Nach der Vorstellung der Ureinwohner Australiens sind Lebewesen eine Einheit aus spirit und Körper. Der Begriff „spirit“ ist zwar leicht zu übersetzen, aber er meint weitaus Komplexeres als nur „Seele“ oder „Geist“. Spirits gibt es in vielerlei Form – materiell (verkörpert in Menschen, Tieren, Pflanzen) und immateriell (Ahnengeister, Schöpfungsheroen, Geistkinder u.a.). Bevor ein Mensch entsteht, ist sein „spirit child“ (Geistkind) bereits vorhanden, ewig seit der Schöpfung der Welt in der Traumzeit. Es hat eine enge Verbindung zu einem bestimmten Ort, der später mit dem Totem und dem Land des jeweiligen Individuums verknüpft ist. Nach dem Tode, der Trennung von Körper und spirit, kehrt dieser dann wieder zu diesem Ort zurück. Diese Orte sind potentiell gefährlich, denn spirits können Krankheiten erzeugen und den Tod bringen. Man meidet solche Orte auf den Wanderungen durch das Stammesland.
Es gibt einige reale Orte, wie Kangaroo Island, wohin die Geister der Toten reisen, um dort einige Zeit zu bleiben und weitere mythische Orte, wie Bralgu oder auch die Milchstraße, die als Land der Toten betrachtet werden. Die Sterne der Milchstraße werden als kleine Lagerfeuer gesehen, an denen die spirits der Verstorbenen sitzen. Sie bleiben dort so lange, bis jemand aus dem Clan oder vom gleichen Totem stirbt und den wartenden spirit ablöst und seinen Platz am Feuer einnimmt. Der nun „befreite“ spirit kann zu seiner Gemeinschaft zurückkehren und sich als spirit child auf eine Wiedergeburt in einer nachfolgenden Generation vorbereiten. Auf diese Weise sind alle Generationen engstens mit ihrem Land verbunden, eingebunden in einen ewigen Kreislauf von Leben und Tod. Dieser Kreislauf wird nur unterbrochen, wenn die Trauer- und Totenriten nicht oder nur unvollständig durchgeführt werden.
Der Tod wird, außer bei sehr alten Menschen, nicht durch Krankheit oder das Alter verursacht, sondern durch magische Einwirkungen äußerer Feinde. Man versucht deshalb, die Ursachen für das Sterben herauszufinden. Der Schuldige wird dann bestraft. Nach dem Tod eines Angehörigen werden besondere Rituale ausgeführt, die der Trauer Ausdruck verleihen. Die Trauernden weinen, klagen, bitten den Toten wieder lebendig zu werden, man fügt sich Verletzungen zu und sucht nach der Ursache für den Tod. Die Trauerriten helfen den Hinterbliebenen, sich mit den psychischen und sozialen Folgen des Verlustes vertraut zu machen und ihre neue Situation anzunehmen. Witwen werden z.B. nach der Trauerzeit mit einem der Brüder des Toten verheiratet. Hinterbliebene Kinder werden im Clan neue Eltern finden. Das traditionelle Netz an sozialen Pflichten fängt sie auf.
Es gibt eine Vielzahl von Trauerritualen in Australien, die regional sehr unterschiedlich sind. Der Körper des Verstorbenen wird sehr bald in seinem traditionellen Land bestattet, verbrannt oder auf einer Plattform der Verwitterung ausgesetzt. Oft werden die Langknochen zerschlagen, die Gelenke gebrochen oder die Kniescheiben entfernt. Man will damit auch eine Rückkehr des spirits in den Körper und damit einen Wiedergänger verhindern. Auf jeden Fall überwacht man aufmerksam den Prozess des Zerfalls des Körpers und seine Rückkehr in das Land. Damit wird dem Verstorbenen seine Würde und respektvolles Gedenken garantiert.
Die Zeit nach dem Tod eines Menschen ist gefährlich für die Lebenden. Nach dem Tod wird der spirit hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, in die Geisterwelt heimzukehren und dem Wunsch, bei seiner Familie und dem Clan zu bleiben. Der spirit ist unsichtbar, er hat Rachegelüste für die ihm zu Lebzeiten zugefügten Leiden und Ungerechtigkeiten. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die spirits unterwegs, ihnen zu begegnen, kann tödlich sein.
