„Es gibt im Menschenleben Augenblicke
Wo wir vergessen daß wir einen Punct
Im unermessnen Weltall nur bewohnen!“
schreibt der fünfzehnjährige Nietzsche an seine Mutter, als diese zu Verwandten in den Südharz reist. Danach stellt er eine Liste auf mit den Dingen, die Franziska doch bitte schicken möge: Teelöffel, Oblaten, Kakao, Wäsche, Schlittschuhe. So schnell geht die Reise zwischen den Sternen und dem Alltag hin und zurück. Nietzsche hat sie immer wieder durchmessen. Der Aufstieg und der Absturz, die Melancholie und die Euphorie lagen nah beieinander. Er glaubte nicht an Astrologie und verachtete den Okkultismus. Aber die Sterne richteten ihn auf, spielerisch nahm er ihren Einfluss an. Vor allem aber standen sie für die Sinnenferne, der Blick in das Schwarze des Alls verkleinerte den Menschen ins Unendliche. 1873, da war er keine dreißig Jahre alt, schrieb er einen Essay, der wegweisend für die Nietzsche-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg werden sollte: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. Er beginnt wie ein Science-Fiction-Roman (zum Beispiel Douglas Adams‘ Per Anhalter durch die Galaxis):
In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben.
Dieser Sternenblick reduziert den Menschen auf ein Staubkörnchen im Getriebe der Galaxien und Sternennebel. Und doch sieht er, der Mensch und Nietzsche selbst, sich im Zentrum eines großen Geschehens, als „Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes“, auch wenn er sich sogleich wieder darüber lustig macht.
Sternenfreundschaften, durch die Konstellation arrangierte und besiegelte Beziehungen, waren ihm vertraut. Mit Lou Salomé, später Lou Andreas-Salomé, der jungen freigeistigen Denkerin, wurde ihm im April 1882 ein Treffen in Rom vermittelt. Die mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug schickte Nietzsches Freund Paul Rée und Lou in den Petersdom. Rée setzt sich in einen Beichtstuhl, um an seinen moralkritischen Sentenzen zu feilen. Nietzsche tritt in den Dom, sieht die junge Frau, die ihm angekündigt ward, und ruft aus: „Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?“ Man weiß wie dieser Sternenflug endete: mit gegenseitigen Beschuldigungen und dem Ende der freundschaftlichen Dreierbeziehung. Aber Dom, Stern und Fall sind hier in einem irdischen Moment, bei dem dem hagestolzigen Philosophen die Sinne und der Geist durchbrennen, gut eingefasst, wie auf der Bühne.
Die Sterne riefen ihn wieder. Im Jahre 1885, mitten in den Jahren, als Hauptwerke wie Die Fröhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Böse, Also sprach Zarathustra und die Genealogie der Moral entstanden, schreibt er in einem Brief über einen Besuch in Arcetri bei Florenz. Dort, wo Galileo unter Hausarrest wohnte, stand seit dem 18. Jahrhundert eine berühmte Sternwarte, ab 1872 durch eine neue ersetzt. Nietzsches Freund Paul Lanzky, ein in Italien lebender Schriftsteller, brachte ihn dorthin. Lanzky war mit dem dortigen Astronomen Ernst Wilhelm Leberecht Tempel (1821-1889) befreundet, einem Wissenschaftler aus der Lausitz, der an diesem renommierten Ort das Weltall beobachtete. Tempel hatte zuvor schon einen Kometen und den Merope-Nebel in den Plejaden entdeckt. (Merope war eine der sieben Plejaden, an den Himmel verbannte Nymphen. Wir finden sie auf der Himmelsscheibe von Nebra wieder. Sie heiratete übrigens Sisyphos.) Tempel machte in Arcetri weitere Entdeckungen: 6 Planetoiden, etwa 60 Nebelflecke und 20 Kometen. Seinen Nachruf schrieb übrigens der weltberühmte italienische Astronom Schiaparelli, der einst glaubte, Kanäle auf dem Mars gefunden zu haben und in den 1890ern eine Marsbegeisterung auslöste, die zu Romanen über Invasionen von Aliens führten. Das sind jetzt viele „übrigens“ – aber sie zeigen, wie vernetzt jener Astronom war, den Nietzsche im November zusammen mit Paul Lanzky in Arcetri besuchte. Er schreibt in einem Brief (am 24.11. 1885) an ein befreundetes Ehepaar:
In Florenz überraschte ich den dortigen Astronomen auf seiner Sternwarte, welche den schönsten Gesammt-Überblick über Ort, Thal und Fluß giebt. Sollte man’s glauben, daß er neben seinem Arbeitstische die sehr zerlesenen Schriften Eures Freundes hatte und daß er, ein schneeweißer alter Mann, mit Begeisterung Stellen aus „Menschliches, Allzumenschliches“ recitirte?
