Die Pariser Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Theater wird von einer schattenhaften Gestalt heimgesucht, welche das abergläubische Theatervolk „Das Phantom der Oper“ nennt. An diesem Punkt setzt das vermutlich erfolgreichste Musical aller Zeiten an.
Es erzählt die Geschichte der jungen Sängerin Christine Daaé, deren unsichtbarer Gesangslehrer, ihr „Engel der Muse“ (im Englischen Angel of Music), sich als das berühmt-berüchtigte Phantom der Oper entpuppt. Dieser ist jedoch weder unsichtbar noch körperlos, sondern ein geheimnisvoll maskierter Mann von musikalischem und technischem Genie. Und unsterblich in Christine Daaé verliebt. Als der junge Raoul, Vicomte de Chagny, ein Kindheitsfreund Christines, die Gönnerschaft für die Oper übernimmt, spitzt sich eine dramatische Dreiecksbeziehung zu, die nur tragisch enden kann. Ein bildgewaltiges Werk über Liebe, Hass und die Abgründe des Menschlichen.
Eine fantastische Mysterie-Erzählung
Die Romanvorlage stammt aus der Feder des französischen Journalisten und Autors Gaston Leroux, welcher vor allem durch seine Detektiv-Geschichten wie „Das Geheimnis des gelben Zimmers” (1907) oder “Das Parfum der Dame in Schwarz” (1908), Berühmtheit erlangte. Sein Schreibtalent für mysteriöse Erzählungen wurde auch in „Le fantôme de l’opéra“ deutlich. Der Roman erschien vom 23. September 1909 bis zum 08. Januar 1910 in Fortsetzung in der Zeitschrift Le Gaulois. Letzteres mag eine Erklärung dafür sein, weshalb Leroux regelmäßig tief in Be- und Umschreibungen eintaucht. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es üblich, dass Autoren solcher Zeitschriftengeschichten nach Wortzahl entlohnt wurden. Es war ihnen – möglicherweise also auch Leroux – daran gelegen, Geschehnisse und Szenen so detailiert wie möglich auszuformulieren.
Bereits im März 1910 erschien der Roman als gebundenes Werk, herausgegeben von Pierre Lafitte. Die erste deutsche Version erschien im Albert Langen Verlag im Jahre 1912. Die Schnelligkeit dieser Veröffentlichung zeigt, wie beliebt die Geschichte schon damals war. Tatsächlich erhielt der Roman sowohl von Kritikerseite als auch von der Öffentlichkeit positives Feedback, auch wenn der Ruhm nicht an andere Werke des Autors heranreichte.
Durch seine Erzählart entsteht ein gewisser Realitätsanspruch. Der Ich-Erzähler, ein Journalist, stellt den Roman als detektivische Investigation auf den Spuren des Phantoms dar. Der Prolog beteuert die Realität des Phantoms und berichtet von intensiven Recherchearbeiten des Erzählers. Im Laufe des Romans bedient er sich einer Reihe von Aussagen, Memoiren und Schriftstücken, die von handelnden, fiktiven Personen stammen. Auch die Zeit der Handlung in den 1880er Jahren, gut zehn Jahre nachdem die Opéra Garnier, der Schauplatz und Handlungsort, fertiggestellt wurde, trägt weiter dazu bei, dass die Erzählung wie eine tatsächliche Begebenheit erscheint.
Der Wirklichkeit entspricht die Tatsache, dass das Gebäude auf einem tiefen, labyrinthartigen Unterbau errichtet war, von dem ein großer Teil geflutet und damit zum geheimen See des Phantoms wurde. Mysteriöse Geräusche aus diesem Abgrund während Aufführungen, der Fund eines menschlichen Skeletts bei Bauarbeiten und der ungeklärte Unfall des herabstürzenden Kronleuchters mit einem Todesfall, führte zu der Entstehung des Phantom-Mythos, den Leroux verarbeitete und weiterentwickelte.
Obwohl der Roman, wie bereits erwähnt, über die Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten war, gelangte eine Secondhand Ausgabe in die Hände Andrew Lloyd Webbers – und eine Idee wurde geboren.
