„O Fortuna, velud luna
statu variabilis,
semper crecis aut decrecis,
vita detestabilis!
nunc obdurat et tunc curat
ludo mentis aciem,
egestatem, potestatem
dissolvet ut glaciem.“
O Fortuna, veränderlich wie die Phasen des Mondes, nimmst du immer zu oder ab, verabscheuungswürdig in deinem Wandel!
Jetzt lähmt sie, dann beflügelt sie wieder,
ganz nach Laune, den Schwung des Geistes, läßt bittere Armut und Herrschergewalt schwinden wie Eis.
(Carmina Burana, 17)
Ein Wechsel von Regen und Sonnenschein begleitet mich auf der Reise gen Süden, als wollte mich das Wetter, das sich seit jeher dem menschlichen Zutun zu entziehen versteht, auf das Wochenende einstimmen. Eine schwer in Worte zu fassende Ruhe liegt in der Septemberluft, die nach Wiesen, Weite und Land duftet. In der Ferne künden Blitze, die sich in den Wolken verfangen zu haben scheinen und meinen Weg durch die Dämmerung begleiten, von spätsommerlichen Gewittern. Es ist ein magischer Moment, einer von denen, die allzu leicht ins Vergessen gleiten, sobald man von hohen Häusern umschlossen ist und die dann allenfalls noch in der Vorstellung existieren. Ich bin in Benediktbeuern etwa eine Stunde Fahrzeit von München entfernt; die Zeit hier draußen scheint anders zu laufen, nicht langsamer, aber gelassener, als sei sie sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und vor allem ihrer Geschichte bewusst.
Benediktbeuern, den Namen verbindet man mit dem ältesten Kloster Oberbayerns (Patrozinium St. Jakob und St. Benedikt). Gegründet um 725 durch den fränkischen Hausmeier Karl Martell (Großvater des späteren Kaisers Karl des Großen) und unter Mitwirkung des heiligen Bonifatius lag die Anlage an strategisch wichtiger Stelle (Kesselberg), wollten Reisende über die Alpen Richtung Norden oder Süden ziehen. Benediktbeuern war eine bedeutende frühmittelalterliche Reichsabtei und Schreibschule. Im 10. Jahrhundert fiel sie den Ungarneinfällen zum Opfer, nur um im Anschluss wie der legendäre Phönix aus der Asche zu neuer Blüte aufzusteigen. Selbst mehreren Großbränden und den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges vermochte der Ort zu trotzen, ehe er zur barocken Klosteranlage umgebaut wurde, wie sie sich den Besuchern noch heute weitestgehend präsentiert.
Als es 1803 zur Säkularisierung des Klosters und der Vertreibung der ansässigen Benediktiner kam, ging die ca. 40 000 Bände umfassende Klosterbibliothek in den Besitz der bayerischen Staatsbibliothek über. Unter den schriftlichen Zeugnissen befand sich auch eine Sammlung altfranzösischer, mittelhochdeutscher, lateinischer und provenzalischer Lied- und Dramentexte, die den Federn namenloser Verfasser des 11. bis 13. Jahrhunderts entstammten, wobei es mittlerweile verschiedene Hypothesen gibt, die dafür respektive dagegen sprechen, Benediktbeuern auch als den Entstehungsort besagter Texte anzunehmen. Die Rede ist vom Codex Buranus, besser bekannt als Carmina Burana (lat. Lieder aus Benediktbeuern). Dem Komponisten Carl Orff (1895-1982) ist es mit seiner aus den Jahren 1935/36 stammenden Vertonung zu verdanken, dass die mittelalterliche Dichtung (in Auswahl) auch in postmoderner Zeit noch ein breites Publikum zu faszinieren vermag. So erfreut sich nicht nur das eingangs vom Chor geschmetterte „O Fortuna“ großer Beliebtheit bei Film, Fernsehen und Werbung, auch die Gesamtaufführung des Werks gehört gewissermaßen zum musikalischem Pflichtprogramm.
