Nimm von einem Dreiweg eine dreieckige Scherbe, indem du sie mit der linken Hand aufhebst. Schreibe auf sie mit Myrrhentinte und verbirg sie:
„Astraêlos, Chraêlos, zerstört jedes Zaubermittel, das sich gegen mich, NN, richtet! Denn ich beschwöre euch bei den großen und furchtbaren Namen, vor denen die Winde erschauern und die Felsen beim Hören zerreißen!“ (Zauberzeichen) [PGM XXXVI, 256-264, 4. Jahrhundert, Griechisch. Übersetzung nach Preisendanz 19742, 171.]
Die Anweisungen im Detail
Sehen wir uns die Informationen, die uns die Anleitung verrät, einmal genauer an:
Die Herkunft des Materials für den Textträger
Ein Dreiweg ist die Stelle, an der sich drei Wege kreuzen. In der antiken griechischen Vorstellung waren Dreiwege unheimliche und gefährliche Orte, an denen ein besonderer Schutz notwendig war. Sie waren Übergangsstellen für gefährliche Dämonen und böse Geister in die Welt der Menschen. Die griechische Göttin Hekate galt als Göttin dieser Dreiwege. Sie wurde häufig dreigestaltig dargestellt und ihre Götterbilder wurden an Dreiwegen zur Abwehr von bösen Mächten aufgestellt. Mit ihrem dreigestaltigen Körper konnte sie sämtliche Richtungen im Blick behalten und bewachen. Doch die Göttin galt nicht nur als Wächterin der Wege, sondern auch als „Wegöffnerin“ und damit als Vermittlerin. Sie konnte den Weg in die Welt der Götter öffnen, aber auch den in die Unterwelt, zu den Toten und Totendämonen.
In der antiken Metropole Pergamon wurde eine dreieckige Zaubertafel mit Aufsatz ausgegraben, die möglicherweise als Räucheraltar verwendet wurde. In jeder Ecke befindet sich eine Hekatefigur zusammen mit Zauberzeichen und anderen Beschriftungen. Eine Abbildung und weitere Informationen zu Hekate findet man kostenlos in: Richard Wünsch, Antikes Zaubergerät aus Pergamon, Berlin 1905, 11-14, zum Beispiel über die Heidelberger Universitätsbibliothek kostenlos verfügbar: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wuensch1905/0022. Seit Kurzem stellt die Antikensammlung Berlin auch ein Foto zur Verfügung:
Der Dreiweg ist in mehreren antiken Zauberanleitungen von Bedeutung. In einem Liebeszauber aus dem 4. Jahrhundert ist ein Täfelchen an einem Gefäß zu befestigen, das auf einem Dreiweg verborgen werden soll (PGM IV, 2943-2966). In einer Anleitung aus dem 4. oder 5. Jahrhundert wird der Praktizierende angewiesen, ein Ritual „bei einem Fluß, am Meer oder an einem Dreiweg“ durchzuführen (PGM XIa, 1-40).
Wer gerne mehr über die Dreigestalt der Hekate und ihre Verbindung zum Dreiweg erfahren möchte und akademischen Slang nicht scheut, der wird in Aletta Seifferts Buch „Der sakrale Schutz von Grenzen im antiken Griechenland“ auf den Seiten ab 115 (Hekate) bzw. ab 124 (Dreiweg) fündig, das kostenlos über die Deutsche Nationalbibliothek heruntergeladen werden kann: https://d-nb.info/1002529468/34.
Die Zahl Drei hat in der Religion, der Magie und der Mystik vieler Kulturen große Bedeutung. In der Antike wurden Götter häufig in Dreiergruppen verehrt; besonders weit verbreitet waren die „kapitolinische Trias“ (Dreiheit) der römischen Götter Jupiter, Juno und Minerva und die ägyptische Götterdreiheit Osiris, Isis und Horus. Auch die griechischen Schicksalsgöttinnen bildeten eine Dreiheit. Eine andere Form der Dreiheit kennt das Christentum mit der heiligen Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit. In der Antike kannte man aber auch die Dreiheit in Form der Dreigestaltigkeit einer Gottheit, wie zum Beispiel bei Hekate. In der antiken Philosophie reflektiert die Zahl Drei Anfang, Mitte und Ende und damit eine Gesamtheit und Vollständigkeit.