Vom Buch zum Film
Zu allererst muss festgehalten werden, dass es gravierende Unterschiede zwischen dem Handlungsverlauf des Romans, der Musicalversion und der filmischen Adaption von 2004 mit Gerard Butler, Emmy Rossum und Patrick Wilson in den Hauptrollen – einer Verfilumg des Musicals, nicht des Buches wohlgemerkt – gibt. Handlungsstränge wurden abgewandelt, Charaktere ausgelassen oder Geschehnisse an einem anderen Zeitpunkt eingebracht. Bei den Inszenierungen erhalten wir durch die visuellen Mittel weit mehr Einsicht in verschiedene Charaktere (das Phantom eingeschlossen), als im Roman. Dort begleiten wir als Leser besonders den jungen Raoul, Vicomte de Chagny, der versucht, das schreckliche Geheimnis zu lüften, das Christine Daaé angstvoll hütet.
Wie bereits erwähnt, konzentrieren sich Musical und Musical-Verfilmung vor allem auf das Beziehungsdreieck des Phantoms, des Vicomtes de Chagny und Christine Daaés und machen eine Liebesgeschichte daraus. Für beide Männer hat sie unleugbar Gefühle und ist zwischen ihnen hin- und hergerissen. Der blonde Raoul symbolisiert dabei schon rein optisch mit seiner heiteren Art das sonnige, sorglose, aber gebundene Leben, das Christine weit weg von der Oper als Frau eines Vicomtes führen könnte. Das mysteriöse Phantom stellt hingegen durch seine Aufmachung mit Maske und Umhang den sinnlichen Nervenkitzel einer leidenschaftlichen Liebe außerhalb der gesellschaftlichen Norm dar.
Auf der einen Seite also der Wunsch nach Liebe inmitten der Gesellschaft, auf der anderen die unwiderstehliche Anziehungskraft des Geheimnsivollen. Christine lebt bereits als mittellose „Ballettratte“, wie Leroux die Tänzerinnen der Oper nennt, und begäbe sich in jedem Fall in eine neue Abhängigkeit: das einer adligen Ehe oder dazu verdammt, im Schatten ein Leben abseits jeder Gesellschaft zu verbringen. Manchem mag der Charakter des Raoul im Gegensatz zum charismatischen Phantom eher fad vorkommen (so wie mir zuerst), aber denkt man länger darüber nach, erkennt man, in welcher Misere die junge Frau tatsächlich steckt.
Hinter der Maske – Der Zauber von Oper und Theater
Das Musical und der Film übernahmen den Zauber des Theaters, der Oper, die für ihre Besucher immer wieder Wunder erschaffen. Der Film selbst kreiiert eine Traumwelt, in der Logik, gesellschaftliche Regeln und dann und wann auch die Regeln der Physik außer Kraft gesetzt sind. Ein Management lässt sich jeden Monat von einem sich selbst als „Operngeist“ bezeichnenden Fremden um tausende Francs erpressen und duldet gleichzeitig eine jähnzornige Diva, die, sobald etwas nicht nach ihrem Kopf geht, alle fünf Sekunden mit Sack und Pack zu kündigen gedenkt. Hier kann der Vicomte eine mittellose Sängerin heiraten, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt. Und Leuchter tauchen samt brennenden Kerzen aus einem unterirdischen See auf. Diese Dinge fallen einem auf, man begreift, dass dies nicht der Wirklichkeit entspricht, aber es stört nicht. Man nimmt sie hin, denn es geht um die wunderbare Musik, die Atmosphäre, die Liebesgeschichte.
Die Maske, die das Symbol des Theaters (und nebenbei das Erkennungsmerkmal des Phantoms) ist, taucht immer wieder auf. Metaphorisch oder als plastisches Objekt, zeigt eine Maske nach außen das Eine und verbirgt das Andere. In der Oper existieren die Bühne und das Stück als das, was der Außenwelt präsentiert wird, während hinter den Kulissen eine geheime Welt existiert, die sich nur Eingeweihten öffnet. Im „Phantom der Oper“ besitzt Letzteres zudem eine weitere Unterteilung: der Oberbau des Opernhauses, der dem Personal gehört, und der architektonische Unterbau, in dem das Phantom herrscht.
Könnte man die Maske deshalb nicht als den ungreifbaren und doch fleischgewordenen Zauber dieses Kosmos bezeichnen?
