“Sie hexten im Himmel, sie hex[ten] auf der Erde.“
(Auszug Gira-Hymnus – Übersetzung Schwemer, Abwehrzauber, S. 21)
Die Welt, das Leben, unser Denken, Handeln und Fühlen, all unsere Bewegungen und auch unsere Worte – gesprochene wie geschriebene, solche mit und ohne Absicht, Wissen, Zerstreuung oder Erkenntnis erlangen zu wollen – all dem ist ein grundlegender Schlüssel zu eigen, welchem wir uns nur selten bewusst sind: die Wiederholung. Bei Wiederholung denkt man vielleicht an die Jahreszeiten, an Geburtstage, an wiederkehrende Sportereignisse, an das freitägliche Gespräch in der Kneipe oder an den regelmäßigen Austausch beim Lesekreis, vielleicht stellt man sich auch einen mittelalterlichen Benediktinermönch im klösterlichen Skriptorium vor, wie er Handschriften für die hauseigene Bibliothek illuminiert oder abschreibt.
Seit jeher ist vor allem das Abschreiben eine gängige Wiederholungspraxis gewesen. Man könnte fast sagen, in der Mechanik der vollzogenen Bewegungen, dem Moment zwischen dem Aufnehmen der Tinte und dem Absetzen der Feder, in dem noch alles in der Schwebe zu hängen scheint, sowie in der routinierten Aneinanderreihung von Sätzen, Worten, Zeichenfolgen liegt etwas Ritualhaftes, Ordnendes, Durchdringendes, ja durch und durch Magisches. Handelt es sich bei dem zu kopierenden Text zudem um eine Art von zauberischem Leitfaden, ist der Magie in gewisser Weise doppelt Genüge getan. So ähnlich mag es womöglich jener Mann aus dem 7. vorchristlichen Jahrhundert empfunden haben, der uns aus Keilschrifttexten als Kiṣir-Nabu bekannt ist. Er lebte in der am rechten Ufer des Tigris gelegenen Stadt Aššur (heutiger Irak) und gehörte den sogenannten ašipu an. (Schwemer, Magic Rituals, S. 421)
Unter dem Begriff ašipu verstand man eine Art von Priester, der aber nicht im eigentlichen Sinne für die Durchführung religiöser Zeremonien in den mesopotamischen Göttertempeln zuständig war oder im Dienst einer besonderen Gottheit wie Marduk oder Ishtar stand. Sein Metier waren Beschwörungen, Exorzismus und Magie, vor allem die „weiße Magie“. Denn der ašipu war in erster Linie ein Heiler. Allerdings war seine Heilkunst angesiedelt im Bereich des Übernatürlichen und damit unterschieden von der des ašu, des Arztes und Herbalisten. Ašipus wirkten vor allem am königlichen Hof, aber auch in jenen Bevölkerungskreisen, die sich diese Art von magischen Diensten leisten konnten. Manche der durchzuführenden Rituale erstreckten sich über mehrere Tage. Die meisten sollten die Reinigung von Verfehlungen oder von Unheil bewirken respektive Unheil abwenden, das, in der Vorstellungswelt des alten Mesopotamiens, durch Schadenszauberer, Hexen aber auch Dämonen bewirkt werden konnte. Zudem sagte man den ašipus nach, dass sie die Zukunft mithilfe von empirischen Beobachtungen und angeeignetem Wissen vorhersagen konnten, was sie als Ratgeber sehr beliebt machte. Ein ašipu war also faktisch Priester, Magier und Intellektueller in einem.
