„Nach alldem wird man unschwer einräumen, dass nichts unsere Mitbürger die Vorkommnisse erwarten lassen konnte, die sich im Frühling jenes Jahres zutrugen und die, wie wir später begriffen, gleichsam die ersten Anzeichen der Serie von schlimmen Ereignissen waren, über die hier berichtet werden soll. Diese Tatsachen werden manchen ganz normal erscheinen und anderen wiederum unwahrscheinlich. Aber schließlich kann ein Berichterstatter diese Widersprüche nicht berücksichtigen. Er hat nur die Aufgabe zu sagen: „Das ist geschehen“, wenn er weiß, dass dies tatsächlich geschehen ist, dass dies das Leben eines ganzen Volkes betroffen hat und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit dessen, was er sagt, bewerten werden.“ (Albert Camus, Die Pest, 1947)
Es war ein seltsames Jahr. Ein angsterfülltes Jahr. Ein absurdes Jahr. Ein Jahr der Stille und ein Jahr verstimmter Kakophonien. Ein Jahr, dem die Alltagsroutine abhandengekommen ist und das plötzlich nicht mehr unseren Erwartungsansprüchen entsprochen hat. Alles war, wie es ist und doch anders. Zweifellos wird das Jahr 2020 als Zäsur der Postmoderne in die Geschichte eingehen. Was für Geschichten wir darüber erzählen werden – für solche Überlegungen ist es vielleicht noch zu früh. Doch erzählen werden wir. Auch wenn es schwer ist, über etwas zu erzählen, das einem noch nicht gestattet, die passenden Sätze mit passenden Worten zu füllen. 2020, das war/ist wie Frühling, Sommer und Spätsommer von Camus‘ Pest, mit einem beginnenden Herbst, der noch keine Entspannung ankündigt und einem Winter, der weder Abschluss noch Normalität verheißt. 2020, das bedeutete, Altes auf den Prüfstand zu stellen und neue Wege zu beschreiten. Wie wollen wir kommunizieren? Wie wollen wir Kultur und Literatur präsent halten? Vor allem aber, wie wollen wir weiter erzählen? Denn erzählen wollen wir. Und erzählen müssen wir. Erzählen, sprechen, unsere Fantasie anregen, das ist ein menschliches Urbedürfnis, von dem Mythen, Sagen, Dichtungen und Legenden bis ins Jetzt beredt Zeugnis ablegen. So erschien etwa im Oktober 2020 der zweite Band der Mythos-Trilogie des britischen Schauspielers, Regisseurs und Autors Stephen Fry mit dem Titel „Helden: Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt“ (Aufbau Verlag).
Auch der Arbeitskreis ist es im 25. Jahr seines Bestehens trotz aller Widrigkeiten und Herausforderungen nicht müde geworden, über Mythen neu nachzudenken und über diese zu berichten. Natürlich in Veranstaltungen (soweit die Umstände es zugelassen haben). Vor allem aber auch in unserem freitäglich erscheinenden MYTHO-Blog, für den wir neben fleißigen Stammschreibern auch Gastschreiber wie die Schriftsteller Jörg Jacob und Clemens Meyer gewinnen konnten. Ob Lektüre, Rezensionen, mythische Exkursionen oder literarische Impressionen – Erzählen ist Beobachtung, Sichtbarmachung und Vielfalt.
Zudem war 2020 für den Verein auch das Jahr der fantastischen Kreaturen, denen wir nicht nur in Vorträgen zum ersten Leipziger Mythen-Tag oder durch kreative Begleitung der Ausstellung „Phantastische Tierwelten“ (Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig) auf die Spur gekommen sind; im „Mythisch-Literarischen Bestiarium“ ist es uns gelungen, ihnen auch eine eigenen Stimme zu geben. Ein Projekt, das wir fortsetzen wollen. Denn sich mit Fabelwesen zu befassen, ist wie auf einen Streifzug durch einen zeitenübergreifenden Dschungel zu gehen, in dem wir nicht nur neugierig neue Wesen erforschen, sondern in gewisser Weise auch uns selbst. Ob Wächter, Monster, Widersacher von Helden, Allegorie, moralisches Gleichnis, Illustration oder cineastische Erfindung, Fabelwesen sind Teil unserer Imagination und damit Ausdruck unserer Emotionen und unserer geistigen Welt. Nicht einmal die Göttliche Komödie des Dichters Dante Alighieri (1265-1321) wäre ohne einen Höllenhund Kerberos, den Minotaurus oder den weisen Kentauren Chiron denkbar. Ein Grund mehr, sich von ihnen faszinieren zu lassen.