Historische Orte besitzen für gewöhnlich ihre ganz eigene Sprache, um uns in Bann zu ziehen. Meist geht dies einher mit einer Art Gefühl, das wir als Besucher und Nachgeborene wahrnehmen; sie können uns mahnen, uns erschüttern, uns zum Nachdenken anregen, uns staunen machen oder uns mit uns selbst konfrontieren. Auf meiner Wanderung zum Kloster Benediktbeuern, bei der ich zugegebenermaßen innerhalb der weitläufigen Anlage auch vom Wege abgekommen bin, war es eine geduldige Erhabenheit, die ich verspürt habe, ein stoischer Friede mit einer ihm innewohnenden nachsichtigen Gleichgültigkeit, der nur in Mauern steckt, deren Fundamente sich unverrückbar ihres Platzes in der Welt sicher sind. Etwas, das angesichts der uns umflutenden Hektik und der zunehmenden Fokussierung auf das Virtuelle, das Rastlose und das selten auf Beständigkeit Gerichtete, das unser Leben mehr und mehr vereinnahmt, wie ein Gegengewicht erscheint. Dabei fiel mir ein sehr philosophischer Vers aus der Carmina Burana ein, den ich in Vorbereitung auf die Reise las: „Semper ad omne quod est mensuram ponere prodest,/Nam sine mensura non stabit regia cura.“ (Es ist immer gut, in allem, was ist, Maß walten zu lassen, denn ohne Maß hat nicht einmal die Herrschaft des Königs Bestand. Carmina Burana, 20).
Ob wohl das sinnbildliche Rad der Fortuna stillstehen oder sich in ein Pendel verwandeln würde, wäre dieses Maßhalten tatsächlich realer Idealzustand? Und wäre das überhaupt erstrebenswert? Liegt das zyklische Denken und damit das Auf und Ab, das Werden und Vergehen, nicht gewissermaßen in uns, im Leben selbst? Ein ewiger Lebenstanz auf dem Rad also, den wir tagtäglich zu absolvieren haben?
Auch beim Rosengarten-Kultursalon, den ich im Barocksaal des Klosters besuchte, ging es um jene Fragen: Zeit. Schicksal. Erlösung. Zukunft. Vergangenheit. Kunst. Spiel. Magie. Vergänglichkeit. Wir. Du. Ich. Die Geschwister des Augenblicks. Der Augenblick der Worte. „Dies ist unsere Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es dir gefällt, aber unter der Bedingung, daß du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn es die Regel meines Spiels fordert.“ (Boethius, Trost der Philosophie, S. 30)
Fortuna (griech. Tyche), die römische Göttin, die man sowohl mit (unbeständigem) Glück als auch mit Schicksal oder der Macht des Schicksals assoziiert hat und die ursprünglich auch mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurde, galt als eine der meistverehrten Gottheiten der Spätantike. Wiewohl von den Kirchenvätern wie Tertullian, Augustinus und späteren Gelehrten wie Hrabanus Maurus oder Thietmar von Merseburg bekämpft respektive verleugnet, was paradoxerweise die Erinnerung an sie nicht schmälerte, im Gegenteil, erfährt Fortuna doch in Spätmittelalter und Renaissance eine Art Wiederbelebung; nicht nur als Symbol eines wankelmütigen Schicksals, sondern auch als Orakelgöttin und im Tarot (Karte: Rad des Schicksals). Ebenfalls zugute gekommen ist ihr die Präsenz in der „Consolatione Philosophiae“ (Trost der Philosophie), dem bekanntesten Werk des spätantiken Gelehrten, Philosophen und Politikers Anicius Manlius Severinus Boethius (um 480-526), das zum mittelalterlichen Schulstoff gehörte. Darin wird Fortuna als Vollstreckerin des göttlichen Willens benannt, als „herbe schreckliche Göttin“, die auch den Schein trennt von der Wirklichkeit. Darüber hinaus kann die mittelalterliche Fortuna losgelöst von dem „was Gott für ewig vorherbestimmt hat“ ihr Rad drehen und damit das irdische Glück des Menschen verändern (LMA, Bd. 6, Sp. 665). Als Bestandteil des Charismas („außeralltägliche Qualität“ [Max Weber], gedeutet als besondere soziale Stellung bzw. Verdienst oder besondere sakrale Verankerung von Herrschaft) ist sie aber auch einem Volk, einem Fürsten oder einer Adelsgruppe zu eigen, d. h. bestimmt deren Glück oder Unglück.