Die Grundlage für die Tätigkeiten eines ašipu bildeten spezielle Texte, die ašhiputu, welche meist in Akkadisch – der lingua franca Mesopotamiens und des bronzezeitlichen östlichen Mittelmeerraums – verfasst respektive abgeschrieben waren, aber auch zweisprachig in Sumerisch und Akkadisch verschriftlicht sein konnten. Die Texte, welche uns zum größten Teil aus dem 1. vorchristlichen Jahrtausend überliefert sind und vielfach aus der Bibliothek des Aššurbanipal aus Ninive stammen, enthielten zumeist detaillierte Anweisungen für Rituale und Kommentare zu deren Durchführung sowie Rezepte und Beschwörungen. Sie dienten dem ašipu als Studium. (ders, S. 421 f.) Mit dem zunehmenden Wiederholen der Abschriften sowie den Erfahrungen bei der praktischen Anwendung verhießen sie dem Besitzer/Benutzer nicht nur Status, sondern ließen die Texte und damit auch die Magie die Zeiten überdauern. Vor allem die bereits erwähnten Reinigungsrituale zählten zu den bekanntesten magischen Praktiken. Doch bevor wir dazu etwas tiefer in medias res gehen, lohnt zunächst ein Blick auf die generelle Entwicklung und Bedeutung der Magie im Zweistromland.
„Grundsätzlich ist Magie das Wissen und die Fähigkeit, Dinge zu vollbringen, die mit nichtmagischen Mitteln unmöglich sind.“ (Priesner, S. 47) Sie impliziert dabei auch die Fähigkeit, sich zwischen den Sphären des Diesseits und des jenseitigen Übersinnlichen bewegen zu können. Im Gegensatz zum frühgeschichtlichen Schamanismus, der durch rituelle Ekstase, Seelenwanderung, Voraussage und Heilung gekennzeichnet ist und generell der gesamten Gemeinschaft zugute kommt, dabei jedoch weitestgehende Kultunabhängigkeit besitzt, basieren die magischen Vorstellungen der bronzezeitlichen und antiken Hochkulturen auf einem spezialisierten System aus Ritualen und Götterkult sowie auf verschriftlichten und/oder mündlich vorgetragenen Formeln. Magie bedeutete auch hier Heilung, Reinigung und Voraussagen, mehr noch aber bedeutete sie Ordnung und sie symbolisierte diese auch im Zuge ihrer Durchführung.
Das komplexe Magiesystem im alten Mesopotamien korrespondierte dabei durchaus mit einer komplexen Gesellschaftsordnung, die als Teil (und Schöpfung) der kosmischen Ordnung begriffen wurde. Unser Wissen über Religion und Magie im Zweistromland beruht auf einer Vielzahl von Keilschrifttexten, welche von Schreibern und Gelehrten wie dem eingangs erwähnten Kiṣir-Nabu kopiert, bearbeitet bzw. zusammengesetzt und schlussendlich wahrscheinlich auch in realis angewendet wurden. So lassen sich in magischen Ritualtexten auch Spuren von religiösen Texten zur Anrufung von Göttern nachweisen. Religion und Magie schlossen sich also nicht zwangsläufig aus (vgl. Abusch, Mesopotamian Witchcraft, S. 3 u. 12 ff.) Bereits in vorassyrischer Zeit (vor 1800 v. Chr.) galt die Magie als ein integraler Bestandteil des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Erste magische Spuren finden sich in Sumer, dem südlichen Teil des Zweistromlandes, das bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. besiedelt war. Auch die Anfänge von Astronomie und Astrologie reichen bis in diese Zeit zurück.