Nietzsche freute sich also, fühlte sich geehrt und bestätigt, sah seine Eigenliebe befriedigt. Und doch: was er weiter schreibt, ist eher einmalig bei ihm, nämlich demütig:
Das Bild dieses vollkommen und hochgearteten Eremithenthums war das kostbarste Geschenk, das ich von Florenz mitnahm: – zugleich freilich auch der schmerzhafteste Biß, nämlich ein Gewissensbiß. Denn ersichtlich hatte dieser einsame Forscher es in der Weisheit des Lebens (und nicht nur in der Entdeckung von Kometen und Orion-Nebeln) weiter gebracht, als Euer Freund.
Das ist ein meines Wissens einzigartiges Geständnis, auch wenn Nietzsche später in Ecce Homo solche Demut wieder fallen lässt. Dort klopft er sich fortwährend auf die Schulter und weiß, warum er so klug ist und so gut schreibt und ein ganz Großer ist. Hier aber sind es die Sterne, und deren Abgeordneter, vor denen er seine eigene Kleinheit fühlt. Und eben die Kometen, für die er sich schon zuvor interessiert hatte. 1872 lieh er sich ein gewichtiges Werk über Die Natur der Cometen aus, das der Leipziger Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner geschrieben hatte. Er fand darin „erstaunlich viel für uns“, wie er an einen Freund vermeldet. Eine Theorie der „himmlischen Vagabunden“, das spiegelt ein wenig sein späteres Lebenswerk vor, als er selbst ein philosophischer Nomade geworden war. Zöllner beschäftigte sich später mit der Vierten Dimension und wurde dabei in Séancen von Scharlatanen über den Tisch gezogen. 1880/1 gehörte derselbe Zöllner zu den Initiatoren einer Petition gegen die Gleichstellung der Juden, die auch von Nietzsches künftigem Schwager Bernhard Förster ausging – auch dies ging ganz gegen Nietzsches Einstellungen. Vorerst aber Kometen und Sterne, und eine Kometin, mit der es jedoch nicht gut laufen sollte.
Im selben Zarathustra finden wir eines der beliebtesten Zitate Nietzsches: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Der Prophet sieht jedoch die Zeit voraus, in der die verächtlich gewordenen Menschen keinen Stern mehr gebären können. Dann bricht die Zeit des „letzten Menschen“ an. Er hat seinen kosmischen Maßstab verloren.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bänden, Teil I. München: Hanser 1978, S. 508f.
Vorabdruck aus: Elmar Schenkel, Wahre Geschichten um Friedrich Nietzsche, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023. ISBN: 978-3-89772-323-8. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
© Tauchaer Verlag
Es ist aufregend, immer wieder neue Nietzsche- Erkenntnisse zu
entdecken und dabei festzustellen, wie wenig „man“ weiss! Elmar Schenkel viel Dank für seine Spurensuche und sein Wissen!
DMZ.
Die Sterne spielen in den Mythologien der Antike eine herausragende Rolle. In den Mythologien werden häufig Gestalten aller Art (Tiere, Menschen, Götter, Halbgötter) unter die Sterne entrückt. Weltberühmt ist das Siebengestirn der Plejaden, die in der griechischen Mythologie einst Halbgöttinnen waren – und dabei ist die Plejade Maia der Hammer. Warum? Die wurde durch Zeus die Mutter vom krassen Hermes -> https://www.mythologie-antike.com/t262-plejaden-mythologie-eine-plejade-ist-eine-nymphe-heute-befinden-sich-die-plejaden-als-siebengestirn-am-himmelszelt