Die einzige Maske im eigentlichen Sinn trägt die berühmt-berüchtigte Figur. Nach außen eine glatte, elegante Marmorerscheinung, versteckt sie eine körperliche Entstellung, die das Phantom zu seinem Dasein in Dunkelheit und Einsamkeit verdammt. Vergleicht man seine Darstellung in Roman, Musical und Film, wird klar, dass er ein Charakter von größter Ambivalenz ist.
Das Phantom als Bösewicht
Die träumerische Atmosphäre der Adaptionen, die bereits erläutert wurde, exisitiert im Roman nicht. Es ist die Welt des 19. Jahrhunderts, nur eben mit einem Phantom im Keller. Das Management ist seiner weniger karikierten Diva gegenüber klar und deutlich, Raouls älterer Bruder, der Comte de Chagny, versucht mit allen Mitteln dessen Pläne einer Heirat mit Christine zu verhindern und von unter Wasser brennenden Kerzen ist nirgendwo die Rede. Auch das Phantom ist ein Anderer, nämlich ein verzweifelter Mensch namens Erik, bei dem Wahnsinn und Genie Hand in Hand gehen und dessen obsessive Liebe zu Christine ihn in einen grausamen Bösewicht verwandelt.
Christine, das Objekt seiner Begierde, hat nach einer unsanften Entführung und seiner Demaskierung panische Angst vor ihm und traut sich doch lange Zeit nicht, jemandem von ihrem Geheimnis zu erzählen. Der „Operngeist“ ist zu allem fähig, droht ihr und Christine fürchtet in seiner Labilität noch mehr Tode. Besonders um Raoul, der sich in sie verliebt hat und ihre kühle Ablehnung verwirrt zu verstehen versucht, hat sie Angst, denn ihr „Engel der Muse“ ist krankhaft eifersüchtig.
Nachdem Erik seine Angebetete erneut und vor den Augen aller von der Bühne entführt hat, droht er, die ganze Oper samt Galagästen in die Luft zu jagen, sofern sie sich nicht von Raoul abwendet und für ihn entscheidet. Um so überraschender ist das Ende, an dem die beiden Liebenden freikommen und der Roman mit dem Tod des Phantoms schließt
Erst danach wird mehr über den Charakter aufgeklärt und man beginnt Mitleid und Sympathie für diese entstellte Seele zu haben. Seine Herkunft handelt Leroux erst im Epilog ab.
Das Phantom als Opfer
Im Musical und Film tritt das Phantom zuerst als eine art romantisch-verklärter Geist in Erscheinung. Da ist sein erster Streich lediglich eine herabfallende Leinwand der Requisite, die keinem Schaden zufügt. Auch die „Entführung“ der Christine Daaé ist eher eine fantastische, sinnliche Reise, auf die sich diese voll betörtem Staunen freiwillig begibt. In der Wohnung des Phantoms am See warten Kerzenschein und Musik, keine Angst und Dunkelheit. Sein wütender Ausbruch über die Enthüllung seiner Entstellung, als Christine ihn zum ersten mal demaskiert, erschreckt sie nur kurzfristig. Ihr Mitleid überwiegt.
Erst nachdem das Phantom jemanden getötet hat, bekommt Christine Angst vor ihm und wird in ein verwirrendes Chaos aus romantischen Gefühlen, Angst und immer noch Mitleid gestoßen. Das Phantom, das namenlos bleibt, ist in erster Linie eine tragische Existenz, die durch kontinurierliche Ablehnung und grausame Behandlung seines Äußeren wegens zu dem wurde, was es ist.
Die Idee des entstellten Außenseiters, der sich in das erste Schöne unsterblich verliebt, das ihm nahe kommt, tauchte bereits in Victor Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“ auf, dem ich mich bereits in einem früheren Blogbeitrag gewidmet habe. Hugos Roman erschien 1831 und obwohl ich keine Belege dafür finden konnte, dass Gaston Leroux ihn kannte, so ist es doch anzunehmen. Es gibt gewisse Parallelen zwischen dem missgestalteten Quasimodo und dem Phantom: Beide wurden von ihren Familien verstoßen und erfuhren ein Leben lang Gewalt, Ausgrenzung und Verachtung aufgrund ihrer Erscheinung.