Die „neue“ Magie der „neuen“ Magier beruhte auf Schrift, Wissen und der Vorstellung „einer permanenten Verbindung der ‚kleinen‘ Welt des Menschen – dem Mikrokosmos – mit der ‚großen‘ Welt der Schöpfung als Ganzem – dem Makrokosmos„. (Priesner, S. 47) Demnach existiert kein Zufall, alles ist mit allem verbunden und in stetiger Wechselwirkung, wobei sich der Magier diese Wechselwirkung durch Erkenntnis zunutze machen kann. Hinzu kommt die Vorstellung, dass Wohl und Wehe der Menschen nicht nur von den Göttern abhängen, sondern auch von Dämonen, Geistern oder menschlichen Zauberern/Hexen mit übermenschlichen Kräften, denen man das Wirken von Übeln nachsagte, wobei auch hier die Regel galt, dass nicht jede Hexe oder jeder Zauberer zwangsläufig Schaden bewirken musste. Dennoch galt: Ob Schulterschmerzen, Kopfweh, Impotenz oder das Eintreten von Sonnenfinsternissen; niemand, nicht einmal der Gottkönig an der Spitze des Staates war vor übersinnlichen Einflüssen gefeit. Die schädlichen dieser Einflüsse galt es durch „weiße Magie“ umzukehren, zu minimieren, aufzulösen oder gar zu vermeiden.
Magie im alten Mesopotamien (von Sumer bis Akkad, von Babylonien bis Assyrien) war also ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Priestermagier oder Exorzisten wie die ašipu waren darauf spezialisiert, Unheil zu bannen oder Betroffene von den Schäden zu reinigen. Als solche Schäden galten u.a.: sich durch Magie Gefälligkeiten eines Verwandten oder Geliebten zu sichern, schreiende Kinder ruhig zu stellen oder sexuelle Lust anzuregen oder zu steigern. (Black/Green, S. 125) Zudem beobachtete man Zeichen wie besondere Himmelsereignisse und interpretierte diese als gute oder böse Omen. Aber nicht nur die ašipu mit ihren Ritualen, die exklusiv waren und der Geheimhaltung unterlagen, konnten Magie ausüben. Faktisch konnte jeder Einzelne im Privaten magische Rituale durchführen oder durch einen Zauberer/eine Hexe durchführen lassen, da der Betroffene die Formeln meist selbst aussprach. Belege für „Privatmagie“ finden wir seit der akkadischen Zeit (3. Jahrtausend v. Chr.), während in der weiter zurückreichenden, sumerischen Zeit der Priestermagier als der alleinige Rezitator der Rituale belegt ist (vgl. Abusch, S. 8, auch Anm. 12). Das Wort war es also, das die Wirksamkeit der Magie garantierte.
Magische Rituale konnten als kurze aber prägnante Rezepturen verfasst sein, aber auch sehr komplexe Vorschriften zur Formeln zur Durchführung aufweisen. Eine der wichtigsten Mittel zur Abwehr von Schadenszauber war die sogenannte Maqlû Serie, auch als „Verbrennung“ bezeichnet. Hierbei ist der „Patient“ überzeugt, dass er vom unheilvollen Wirkens eines Zauberers oder einer Hexe betroffen ist. Damit unterscheidet sich dieses Ritual vom sogenannte Šurpu, was ebenfalls „Verbrennung“ meint. Allerdings weiß der „Patient“ in diesem Fall nicht, was oder wer das Unheil (u.a. Schlaflosigkeit, Unruhe, Muskelzuckungen) verursacht respektive, auf welche Weise er die Götter erzürnt hat. Beim Šurpu konnten alle mögliche Arten von „Sünden“ eine Rolle spielen, die getilgt und gereinigt werden mussten. Magie bedeutete damit also immer auch, eine als real verstandene Störung der Ordnung wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Wie muss man sich nun den Ablauf eines magischen