Eine der eindrücklichsten Fortuna-Abbildungen, von denen in Handschriften und in der Kirchenarchitektur mannigfaltige existieren, ist mir in den bunten Glasfenstern des Freiburger Münsters begegnet. Kämpferisch wirkt sie mit dem Schwert in der Linken und dem fast schon winzig anmutenden Rad in der Rechten, als sei sie Herrscherin und Richterin über das Schicksal in einer Person. Dabei scheint fast unwillkürlich die Frage aufgeworfen, was es denn eigentlich mit dem Schicksal auf sich hat. Ist es ein unsichtbares vorgegebenes Band, das den Menschen von Geburt bis Tod begleitet und sich dem freien Willen entzieht, das Große Unbekannte, das wir gern zu kennen trachten, das aber weder vorhersagbar noch berechenbar bleibt? Oder lässt es sich, weil es, wie die Fortuna des Boethius, als ein Spiel daherkommt, durch Entscheidungen beeinflussen? Eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Vielleicht ist es mit der Fortuna auch ein wenig so wie mit der Magie; sie ist reale Illusion und alles, was man tun kann, ist, sie nicht erklären zu wollen, sondern ihr die Fragen, die Rätsel und den Zauber zu lassen. Oder, um es mit den Worten der Schriftstellerin Gertrude Stein auszudrücken: Das Schicksal ist das Schicksal ist das Schicksal. Denn auch eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.
Apropos Rose. Sich auf den historischen Grund eines mittelalterlichen Klosters zu begeben und sich für ein paar wundersame Augenblicke einfach nur der Atmosphäre des Raums, der Zeitlosigkeit von Büchern und Worten und Worten und Büchern sowie dem eigenen Selbst zu überlassen – auch das kann Schicksal sein – kommt man nicht umhin, auch der „Königin der Blumen“ einige Gedanken zu widmen; allerdings nicht aus botanischer, sondern literarisch-allegorischer Sicht. So ist der Autor Jean de Meung (um 1240-ca. 1305), der u. a. die bereits erwähnte Schrift „Trost der Philosophie“ des Boethius ins Französische übersetzte, für die Fortsetzung des Rosenromans („Roman de la Rose“) bekannt, eines spätmittelalterlichen Versromans, der bis ins 16. Jahrhundert hinein zum Beststeller avancierte. Begonnen worden war das Werk vom Dichter Guillaume de Lorris (um 1205 – ca. 1240), der sein Werk als Traumbericht eines Ich-Erzählers konzipierte. Die Erzählung widmet sich dabei ganz dem Sujet des Verliebtsein, der Liebe und der Liebeswerbung, der Suche nach der Rose in einem geschützten Garten, wobei die Rose, aufgefasst als Frau, „weniger Symbol für das Liebesobjekt als Knotenpunkt allegorischer Vorgänge [ist], in denen Personifizierungen erscheinen, womit die Gefühle des Liebhabers und der Dame versinnbildlicht werden, aber auch die inneren und äußeren Kräfte, die als Hilfe oder Hindernis der Umgebung auftauchen“ (LMA, Bd. 7 Sp. 992). Stehen die Verse von Lorris‘ in der Tradition von Ovid und der höfischen Literatur à la Chrétien de Troyes und Andreas Capellanus, wird de Meungs Fortsetzung eher als Enzyklopädie und philosophisch-moralisches Bildungsbuch angesehen, da darin sowohl Bezüge zur antiken Mythologie als auch spätantike und mittelalterliche Quellen, man denke hier wieder an Boethius, zitiert und verarbeitet werden. „Für Guillaume de Lorris ist die Geliebte unerreichbar, aber das Ideal wirklich und damit doch erreichbar. Für Jean de Meung hat das Ideal keine Wirklichkeit mehr, er denkt nominalistisch und hält sich an die faktische Wirklichkeit der Sinne.“ (Krüger, S. 19) Da de Meung in seiner Fortsetzung ein eher von der Natur gesteuertes und damit von Lasterhaftigkeit und List geprägtes Frauenbild entwirft, entzündete sich daran in Frankreich einer der bedeutendsten intellektuellen (Gender-) Streitigkeiten des Spätmittelalters. Wenn man als Leser also eher der Poesie und der emotionalen Ergriffenheit der allegorischen Rose zugetan ist, sollte man Lorris lesen; tendiert man eher zur nüchtern-ironischen Lesart, halte man sich an de Meung, der im Übrigen, ganz dem Schein und Sein von Boethius Fortuna entsprechend, auch nicht umhinkommt, dieser einen Platz in seinem Werk einzuräumen und sich vor allem auf die Seite der „bösen“ Fortuna zu schlagen.
