Ein Leben ohne Schaukeln ist ein Mißverständnis: Hugo Kükelhaus

Als ich in den 1990ern nach Leipzig kam, entdeckte ich im Park an der Naunhofer Straße in Stötteritz einen menschengroßen Stein mit einem Loch darin – ein sogenanntes Summloch. Man legt (wenn es nicht verdreckt ist) den Kopf hinein, summt sich in eine Stimmlage, bei der der ganze Körper mitzuschwingen beginnt. Der Stein wurde nach einer Idee von Hugo Kükelhaus (1900-1984) gebaut. In Binz auf Rügen fand ich einen weiteren. Kükelhaus war mein nicht-akademischer Lehrer und ich freute mich, auf seine Spuren zu stoßen, etwa auch in Höfgen an der Mulde, in diesem „Dorf der Sinne“. Das Summloch hatte er sich den steinzeitlichen Höhlen von Malta abgeschaut, in denen wohl Initiationen mit Hilfe von Resonanzphänomenen stattfanden. Heute dienen sie dazu, uns wieder in Verbindung mit dem eigenen Körper zu bringen. Leben ist Schwingung, sagte Kükelhaus, und er zeigte es, indem er Schwingungen erfahrbar machte. Das geschah schon in seinen Vorträgen, die oft Stunden dauerten, ohne dass Leute in den Schlaf flüchteten.

Es ging ihm dabei immer um das Tun. Wenn er redete, forderte er die Zuhörer auf, etwas zu tun: Papier zu falten, Knoten zu binden, eine Geste nachzumachen oder wenigstens mitzuschreiben. Ab 1975 entwickelte er die Felder zur Sinneserfahrung, die heute in den verschiedensten Orten von Jena bis Zürich zu erkunden sind. Was ist eigentlich Hören? Was geschieht mit meinem Körper, wenn ich nichts mehr höre? Das kann ich in einem schallschluckenden Tunnel erleben: Der Gleichgewichtssinn ist gestört. Betasten von unbekannten Stoffen und Materialien, Riechen am Riechbaum, Barfußgehen auf verschiedenartigen Böden, all das stimuliert unsere sinnliche Aufmerksamkeit. Wie wirkt Licht auf uns oder das Fehlen von Licht? Was löst ein roter Sonnenuntergang in uns aus?

Wir leben in einer Zeit mangelnder Sinnesauslastung einerseits und überflutender Sinnesreize andererseits.  Kükelhaus‘ Erfahrungsfelder sind Antworten auf eine solche Entwicklung, bei der wir uns zunehmend selbst berauben. Indem wir die Verbindung zum eigenen Körper verlieren, verlieren wir den Bezug zur Natur überhaupt. Die Folgen sind überall sichtbar, bis hin zur Klimakrise.

Kükelhaus wurde 1900 in Essen geboren und wurde nach dem Abitur Zimmermann. Sein Vater riet ihm zu einem Handwerk, das stärke die Nerven. Nach der Meisterprüfung studierte Kükelhaus unter anderem Mathematik, Biologie und Philosophie. In den dreißiger Jahren war er im Handwerkswesen tätig, als Gestalter, Möbeldesigner und Philosoph, der eine organische Komponente in das Denken bringen wollte, ein Denken mit und nicht gegen den Leib. Das passte zunächst gut in die herrschende Ideologie des Nationalsozialismus, dessen handwerklich-heimatbezogene Komponente er daher begrüßte. Liest man seine frühen Werke, so wird man dort aber keinen Rassismus oder Nationalismus finden. Kükelhaus betonte Gewaltlosigkeit und eine freiheitliche Pädagogik – das Gegenteil faschistischen Denkens. Sein Werk ist insgesamt eine Kritik der Macht in allen ihren Schattierungen. Seit Ende der 1930er war er mit Fritz-Dietlof von der Schulenburg befreundet, einem der später hingerichteten Widerständler des 20. Juli. Kükelhaus unterstützte den Widerstand, auch wenn er kein Widerständler im politischen Sinn war. Sein vergrabenes Tagebuch dieser Zeit spricht Bände. An der Ostfront schrieb er letzte Worte und Erzählungen von Sterbenden auf. Daraus wurde Du kannst an keiner Stelle mit Eins beginnen, ein Buch mit vielen poetisch-traurigen, aber auch hoffnungsvollen Erinnerungen.