mesopotamischen Rituals konkret vorstellen? Kommen wir dazu noch einmal das Maqlû zurück. Hierbei handelt sich nicht um eine Sammlung verschiedener Beschwörungen oder Rituale, sondern um ein einziges großes Ritual (auf acht Keilschrifttafeln mit etwa einhundert Beschwörungen), welches sich über eine ganz Nacht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erstreckte (vgl. Schwemer, Abwehrzauber, S. 38). Das Maqlû fiel unter die Zuständigkeit der Priestermagier, und man darf vermuten, dass es aufgrund seiner Komplexität vermutlich nur bei höherstehenden Personen oder dem König und seinen Anverwandten Verwendung fand. „Der Beschwörer ruft zunächst die Götter der Nacht, also die Gestirne des Nachthimmels an, lädt Hexer und Hexe vor zu Gericht und gibt als Ziele des ersten Ritualabschnitts die völlige Vernichtung der Übeltäter, nämlich ihre Bannung in die Unterwelt an.“ (ders. S. 38) Es folgt das mehrfache Verbrennen/Schwärzen von Figuren (fünf oder zehn Verbrennungen), die als Ersatz der Delinquenten dienen, was ein wenig an die Puppen des Voodoo erinnert. Nuska, der Gott des Lichts und der Feuergott Gira werden angerufen. „Die zweite Hälfte der Nacht füllen apotropäische Riten und Beschwörungen, die mit Maßnahmen zur ideellen und physischen Stärkung des Kranken einhergehen.“ (ders. S. 38) Hier werden verschiedene Substanzen verbrannt und eine nicht geschwärzte Figur des Schadenszauberers oder der Hexe zerstört oder zertrampelt. Bis zum Sonnenaufgang folgen Räucherungen, Salbungen und weitere unheilabwehrende Riten, auch die Anrufung des Sonnengottes Šamaš (akkadisch und babylonisch, bei den Sumerern Utu genannt), der auch als Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagen verehrt wurde. Nach Sonnenaufgang werden sämtliche Reste des Maqlû verbrannt, Waschungen finden statt und es können weitere Figuren an die Hunde verfüttert werden. „Die Dynamik des Rituals Maqlû ist wesentlich vom Übergang aus dem Dunkel der Nacht in das Helle des Morgens geprägt.“ (ders. S. 226) Schon allein der Übergang zum Licht symbolisierte Reinigung und auch Erneuerung, vor allem aber auch die Überwindung des Übels und somit auch des Todes. Die letzte Beschwörung des magischen Rituals, die beim Aufgang der Sonne stattfindet, drückt noch einmal den Gegensatz von Dunkel und Licht aus:
“Du bist mein Schatten, du bist meine Lebensenergie,
du bist meine Lebenskraft, du bist meine Gestalt,
du bist meine körperliche Form, du bist meine Manneskraft,
du bist mein großer Schatten, du bist mein sich selbst erneuernder Schatten,
Weise ab die Hexereien, weise ab die Zaubermittel,
weise ab Totschlag, weise ab Lebensabschneidung,
weise ab gar nicht gute Spucke,
weise ab Mundlähmung, weise ab Rechtsverdrehung,
weise ab Haßzauber, weise ab das Übel der bösen Zaubermittel der Menschen!
Du bist mein, ich bin dein!
Niemand lerne dich kennen, kein Übel komme an dich heran –
Auf den Befehl des Ea, des Šamaš, des Marduk
Und der Fürstin Beletili!“
(Auszug Maqlȗ – Übersetzung Schwemer, S. 229)
Bei der Rezitation der Beschwörungszeilen blickt der „Patient“ in eine Wasserschüssel und soll sein Spiegelbild erkennen. Darin liegt seine Lebenskraft, die ihn immun gegen weiteren Schaden macht und „das Böse“ faktisch in der Nacht zurücklässt. Die magische Reinigung ist damit abgeschlossen.