Eine ältere, aber umfangreiche Übersicht über die Bedeutung der Zahl Drei in der Antike mit vielen Beispielen stammt von Emory B. Lease, The Number Three, Mysterious, Mystic, Magic: https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/360206.
Die Tonscherbe als magisches Artefakt
Beschriftete Tonscherben, sogenannte Ostraka (im Singular Ostrakon), sind in sehr großer Zahl aus der Antike überliefert. Sie waren ein Abfallprodukt, weithin verfügbar und wurden gerne für Notizen, Schulübungen und Quittungen, aber auch für umfangreichere Texte verwendet. Ostraka in magisch-rituellen Kontexten hingegen sind im Vergleich zu anderen Textträgern, wie Gemmen oder Papyrus, selten. Dabei wurden die Scherben sowohl als magische Artefakte, als auch zur Niederschrift von Ritualanleitungen verwendet.
Die Verwendung einer Scherbe für ein Artefakt zur Zerstörung von Zaubermitteln kann mit der Vorstellung erklärt werden, dass Eigenschaften übertragbar sind: Die Eigenschaft der Scherbe als Teil eines zerstörten Gefäßes kann auf das Zaubermittel übertragen werden, das zerstört werden soll. Interessant ist die Frage, wie eine solche Scherbe an einen Dreiweg gelangen kann, wo sie laut Ritualanweisung zu suchen ist. Wir haben zwar keine antiken Quellen, die uns von dem Zerschlagen von Tongefäßen an Dreiwegen berichten, aber es war üblich, Opfergaben an Hekate in Form von Speisen an Dreiwegen niederzulegen. Hier ist vorstellbar, dass von den Tellern und Schalen, in denen sie dargebracht wurden und die in der Regel aus Ton waren, hin und wieder auch etwas zerbrach. Ein kreativer Mensch konnte aber auch selbst dafür Sorge tragen, dass an einem geeigneten Dreiweg in der Nähe ausreichend passendes Scherbenmaterial zur Verfügung steht.
Myrrhentinte ist die am häufigsten erwähnte Tinte in den antiken Zaubertexten. Eine Analyse der Tinten, mit denen magische Artefakte beschriftet wurden, wurde bislang nicht durchgeführt.
Die Scherbe soll nach der Beschriftung verborgen werden. Während für Fluchtafeln und andere magische Artefakte oftmals der Ort der Niederlegung näher beschrieben wird – zum Beispiel ein Grab, ein Gewässer oder eine Türschwelle – fehlt eine solche Angabe in dieser Ritualanleitung. Das kann mehrere Gründe haben. Für den Verfasser der Zauberanleitung konnte es sich um eine so selbstverständliche Information handeln, dass er es nicht für notwendig erachtete, sie aufzuschreiben und dadurch wertvollen Papyrus zu verschwenden. Es ist aber auch möglich, dass bei dieser Zauberpraxis das Verbergen an sich im Mittelpunkt steht, und nicht ein spezieller Ort.
Bei der Handlung des Verbergens geht es dabei weniger darum, das Artefakt vor den Augen neugieriger Mitmenschen zu verstecken, sondern vielmehr darum, einen direkten Kontakt mit den höheren Mächten aufzubauen, die den Zauber ausführen oder ihn an die ausführenden höheren Mächte überbringen sollen. Im Fall unserer Tonscherbe, die mit ihrer Herkunft von einem Dreiweg und ihrer dreieckigen Form auf einer materiellen Ebene eine enge Beziehung zu Hekate herstellt, wären das all jene Orte, an denen sich die Göttin aufhält, darunter auch der Dreiweg, von dem die Scherbe genommen wurde. Hekate, obwohl nicht ausdrücklich genannt, übernimmt in diesem Ritual die Rolle der Vermittlerin.