Apropos Dante. Es ist zwar nur der Zufall des Dezimalsystems, der uns 2021 als „Dante-Jahr“ beschert, denn es jährt sich sein 700. Todestag am 14. September, aber der große italienische Dichter, dem das Land seine heutige Sprache verdankt, passt auch sehr genau in unsere Zeit. Der Mann, der an der Hand seines Lehrmeisters Vergil durch das Totenreich geht, muss Abstand wahren, soziale Distanz, denn die Geschichten der Sünder ziehen ihn hinein in ihre Schicksale, in die Feuer und Schlammlöcher der Hölle. Bei seiner Reise durch ein mittelalterliches Horrorvideo muss er sich bewusst machen, dass er sein Ziel zu verfolgen hat, über das Fegefeuer bis hin zum himmlischen Licht. Das Licht am Ende des Tunnels, würden wir heute sagen, in dem wir uns derzeit global befinden.
Wir wollen dieses Jahr auch zum Anlass nehmen, uns mit den vielen Aspekten Dantes zu beschäftigen: Religion, Mythos, Theologie, Geschichte und Literatur. Denn wie kein anderer Autor verlangt er eine interdisziplinäre Ansicht, die seinen vielen Ebenen gerecht werden kann. Einige Vereinsmitglieder treffen sich bereits regelmäßig im Internet, um Dantes Werk gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Wir werden Autoren (literarische wie akademische) dazu einladen, in unserem Blog über ihre Bezüge zu Dante zu schreiben. Zusagen kamen schon, auch aus Italien. Auch in Veranstaltungen (ob als Zoom-Geister oder durch Präsenz) wollen wir Dantes Universum verorten als eine Begehung von imaginären Räumen. Das Imaginäre ist die Wurzel der Fiktion und der Dichtung; deshalb wollen wir Mythen und Literaturen zum Sprechen bringen – ob in der phantastischen Welt eines Borges oder in den heutigen Abgründen, die Clemens Meyer in seinen Geschichten begeht. Beim Wave-Gotik-Treffen, so es denn stattfindet, wollen wir mit Mythen und Märchen bereitstehen. Vorträge zur Mythologie des Judentums und zur slawischen Mythologie sind geplant. Zu Halloween wollen wir gemeinsam mit dem Leipziger Budde-Haus wieder eine Veranstaltung zu Gespenstergeschichten durchführen; außerdem begleiten wir ein Preisausschreiben für die besten Gespenstergeschichten für Kinder.
In einer Zeit, in der wir zusehends an Bildschirme gebunden werden, die ja wahre Einfallstore des Imaginären sind, sollten wir uns der Realität der Fiktionen bewusst werden. Menschen orientieren sich mit deren Hilfe und finden in ihnen Motivation. Imaginäre Szenarien sorgen für neue Gesetze. Mythen erklären (oder verzehren) die Welt. Jede Erklärung aber verändert die Welt ein wenig. Wenn Karl Marx schrieb, die Philosophen hätten die Welt nur interpretiert, es käme darauf an sie zu verändern, so ist dem entgegenzuhalten: Jede Interpretation verändert auch die Wirklichkeit, unseren Umgang mit ihr. Das zeigt das Werk von Marx selbst am deutlichsten.
Erklären, deuten und verändern, das tun die Mythen schon immer. Wir wollen dabei bleiben, ihnen zuhören, sie analysieren und mit ihrer Hilfe die Zustände des Menschen einst und jetzt verstehen. Das hilft sicherlich auch, uns selbst heute unter den derzeitigen Umständen besser zu verstehen und vielleicht dadurch besser bestehen zu können.
Ein Beitrag von Constance Timm und Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Ich freue mich auf das von Ihnen vorgenommene DANTE-
Interpretationsjahr, an die vielen noch unbrkannten Aspekte!