Natürlich dürfen die Götter beim Maqlû nicht fehlen. Ihre Anrufung findet sich in fast allen magischen Ritualen, so auch in einem Keilschrifttext aus der Stadt Isin (heute südöstlich von Bagdad), der eine akkadische Liebesbeschwörung mit äußerst amourösen Versen beschreibt. Ob diese in realis tatsächlich Anwendung fand oder es sich vornehmlich um ein poetisch-literarisches Fantasieprodukt handelt, kann nicht abschließend geklärt werden. Es handelt sich hierbei um einen in Dialogform verfassten Text – eine Besonderheit bei Beschwörungen – mit einem personenbezogenen und einem kultbezogenen Teil, in welchem zwei Männer (Iddin-Damu und Erabanni), Erabannis Ehefrau sowie dessen Geliebte, eine entum-Priesterin, vielleicht sogar die Verfasserin des Textes, die zentrale Rolle spielen. Die Priesterin versucht mittels des Rituals, den Ehemann Erabanni für sich gefügig zu machen. Wobei entum-Priesterinnen, die den Status einer Hohepriesterin und göttlichen Gemahlin besaßen, für gewöhnlich keine Liebhaber hatten und es ihnen auch verboten war, Kinder zu gebären. Der Altorientalist Claus Wilcke will den Begriff eher weiter gefasst verstanden wissen, wiewohl er einen Zusammenhang mit der kultischen Prostitution nicht ausschließt (vgl. Wilcke, S. 197) Interessant ist auch hier nicht nur die magische Poesie der Sprache an sich, sondern auch die Anrufung der Götter.
„Mit dem Speichel eines Rüden, von Dürsten und Hungern,
mit einem Schlag ins Gesicht, dem Werk des Augenverdrehens
habe ich dich aufs Haupt geschlagen, habe ich deinen Verstand verwirrt!
[…]
Sei schlaflos in der Nacht!
Tagsüber ruhe nicht!
Bei Nacht setz dich nicht!
Geliebter, Geliebter,
du, den Ea und Enlil gesetzt haben,
wie Ištar auf dem Throne sitzt,
wie Nanāja im Heiligtum sitzt,
umfange ich dich.“
(Übersetzung Wilcke, S. 199 ff.)
Während im Maqlȗ neben dem Sonnen- und Wahrsagegott Šamaš und Marduk, dem Stadtgott von Babylon, noch Beletili (oder: Belet-ili) erwähnt wird, eine Mutter- und Vegetationsgöttin des altbabylonischen Atramchasis-Epos (um oder vor 1800 v. Chr.), der Schöpfungsmythos und Sintflutgeschichte vereint, treten bei der Liebesbeschwörung aus Isin Ishtar (Göttin des Krieges und der Liebe), Nanāja (Göttin des sexuellen Begehrens) und Enlil, der sumerische und akkadische Vater der Götter auf. Eine recht verschiedene Mischung an Anrufungen. Doch ist beiden Beschwörungen der Verweis auf Ea gemeinsam, sumerisch 𒀭𒂗𒆠 (Enki), Gott der Künstler, der Handwerker aber auch der Magier. Zu seinen Attributen zählt ein Boot sowie ein Stab mit Widderkopf. Er war der Schöpfer der Menschen und zudem im Besitz der sogenannten ṭuppi šimāti, der Schicksalstafeln, die dem Träger die Macht über den Himmel, die Erde und die Unterwelt verleihen – eine Kosmologie, die der Dreiteilung des schamanischen Kosmos entspricht. Als weitere magische Gottheit im mesopotamischen Pantheon galten Daminka, die Ehefrau des Enki, sowie Asalluḫi, ursprünglich ein sumerischer Helfergott für (heilende) Beschwörungen, später adaptiert als der erste der fünfzig Namen des Gottes Marduk oder aber als Asalluḫi-Marduk mit ihm gleichgesetzt. Damit war dem babylonischen Hauptgott auch der Zugang zur Magie zu eigen, ein für Ritus und Kult nicht unwesentlicher Umstand.