Für sein gesamtes Schaffen ist das Kind der Ausgangspunkt. Er kritisiert die Moderne immer wieder mit den Augen eines Kindes. Erstaunen ist das erste, was den Kindern in der Schule ausgetrieben wird. Sonne und Mond sind nur noch ein astronomisches Problem, der Käfer führt sein Leben im Auftrag der Biologie und der Stein fällt, um die Naturgesetze zu erfüllen. Es passt, dass die interessiertesten Besucher des Erfahrungsfeldes die Kinder sind. Sie lauschen dem Klicken der aneinanderschlagenden Kugeln nach wie einem fernen Glockenläuten.

Kükelhaus erfand die Greiflinge, Holzspielzeuge zum Begreifen für Kleinkinder, er arbeitete mit Architekten an neuen Bauformen, die dem Körper gerechter sind. Mit Kindern setzte er sich zusammen, um ein Kinderheim zu konzipieren, mit Tunneln, Höhlungen und Rutschen. Und Bildgeschichten über den kindhaften Träumling schrieb er auch.

Später richtete er sein Augenmerk auf die Art, wie Kinder in Schulen verbogen und verkorkst werden. Pädagogik und Architektur gehen dabei oft Hand in Hand. Kükelhaus analysierte die Lernanstalten und stellte fest, dass sie vieles mit den Ställen für Batteriehühner gemeinsam haben. Das einzige was interessiere, sei die Ratio von Input und Output. So dachte man die Lernleistung zu steigern, wenn man möglichst wenig Ablenkung durch Fenster, Tageslicht oder Treppen erzeugte. Die Folgen sind verheerend. Nicht nur misslingt der Informationstransfer, weil die Rechnung ohne den Wirt, den Körper nämlich, gemacht wird, sondern auch weil jeder Sinn den ganzen Menschen betrifft. Es ist nicht nur das Auge, das an den Lichtverhältnissen leidet, sondern über Hormonausschüttungen der ganze Körper.

Im westfälischen Soest (meiner Heimatstadt) steht sein Haus, man kann es besuchen mit seinen Werk- und Schreibtischen, Mumienhänden, Kristallen, Klanghölzern. Oder sich auf die Partnerschaukel setzen: Während eine Seite schwingt, geht die andere in den Ruhezustand – und umgekehrt. Von der Decke hängt ein schwerer Stein und man lässt ihn über sich pendeln: erlebte Schwerkraft. Alles Verstehen beginnt, so Kükelhaus, mit dem eigenen Erleben und Tun.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


 Literaturhinweise:

Hugo Kükelhaus, Unmenschliche Architektur – von der Tierfabrik zur Lernanstalt. Köln: Gaia 1973.

Hugo Kükelhaus, Bar el Paraiso. Reisetagebücher 1967-1979. Leipzig: Edition Hamouda 2017.

Sigrid Lategahn: Der Muschelhorcher. Kükelhaus für Kinder. Leipzig: Edition Hamouda 2019.

Hugo Kükelhaus Gesellschaft Soest:  www.hugo-kuekelhaus.de


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. 

2 Antworten auf „Ein Leben ohne Schaukeln ist ein Mißverständnis: Hugo Kükelhaus“

  1. Lieber Elmar, zur Zeit bin ich in unserer Heimatstadt Soest und freue mich über Deine wohlformulierten und mitschwingenden Zeilen zu Hugo Kükelhaus Leben und Werk – u.a. in Soest.

    In unsere Zeit, in der den Menschen die Fähigkeit zu “analoger Kommunikation” abhanden zu kommen droht, hätte Hugo Kükelhaus noch viel weniger gepasst, als in die Verdrängungs-Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg, die mit seinem Erfahrungswissen und seiner eindringlichen Lehre zur leib-seelischen Achtsamkeit oft nicht viel anzufangen wusste.
    Umso wichtiger, daß Du an ihn erinnerst, immerhin hast Du ihn, als junger Mann, persönlich kennengelernt und bist bis heute inspiriert von den Begegnungen mit ihm.
    Danke und viele Grüße

  2. Danke, lieber Elmar, phantastisch…..beim Lesen Deiner Zeilen und kongruentem Verstehen der Kügelhausschen Gedanken möchte ich Euch beiden 😉 Zurufen: Die höchste Vollkommenheit der Seele ist ihre Fähigkeit zur Freude. Eine gutes schöpferisches Leben wünsche ich Dir weiterhin! Liebe Grüße, Benita

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