Die Hinterbliebenen müssen nun eine Reihe von Handlungen ausführen und bestimmte Tabus beachten, um die Gefahren abzuwenden. Die persönlichen Dinge werden oft mit dem Körper des Verstorbenen begraben oder verbrannt. Bei den meisten Stämmen darf der Name des Toten für einige Zeit, manchmal für Jahre, nicht genannt werden. Fotografien oder Abbilder des Verstorbenen werden versteckt und für eine lange Zeit nicht betrachtet oder jemandem gezeigt. Diese Handlungen reduzieren das Risiko, den Geist zurückzurufen oder seinen Wunsch zu wecken, in der Welt der Lebenden noch länger zu verweilen. Nach dem Tod eines Angehörigen zieht die Familie oft an einen anderen Ort, manchmal sogar die ganze Gemeinschaft. Es gibt eine Vielzahl von Reinigungs- und Räucherzeremonien, mit denen der Wohnort spirituell gesäubert wird.
Im Central Arnhemland erfolgt die traditionelle Bestattung einer Person in einem dupun – einem Baumsarg. Der Körper wird zuerst begraben, dann werden ungefähr nach einem Jahr die Knochen ausgegraben. Die abschließenden Totenzeremonien, die ausgeführt werden, sichern, dass der Geist des Verstorbenen über ein Gewässer, den Himmel oder eine küstennahe Insel seinen Weg sicher in die Geisterheimat findet oder zu einem totemistischen Ort gelangt. Die Trauer ist begleitet von der deutlichen Zurschaustellung von Kummer und Leid: Weinen und Klagen, dem Bemalen der Körper mit weißem Ocker und dem sich Zufügen von blutenden Verletzungen. Während des emotionalen Höhepunktes der Zeremonie zerschlagen enge männliche Verwandte des Toten seine Knochen und legen sie in den Baumsarg. Er wird mit Papierrindenstücken (Paper Bark) verschlossen, dann aufrecht aufgestellt und der natürlichen Verwitterung überlassen.
Der Baumsarg wird aus einem von Termiten ausgehöhlten Eukalyptusbaum gefertigt. Die Oberfläche wird geglättet und dann mittels natürlicher Ockerfarben mit den zeremoniellen Clanmustern verziert, die der nun Tote bei rituellen Anlässen einst als Körperbemalung trug. Die Muster haben eine Beziehung zum Totem des Verstorbenen. Die Bemalung stellt Wasser und Ahnentiere dar, wie z.B. Guwark, den heiligen Vogel, der als Botschafter zwischen den Menschen auf der Erde und den spirits auf der Toteninsel agiert. Bei vielen Gemeinschaften sind Vögel die Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der spirits.
Andere Bemalungen zeigen Seetiere. Als zwei spirit-Schwestern in der Traumzeit in einem Kanu zwischen den Crocodile Inseln an der Küste des Central Arnhemlands reisten und dabei die Landschaften der Inseln schufen, beobachteten sie auch viele Seelebewesen wie Seeschlangen, Mondfische, Seegurken und Warrukuy, den Barrakuda (ein großer Raubfisch). So wie der Barrakuda die kleineren Fische fängt und verschlingt, so fängt der Tod die Menschen und entfernt die spirits aus der Welt der Lebenden.
Im Land der Toten, Barralku, halten spirits Barnumbirr, den Morgenstern, tagsüber in einem dilly-bag (Netztasche) gefangen. Wenn der Mond aufgeht, lassen sie Barnumbirr an einer aus Haarschnur und Federn gefertigten Leine frei, und er steigt am Nachthimmel auf. Wenn die alte Frau Sonne aufgeht, zieht sie Barnumbirr an seiner Federschnur zurück nach Barralku. Wenn ein Mensch stirbt, dann schickt Barnumbirr eine Federschnur, die den spirit des Verstorbenen einfängt und ihn zurück nach Barralku bringt. Bei Tagesanbruch verwandeln sich die spirits in Fledermäuse, Schmetterlinge oder Gottesanbeterinnen (Mantis-Heuschrecken).