Eine Tochter des Magier-Gottes Enki war Ninkasi, Göttin des Alkohols und speziell des Bieres. Das Bier, besagt ein sumerischer Hymnus, „stimmt unser Gemüt angenehm [und] erfreut unser Herz“, und in einem sumerischen Sprichwort heißt es weiter: „Wer das Bier nicht kennt, weiß nicht, was gut ist.“ (Maul, S. 389) Bier wurde nicht nur in Schenken gebraut, sondern dort auch verkauft. Schenken oder Kneipen waren nicht nur Orte der Einkehr oder des geselligen Beisammenseins, dort wurde gespielt, man versteckte sich vor Gesetzeshütern, verkehrte mit Huren oder wurde um Geld betrogen, nicht selten vom Eigentümer selbst. In altbabylonischer Zeiten waren diese Eigentümer häufig Frauen. In den Texten ist von sabitum die Rede, was Wirtin bedeutet. Zudem sind eine Reihe von magischen Ritualen bekannt, die den sogenannten namburbi-Ritualen zugeordnet werden und den Besuch einer Kneipe zwingend vorschrieben. „Mit Hilfe dieser Rituale sollte ein durch ein Vorzeichen angekündigtes, in der Zukunft liegendes negatives Ereignis abgewendet werden, indem man versuchte, die Kräfte, die den Schaden bewirken könnten, zu besänftigen.“ (Maul, S. 390) Um die dräuenden negativen Bande zu lösen, musste dieses Negative gebannt und eingeschlossen werden (u.a. in ein Kleidungsstück des Betroffenen oder einen persönlichen Gegenstand). Auf diese Weise ließ es sich am Ende leicht „entsorgen“. Zudem musste sich der Betroffene entsprechend reinigen. War also zum Beispiel vor einer anstehenden Mondfinsternis mit Unheil zu rechnen, musste der Betroffene auf magische Anweisung hin zum Abschluss des Rituals eine Wirtschaft aufsuchen, um nach der Reinigung und der Erneuerung durch die Beschwörungen, wieder an der Gesellschaft teilzuhaben. So konnte es durchaus sein, dass das Ritual vorschrieb, dass der Betroffenen mit den Kneipengästen reden oder den Gärbottich berühren musste. Dazu galt es dann noch eine Formel zu sprechen, wie: „Siris und Ningizidda mögen mich lösen.“ Siris war eine Tochter der Biergöttin Ninkasi und damit eine Bierdämonin. Ningizidda (oder Ningishzida) zählte zu den Vegetations- und Unterweltsgottheiten. Bei solch einem Ritual, so der Altorientalist Stefan Maul, sollte die Kneipenatmosphäre die Anspannung durch das beunruhigende Vorzeichen tilgen. „Hierbei wurde auch ganz bewußt auf die entspannende Wirkung des Alkohols gesetzt. Der von den Beschwörern verordnete Besuch in der Kneipe ist daher als geschickte und psychologisch kluge gedachte Form der Resozialisierung zu werten.“ (Maul, S. 392 f.)
Kneipen konnten aber auch der Dämonenabwehr dienen, u.a. indem man einen Mehlkreis zog, um den für das Unheil infrage kommenden Dämonen zu bannen und ihn im Anschluss einen der besagten Gärbottiche (in der magischen Praxis häufig assoziiert mit dem Mutterleib oder einer Vogelfalle) überzustülpen. Der Bottich wurde verschlossen und drei Tage und Nächte nicht berührt. Danach konnte das Behältnis samt Dämon beseitigt, sprich vergraben werden. Generell galt eine Kneipe im alten Mesopotamien als ein im magischen Sinne gefährlicher Ort. Nicht nur weil es zu befürchten galt, dass dort ungute magische Ritualrückstände zurückblieben; die Kneipe, vor allem ihr Eingangsbereich, diente auch als Abladeort für magisch unreine Rückstände oder Gegenstände. War jemandem beispielsweise ein Totengeist erschienen, mussten Tür und Riegel einer Schenke berührt werden. Die Kneipe war also gewissermaßen ein magischer Zwischenort, wo Reinigung und Unheil nahe beieinander liegen konnten. Ein Grund, weshalb der Schenkenzauber garantieren sollte, dass der Wirtin nicht die Geschäfte geschmälert wurden. Aufgabe des Schenkenzaubers war es „die Verunreinigung [auszulöschen], die durch das Deponieren der im magischen Sinne infektiösen Ritualrückstände entstanden war“. (Maul, S. 395) Daher wurden die Pfosten mit einem unheilabwehrenden Belag bestrichen und ein Opfer an Isthar, die auch Schutzgöttin der Wirtschaften war, dargebracht. Zudem konnte am vorletzten Tag des Jahres eine Tontafel im Eingangsbereich der Kneipe aufgehängt werden, auf dem das Reinigungsritual beschrieben stand. „Der Besucher einer auf diese Weise abgesicherten Kneipe konnte sein Bier in Ruhe trinken, ohne die Angst haben zu müssen, sich eine Unreinheit und damit ein künftiges Unheil zuzuziehen.“ (Maul, S. 396) Eine win-win-Situation für Betreiber, Besucher und einen von unguten Vorzeichen Betroffenen also, durfte er doch sicher sein, dass der Schenkenzauber nicht nur angewendet, sondern zudem regelmäßig wiederholt wurde.
