
Literaturhinweise:
Dongsheng, L., Quanyou, Y. (Hg.), Die Geschichte der chinesischen Musik, Mainz 2009.
Garnet, M., Das chinesische Denken, Frankfurt a. M. 1985.
Lü Bu We, Frühling und Herbst (übers. von Wilhelm, R.), Köln 2015 (Nachdruck der Ausgabe Jena 1928).
Pu Sung-ling, „Umgang mit Chrysanthemen. 81 Erzählungen der ersten vier Bücher aus der Sammlung Liao-dschai-dschi-yi“, (übers. von Rösel, G.), Zürich 1987.
Stock, J.P.J., Four recurring thems in histories of Chinese music, in: Bohlman, P. V. (Hg.), The Cambridge History of World Music, Cambridge 2013; S. 397-415.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
eine Musiktheorie, die auch einiges am heutigen China erklärt. Vielen Dank, Elmar Schenkel