In der kurzen Ritualanleitung PGM CXXIV, 7-9 ist eine dreieckige Tonscherbe innerhalb eines Hauses zu vergraben. Ihre Funktion ist wegen einer unvollständig erhaltenen Stelle unklar; das Artefakt dient entweder dazu, Schaden bei dem Hausbesitzer zu verursachen oder den Umsatz seines Geschäfts zu fördern. Der bemerkenswerte Unterschied liegt in einem einzelnen Buchstaben in der Überschrift der Anleitung: Kataklêtikon (Umsatz förderndes Mittel) oder Kataklitikon (krank machendes Mittel).
Über die Inhalte der Beschriftung
Die beiden angerufenen höheren Mächte Astraêlos und Chraêlos werden mit Hilfe der „großen und furchtbare Namen“ beschworen und dazu gebracht, ihren Auftrag auszuführen. Diese Namen werden im Folgenden jedoch nicht ausgeschrieben, sondern in Form von sieben Zauberzeichen aufgezeichnet. Da diese Zeichen griechischen Buchstaben ähneln, können sie hier auf unterschiedliche Weise interpretiert werden: Als in besonderer Form geschriebene Anfangsbuchstaben der Namen höherer Mächte oder als deren individuelle Symbole.
Das wirft die Frage auf, ob diese Namen für die Beschwörung laut auszusprechen sind oder ob ihre bildhafte Darstellung die Beschwörung bewirkt. Eindeutig beantworten kann die Forschung diese Frage bisher nicht. Im ersten Fall wäre die Zauberpraxis nur von Eingeweihten ausführbar, die wissen, welche Namen sich hinter den Anfangsbuchstaben verbergen. Im zweiten Fall wäre jeder, der das Aussehen der Zeichen kennt, in der Lage, die Praxis auszuführen. Im Gegensatz zum ersten Fall wäre im zweiten Fall die Macht, mit der Astraêlos und Chraêlos herbeigerufen werden, nicht im Klang der Namen der höheren Mächte präsent, sondern in ihren individuellen Zeichen. Hier stehen sich zwei unterschiedliche antike Vorstellungen zur Machtwirksamkeit in der Magie gegenüber: Die Macht des Wortes und die Macht des Bildes.
Die beiden Namen Astraêlos und Chraêlos sind in den antiken Zauberbüchern kein weiteres Mal in dieser Form überliefert, sie zu deuten ist schwierig. Hier sind verschiedene Ansätze, die zur Verfügung stehen: Astraios ist in der griechischen Mythologie ein Titan und Gott der Abenddämmerung. Mit seiner Gemahlin Eos, der Morgenröte, zeugte er die vier Winde. Astraios ist der Bruder des Titanen Perses, der wiederum der Vater der Hekate ist. Astraios ist in diesem Mythos also der Onkel der Hekate. Durch die Winde bestünde ein weiterer Bezug zu unserem Tonscherbenartefakt.
In der Fachliteratur zur antiken Magie stößt man bei der Suche nach dem Namen Astraêlos immer wieder auf einen Bronzenagel im British Museum (London) als einzige Parallele. In ihn soll der Name Astraêl eingeritzt sein. Die tatsächliche Inschrift lautet jedoch: Abraxas ∙ Astra ∙ El. Eingeritzt wurden also drei separate Namen. Auf den Webseiten des British Museums wird der Nagel nicht bereitgestellt; eine Umschrift findet sich in: Henry Walters, Catalogue of the bronzes, Greek, Roman, and Etruscan in the Department of Greek and Roman Antiquities, British Museum (London, 1899), 370, Nr. 3192; https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/walters1899/0444. Der Name Astraêlos bleibt also in der antiken Zauberpraxis bisher einzigartig.
In der Ritualanleitung PGM IV, 1812-1816, sind sieben Namen in ein Goldtäfelchen zu ritzen, darunter der Name Istraêl. Während die Siebenzahl der Namen an die sieben Zauberzeichen unserer Tonscherbe erinnert, wird hier Astraêl jedoch mit Hilfe dieser sieben Namen beschworen, und gehört nicht selbst zu ihnen. Die Anfangsbuchstaben der sieben einzuritzenden Namen passen übrigens nicht zu den Zauberzeichen auf unserem Ostrakon.