Doch während Ersterer glücklicherweise vom Archidiakonus Frollo adoptiert wird, fehlt dem Phantom diese Mittelsfigur zwischen der Welt und ihm. Er erleidet das Schicksal, als lebende Kuriosität in einem Wanderzirkus ausgestellt zu werden, welches Quasimodo als Kind einer Zigeunerin vielleicht auch geblüht hätte, wäre er nicht auf glücklichen Umwegen nach Paris gelangt.
Quasimodo versteckt sich zwar oft aus Furcht vor den Menschen, doch ist sein Erscheinungsbild ein Zustand, mit dem er sich weitgehend abgefunden hat. Im Falle des Phantoms ist das Tragen der Maske vor allem mit Scham behaftet. Im Roman verdeckt sie das ganze Gesicht, in den Inszenierungen nur die obere Hälfte oder eine Seite, da sonst die Darsteller beim Singen behindert würden.
Zwei schicksalsschwere Male wird das Phantom in Musical und Film demaskiert, beide Male durch die Hände der Frau, deren Ablehnung ihn zerstören würde und der er sein Gesicht deshalb auf keinen Fall zeigen will. Sein kompletter Kontrollverlust in beiden Szenen zeigt, wie emotional aufgeladen die Maskensituation ist. Die zweite, öffentliche Demaskierung gipfelt schließlich im Showdown, bei dem das Phantom Christine dazu zwingen will, sich für ihn zu entscheiden. Bewegt von ihrem unerschütterlich guten Herzen, lässt er Raoul und sie jedoch frei und verschwindet in einem Geheimgang.
Das tragische Phantom
Das „Phantom der Oper“ ist Geist, Künstler, Bösewicht, eine verstoßene Seele, Genie und Opfer. Gaston Leroux macht aus ihm einen Menschen aus Fleisch und Blut, einen Charakter, der seitdem immer wieder verändert, erweitert und neu erfunden wurde. Auf der Bühne bekam es durch viele Künstler ebenso viele verschiedene Gesichter, wie es als Figur Facetten hat. Basierend auf seiner kurzen Biographie, die Leroux in seinem Epilog aufführt, erschuf die britische Schriftstellerin Susan Kay mit ihrem Roman „Das Phantom“ eine tief eintauchende, bewegende Lebensgeschichte, die mehr denn je das Phantom als ein Opfer seiner Umstände darstellt und ihm ein „Gesicht“ gibt.
Auch Leroux erwähnt am Ende seines Buches, es sei ein großes Unglück, das diesen armen Menschen prägte und er habe an seinem Grab für sein Seelenheil gebetet. In Anbetracht seines armseligen Lebens, ohne Liebe und im Schatten, hätte er das trotz seiner Verbrechen verdient.
Vermutlich fasst keiner das tragische Dilemma des Phantoms der Oper so getroffen zusammen, wie das Phantom selbst in dem Lied „Die Erinnerung kommt zurück“:
„Schlimmer als ein Alptraum.
Wie erträgst du’s hinzuschau’n?
Erfasst dich nicht ein Graun,
von mir, dem Höllentier?
Fratzenhaft doch sehnsuchtskrank.
Nach dem Himmel.
Sehnsuchtskrank, sehnsuchtskrank…„
Ein Beitrag von Pia Stöger
Literaturhinweise:
Kay, Susan. Das Phantom. Frankfurt a. M. 2016.
Leroux, Gaston. Das Phantom der Oper. München 1993.
Newart, Cormac. „Vous qui faites l’endormie. The Phantom and the Buried Voices of the Paris Opéra“. 19th-Century Music Vol. 33, No. 1, 2009, S. 62-78. Web. JStor. 03. April 2019
Shah, Raj. „No Ordinary Skeleton. Unmasking the Secret Source of Gaston Leroux’s Le fantôme de l’opéra“. Forum for Modern Language Studies Vol. 50, No. 1, 2013, S. 16-29. Web. JStor. 03. April 2019
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„The Publication and Initial French Reception of Gaston Leroux’s Le fantôme de l’opéra“. French Studies Bulletin Vol. 37, No. 138, 2016, S. 13-16. Web. Oxford Journals. 03. April 2019