Das Beispiel der Bier- und Schenkenmagie zeigt einmal mehr, dass es sich bei den Magievorstellungen im alten Mesopotamien nicht um abstrakte Vorstellungen gehandelt hat. Magie war nicht allein Privilegierten vorbehalten. Sie diente wie im Fall des Kiṣir-Nabu zudem nicht ausschließlich dem Studium der Priestermagier oder Exorzisten, welche sie in besonderen Fällen durchführten. Ebenso wenig gehörte sie allein in den Bereich von Poesie und Literatur. Die Magie, vor allem aber die mit ihr verbundenen Wort-Formeln, zielte zumeist auf praktische Anwendung gegen „böse Einflüsse“ im Alltag und erstreckte sich zudem auch in den Heilbereich, von Kopfschmerzen bis Taubheit, von Lähmung bis Vergesslichkeit. Magie war eine konstante, anerkannte und teilweise auch gefürchtete Macht; Geheimwissen einerseits und, überspitzt formuliert, „Volksmagie“ andererseits. Damit besetzte sie jenen Platz zwischen Wissenschaft und Religion, die u.a. der Ethnologe und Philologe James George Frazer (1854-1941) ihr grundlegende zubilligte. Welche Spuren und Einflüsse die Magie des alten Mesopotamien auf spätere Kulturen hinterlassen hat, wird daher noch näher zu untersuchen sein.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweise:
Claus Priesner: Dinge zwischen Himmel und Erde. Eine Kulturgeschichte des magischen Denkens. wbg Academic: Darmstadt 2020.
Claus Wilcke: Liebesbeschwörungen aus Isin. In: Zeitschrift fuer Assyriologie und vorderasiatische Archaeologie, 1985, S. 188-209.
Daniel Schwemer: Magic Rituals. Conceptualization and Performance. In: The Oxford Handbook of Cuneiform Culture. Ed. by Karen Radner, Eleanor Robson. Oxford University Press: Oxford, 2020. S. 418-442.
Daniel Schwemer: Abwehrzauber und Behexung. Studien zum Schadenszauberglauben im alten Mesopotamien. Harrassowitz Verlag: Wiesbaden 2007.
Jeremy Black/Anthony Green: Gods, Demons and Symbols in Ancient Mesopotamia. An Ilustrated Dictionary. 2nd Ed. British Museum Press: London 1998.
Tzvi Abusch: Mesopotamian Witchcraft. Toward a history and understanding of babylonian witchcraft beliefs and literature. Brill: Leiden 2002.
Stefan M. Maul: Der Kneipenbesuch als Heilverfahren. In: D. Charpin, F. Joannès (Hrsg.). La circulation des biens, des personnes et des idees dans le Proche-Orient ancien. Actes de la XXXVIIIe Rencontre Assyriologique Internationale (Paris, 8–10 juillet 1991), Paris, S. 389-396.
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