Divination, Magie und Zukunftsschau. Quellen von der Spätantike bis ins 15. Jahrhundert

Der Wunsch, die Zukunft zu kennen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, und bis heute ist dieses Verlangen nach dem Wissen um zukünftige Ereignisse ungebrochen. Dafür liefern Wettervorhersagen, Wirtschafts- und Gesellschaftsprognosen sowie Horoskope tagtäglich reiches Beweismaterial. Kenntnisse über Ereignisse in naher oder ferner Zukunft durch prognostische Praktiken zu erlangen, sich dieses Wissen zunutze zu machen, um andere übervorteilen zu können bzw. sich dem Gelingen eigener Vorhaben zu versichern, ist ein gesellschafts- und zeitübergreifendes Phänomen.

Prof. Klaus Herbers und Dr. Hans-Christian Lehner von der Universität Erlangen/Nürnberg legen mit dem Band Divination, Magie und Zukunftsschau. Quellen von der Spätantike bis ins 15. Jahrhundert (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. WBG, Darmstadt 2023) eine reichhaltige Quellensammlung vor, welche herausragende und besonders einflussreiche Schriften zur Divination und Zukunftsschau versammelt und so die Vielfalt und den Wandel im Denken über die Prognostik zeigt.

Die Herausgeber betonen in der Einleitung, dass die „Prognostik“ (lat. prognosticare „vorhersagen“) als Arbeitsfeld in der Mittelalterforschung erst seit kurzem wieder in den wissenschaftlichen Fokus gerückt ist. In diesem Kontext ist das seit 2009 bestehende Erlanger Internationale Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung hervorzuheben, dem Herbers und Lehner angehören und als dessen willkommenes Forschungsdesiderat der vorliegende Band anzusehen ist.

Die in diesem Band versammelten Quellentexte stellen vornehmlich westliche und der lateinisch-christlichen Tradition verpflichtete Autoren in den Mittelpunkt der Edition und zeichnen so die Entwicklungslinien frühchristlicher Emanzipation von ihrem antiken Erbe bis in das Spätmittelalter nach. Ausgewählt wurden die Texte mit dem Ziel „mit einer (gelehrten) Diskussion und Normierung von Divination vertraut zu machen und sie mit der praktischen Erfahrbarkeit zu verbinden.“ (S. 14). Dass dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, ist im Rahmen der FSGA-Reihe selbsterklärend. Ausgelassen wurden daher Quellentexte aus der arabisch-muslimischen, jüdischen und griechisch-byzantinischen Tradition, gleichwohl deren Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des Mittelalters bedeutsam ist. Ebenso wurden Texte ausgespart, die schon anderweitig publiziert worden sind.

Die Textauswahl dieses Bandes ermöglicht dem Leser einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Zukunftsschau und deren kultureller Bedeutung für den Menschen von der Spätantike bis ins Mittelalter. Anhand von Auszügen der Schriften von kirchengeschichtlichen Größen wie Tertullian (um 150, † nach 220), Hieronymus (um 348/349, † 30. September 420) und Augustinus (13. November 354, † 28. August 430) über Gregor den Großen (um 540, † 604), Isidor von Sevilla (um 560, † 4. April 636) und Hrabanus Maurus (um 780, † 4. Februar 856) und die Philosophen Albertus Magnus (um 1200, † 15. November 1280) und Thomas von Aquin (1225, † 7. März 1274) bis zu spätmittelalterlichen Texten von Raimundus Lullus (um 1232, † 1316) oder das Traktat De superstitionibus des Nikolaus Magni von Jauer (ca. 1355, †1435) zeichnen die Herausgeber ein umfassendes Bild der Entwicklungslinien und Traditionen divinatorischer Praktiken und deren theologischer Bewertung durch den Klerus.

Die Edition teilt die Quellentexte in vier Abschnitte ein: Abschnitt I „Antike Herausforderung für das frühe Christentum“ versammelt mit kirchengeschichtlichen Größen wie Tertullian, Hieronymus und Augustinus über Gregor den Großen, Isidor von Sevilla eine Auswahl an Texten, welche dem interessierten Leser eine Grundlage zum Umgang mit Divination und Magie erkennen lassen. Dazu gehören insbesondere die Auszüge aus Tertullians Schrift Apologeticum (lat. „apologie“ Verteidigung, Rechtfertigung einer Lehre, verfasst 197 n.Chr.), in welchen der Theologe das frühe Christentum rhetorisch geschickt gegen den Vorwurf der Anrufung von Dämonen verteidigt (Kap. 22 u 23) und die Texte des großen Gelehrten und Kirchenvaters Augustinus von Hippo, Confessiones (dt. „Bekenntnisse“) und De civitate Dei (dt. „Der Gottesstaat“).