Es gibt eine Reihe griechischer Worte, die mit der Silbe Chra- beginnen, darunter überfallen, angreifen, bestürmen, verkünden und viele weitere, die aufgrund einer Lautähnlichkeit in Frage kämen. Zu viele für eine klare Interpretation des Namens. Bei beiden Namen könnte die Silbe „êl“ auf eine ursprünglich hebräische Endung -êl hindeuten, die einen göttlichen Bezug herstellt, an die die griechische Endung -os angefügt wurde, um die Namen der griechischen Sprache anzupassen. Soweit ein kleiner Einblick in die Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Deutung der Namen höherer Mächte in den antiken Zauberhandbüchern.
Die Beschwörung höherer Mächte mit Hilfe spezieller Namen gehört zu den zentralen Werkzeugen in der antiken Zauberpraxis. Dabei werden entweder die geheimen Namen höherer Mächte selbst verwendet, oder – wie hier der Fall – die Namen dritter Mächte. Siehe dazu den Blogbeitrag Über den Mythos von der List der Isis, die Macht geheimer Namen und die Frage: Wie funktioniert antike Magie?
Beispiele aus der Praxis
Ein Lysipharmakon auf einer Tonscherbe ist archäologisch nicht überliefert. Ein Ostrakon aus dem 2. bis 3. Jahrhundert, beschriftet mit dem Liebeszauber eines Theodor gegen eine Matrona, befindet sich in der Papyrussammlung der Universität Köln mit der Inventarnummer O. 0409.
Während Ostraka mit zauberbrechender Funktion archäologisch nicht überliefert sind, so gibt es doch ein Silbertäfelchen, in dessen Beschriftung Zauberzeichen angerufen werden, damit sie eine Frau namens Juliana „von allen Zaubermitteln und von allem passiven Leiden und allen aktiven Einflüssen und dämonischen Erscheinungen der Nacht und des Tages lösen mögen“. Das Artefakt aus dem 2. oder 3. Jahrhundert wurde in Beroea (Syrien) gefunden, sein heutiger Aufbewahrungsort ist unbekannt. Eine Umzeichnung, Übersetzung und Diskussion finden sich in: Roy Kotansky, Greek Magical Amulets (1994), 239-244, Nr. 46.
Ein Beitrag von Dr. Kirsten Dzwiza
Dr. Kirsten Dzwiza forscht am Institut für Ägyptologie der Universtität Heidelberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. .a. Antike Magie und Ritualpraxis, Schriftverwendung und Schriftfunktion in antiken rituellen Kontexten sowie Ancient materials, technologies, and knowledge in modern contexts of the Sustainable Development Goals.
Die Autorin twittert regelmäßig über antike Magie unter @antikemagie
Literaturhinweis:
Karl Preisendanz, Papyri Graecae Magicae – Die griechischen Zauberpapyri, Band 2 (1931).
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Diese Öffnerin der Wege – Hekate – stellt in der griechischen Mythologie eine absolute Ausnahme dar. Es handelt sich um eine Titanidin, die nach der Titanomachie ihre Unabhängigkeit behielt. Alle anderen Götter / Titanen wurden von Zeus unterworfen. Einige Titanen sind auch in der Hölle (Tartaros) gelandet. Asteria und Perses sind die Eltern der Hekate. Dabei ist Asteria besonders interessant -> https://mythologie.forumieren.de/t961-asteria-mythologie-tochter-des-koios-und-der-phoibe
Ich möchte übrigens anmerken, dass die Leute aus der breiten Masse heute alle Texte, Beschreibungen, Symbole und sonstige Hinweise pauschal als „unmöglich“ abtun. Nach meinen jahrelangen Recherchen, erscheint dies als ausgesprochen voreilig. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – dieser Hinweis wird nicht mehr beachtet. Wie kann das sein? Bilder? Bewegte Bilder? Medien? Dabei könnte es sich durchaus um Magie handeln.
Warum behielt Hekate ihre Unabhängigkeit? Ein ausführlicher Artikel darüber würde mich interessieren.