„Und da wir zu FORTUNA kommen,
indem wir von der Liebe zu ihr reden,
so will ich Dir etwas ganz Wunderbares von ihr sagen,
niemals, glaube ich, hörtest du etwas ähnliches.
Ich weiß nicht, ob Du es wirst glauben können,
und doch ist es eine wahrhaftige Sache,
die man auch in Büchern geschrieben findet:
daß für die Menschen die böse
und widerwärtige FORTUNA besser und nützlicher ist
als die sanfte und gütige.
[…]
und weil die widrige FORTUNA,
wenn sie über die Leute herfällt,
sie durch ihre Widrigkeit
so klar sehen läßt,
daß sie sie ihre Freunde finden läßt
und durch Erfahrung erproben,
daß diese mehr wert sind als alles Gut,
das sie in der Welt haben könnten:
deshalb ist ihnen Unglück nützlicher
als Wohlstand,
denn durch diesen haben sie Unwissenheit,
durch Unglück aber Erkenntnis.“ (Jean de Meung, Rosenroman, S. 309 ff.)
Mit dem Schicksal ist es also in der Tat nicht gar so einfach und eine gläserne Fortuna, ebenso wie eine gläserne Rose, wären doch im Grunde ziemlich langweilig. Das war denn auch einer meiner Gedanken, als ich um Mitternacht durch das Kloster Benediktbeuern und zu meiner Unterkunft lief, um mich Stille und über mir der klare Sternenhimmel, in meiner linken Hand eine (echte) Rose und in der rechten die metaphorisch gesammelten Eindrücke der vergangenen Stunden. Vielleicht sollten wir mehr Zeit für die Zeitlosigkeit von Worten aufbringen. Vielleicht tut es Not, mehr Gelassenheit zu wahren, mehr Mut zu haben (zur Liebe, zu uns selbst, zu unseren Träumen), mehr zu rätseln und viel mehr innezuhalten. Vielleicht ist es auch tröstlich, um unsere Vergänglichkeit zu wissen, liegt doch in der Vergänglichkeit eine ganz eigene Schönheit. Denn letztendlich sind wir alle nur Rosen an Fortunas Rad.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweise:
Aadrian Miltenburg. Fortuna. In: Lexikon des Mittelalters (LMA). Bd. 4. Metzler: Stuttgart, 2000, Sp. 665.
Armand Strubel. Roman de la Rose. In: Lexikon des Mittelalters (LMA). Bd. 7. Metzler: Stuttgart, 2000, Sp. 991 ff.
Boethius. Trost der Philosophie. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Kurt Flasch. 6. Aufl. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 2017.
Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Benedikt Konrad Vollmann (Hrsg.). Deutscher Klassiker Verlag 2. Aufl. Berlin 2016.
Guillaume de Lorris und Jean de Meung. Der Rosenroman. Übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott. Bd. 1. Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachiger Ausgabe. Wilhelm Fink Verlag: München, 1976.
Guillaume de Lorris. Der Rosenroman. Ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung von Manfred Krüger. Ogham Verlag: Stuttgart, 1985.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
sehr gelehrt und einfühlsam-poetisch, eine wunderbare Mischung!