Abschnitt II „Prognostik im Wissenssystem des frühen und hohen Mittelalters“ knüpft aus chronologischer Perspektive an die Quellen aus Abschnitt I an und zeigt die Weiterentwicklung der theologische Diskussion anhand der frühmittelalterlichen Autoren Hrabanus Maurus, Johannes Scottus Eriugena (9. Jahrhundert), Regino von Prüm (um 840 – † 915), Burchard von Worms (um 965 – † 20. August 1025), Rupert von Deutz (um 1070 – † 4. März 1129) und Dominicus Gundissalinus (um 1110 – † nach 1181). Besonders die Auszüge aus Burchard von Worms Decretorum libri XX (Burchards Dekret) und Regino von Prüms Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis (Sendhandbuch) zeigen die fortschreitende Kanonisierung des Umgangs mit Wahrsagerei und Magie in ihrer kirchenrechtlicher Form.

Abschnitt III „Definitionen, Deutungen und Politik im 13. Jahrhundert“ widmet sich der philosophischen Durchdringung des Themenkomplexes. Die Textauszüge aus den Werken der bedeutenden Gelehrten Albertus Magnus und Thomas von Aquin nehmen hierbei eine Schlüsselstellung in der theologischen Diskussion um die Rechtmäßigkeit von Trauminterpretation, Divination, Losverfahren und Sterndeutung ein. Abschnitt IV „Superstitio, Häresie und Katastrophen – Auseinandersetzungen“ schließt schließlich die Edition. Die hier ausgewählten Texte zeigen auf unterschiedliche Weise den Umgang und Einfluss kirchlicher Autoritäten zu diesem Themenfeld. Sicherlich am hervorstechendsten ist hier der Traktat De superstitionibus des Nikolaus Magni von Jauer. Die 80 überlieferten Handschriften des Traktats sprechen von einer hohen Popularität zu Lebzeiten von Nikolaus Magni, allerdings wurde De superstitionibus nach dem Ableben des Theologen durch das bei weiten einflussreichere Werk Malleus Maleficarum („Hexenhammer“) von Heinrich Kramer 1486/87 abgelöst.

Jedem der Textauszüge geht ein kurzer biografischer Informationstext über den Autor voraus. Zudem werden die thematischen Schwerpunkte des Textes und dessen Besonderheiten kontextualisiert und kommentiert, sodass sich auch ein Leser ohne fachliches Vorwissen gut zurechtfindet. Darüber hinaus enthält auch dieser Band ein gut ausgewähltes Quellen- und Literaturverzeichnis, welches dem interessierten Leser weitere Anknüpfungspunkte zu der behandelten Thematik bietet. Besonders dabei hervorzuheben ist der äußerst hilfreiche Glossar am Ende des Bandes, der die wichtigsten lateinischen Begrifflichkeiten zu Prognostik, Wahrsagung und Magie erläutert.

Absicht der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe ist es, mittelalterliche Quellen nicht nur einem Fachpublikum, sondern auch einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Diese zweisprachige Ausgabe (lateinisch-deutsch) ermöglicht daher auch einem breiten Leserkreis ohne Lateinkenntnisse den Zugang zu den Dokumenten der deutschen und mitteleuropäischen Geschichte. Studenten und Wissenschaftler, welche zur Kirchengeschichte und Prognostik forschen, werden diese Quellenedition daher als sehr nützliche Ergänzung des bestehenden Quellenmaterials empfinden. Wünschenswert bei dieser Ausgabe wäre allerdings eine umfassendere historische Einordnung und Definition der im Mittelpunkt der Edition stehenden Begriffe „Prognostik“, „Divination“ und vor allem „Magie“ in der Einleitung gewesen. Insbesondere der Magiebegriff wäre angesichts der Schwierigkeit seiner Begriffsdefinition zumindest kurz zu kontextualisieren gewesen, wirkt dieser doch ansonsten im Titel des Bandes etwas deplatziert. Mit dem Band Divination, Magie und Zukunftsschau. Quellen von der Spätantike bis ins 15. Jahrhundert haben Herbers und Lehner für Fachwissenschaftler und Interessierte einen vielversprechenden Weg aufgetan, sich einem bisher von der Forschung vernachlässigtem Teil der Geschichte des Mittelalters zu nähern.

Ein Beitrag von Leonhard Lietz


Leonhard Lietz ist Germanist und Kulturhistoriker. Zu seinen Schwerpunkten zählen u.a. vergleichende Kulturgeschichte, Mythologie und Magiestudien. Aktuell arbeitet er an seiner Dissertation über Agrippa von Nettesheim.


Literaturhinweis:

Divination, Magie und Zukunftsschau. Quellen von der Spätantike bis ins 15. Jahrhundert. Herausgegeben von Klaus Herbers und Hans-Christian Lehner. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. WBG, Darmstadt 2023. 304 Seiten.


 © Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

3 Antworten auf „Divination, Magie und Zukunftsschau. Quellen von der Spätantike bis ins 15. Jahrhundert“

  1. Bereits in der Antike muss die Zukunft von großem Interesse gewesen sein. In polytheistischen Weltanschauungen ist sehr viel von Orakeln die Rede, wobei das Orakel von Delphi besonders berühmt ist. Apollo ist als Orakelgottheit bekannt. Hekate ist eine leicht gruselige Göttin, in der griechischen Mythologie allerdings ebenfalls für Magie und Vorhersage zuständig -> https://www.mythologie-antike.com/t3-hekate-in-der-griechischen-mythologie

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