Bei dem Volk der Tiwi, das auf den Melville- und Bathurst-Inseln, ca. 100 km nördlich von Darwin gelegen, lebt, wurde die erste Totenzeremonie, Pukamuni genannt, für einen Ahnen, der Purukapali hieß, abgehalten. Sie markierte das Ende der Schöpfungszeit in der Mythologie der Tiwi. Purukapali, lebte mit seiner Frau Bima, seinem Sohn und seinem Bruder Tapara in Impanali im südwestlichen Teil von Melville Island. Zu dieser Zeit gab es noch keinen Tod auf der Welt. Jeden Morgen, wenn seine Frau auf Nahrungssuche ging, nahm sie ihren Sohn mit und brachte ihn abends zu Purukapali zurück. Am selben Ort lebte auch Tapara. Er überredete Bima oft, das schlafende Kind in den Schatten eines Baumes zu legen und mit ihm in den Wald zu gehen. An einem sehr heißen Tag blieb Bima zu lange von ihrem Kind fort. Als sie spät zurückkehrte, hatte sich der Schatten des Baumes weiterbewegt und das Kind lag tot in der heißen Sonne. Bima war außer sich vor Kummer.
Als Purukapali vom Tod seines Sohnes erfuhr, kannte sein Zorn keine Grenzen. Er schlug mit seinem Wurfstab auf den Kopf seiner Frau, jagte sie in den Wald und verfügte, dass der Tod über die ganze Welt kommen sollte, die bisher unsterblich war. Tapara versuchte, Purukapali umzustimmen. Er bat ihn um den Leichnam seines Sohnes und versprach, ihn in drei Tagen wieder lebendig zu machen. Aber Purukapali war so unnachgiebig, dass die beiden Männer weiter stritten und bald in einen tödlichen Kampf verwickelt waren, wobei jeder den anderen am Gesicht und am Körper verletzte. Noch immer klagend nahm Purukapali den Leichnam seines Sohnes, wickelte ihn in ein Stück Baumrinde und schritt rückwärts ins Meer. Er schrie laut, während das Wasser über seinen Kopf stieg: „Ihr müsst mir folgen. So wie ich sterbe, müsst ihr alle sterben.“ Dort, wo Purukapali starb, entstand ein Strudel, der so stark ist, dass jeder, der mit dem Kanu in seine Nähe kommt, ertrinkt.
Als Tapara sah, was geschehen war, verwandelte er sich in den Mond. Es gelang ihm jedoch nicht, Purukapalis Rache zu entgehen. Obwohl er ewig neugeboren wird, muss er immer wieder für drei Tage sterben. Bei klarer Nacht kann man auf dem Gesicht des Mondmannes die Wunden sehen, die er beim Kampf mit Purukapali vor langer Zeit davontrug. Bima, seine Geliebte und Mutter des toten Kindes, verwandelte sich in den Brachvogel, der nächtlich noch immer im Wald herumstreift und voll Reue den einstigen Fehltritt und das auf tragische Weise verlorene Kind beklagt.
Mit der rituellen Aufführung dieser Traumzeitgeschichte wird zeremoniell gesichert, dass der spirit des Verstorbenen in die Welt der Toten kommt und dort seine Ruhe findet. Die Zeremonie ist mehr als nur das Ende der Trauerzeit. Neben der Totenklage und der Trauer werden gleichzeitig das Prestige und der soziale Status des Verstorbenen zur Schau gestellt und gewürdigt. Sie sichert einen Kodex respektvollen Verhaltens der Trauernden gegenüber dem spirit des Verstorbenen. Diese jahrhundertealte Zeremonie wird noch heute ausgeführt, es gibt sie nur auf den beiden Inseln.
Wenn ein Tiwi stirbt, wird er am selben Tag in der Nähe der Gräber seiner Verwandten bestattet. Das Hauptereignis in der Pukamuni-Zeremonie ist ein sehr komplexes Ritual, das mehrere Monate nach dem Tod einer Person durchgeführt wird. Die Verwandten des Verstorbenen müssen sich um die Beschaffung der geschnitzten und bemalten Pfosten kümmern, die um den Begräbnisplatz herum aufgestellt werden. Eine oder zwei Wochen vor dem Termin erteilen sie den Schnitzern auf rituelle Art einen Auftrag. Entferntere männliche Verwandte bekommen symbolisch Werkzeug und Material „geschenkt“. Sie schnitzen die Pfosten und bemalen sie. Jeder Arbeiter ist für einen Pfahl verantwortlich; er sucht seinen Baum selbst und fällt und beschnitzt ihn, wobei er nur eine Axt benutzt, bis die erwünschte Form erzielt ist. Dann folgt die Feuerbehandlung des Pfahls, um die Oberfläche zu trocknen und einen schwarzen Untergrund zu erzeugen, auf welchen die Muster gemalt werden. Dann werden die Pfähle in der Nähe des Grabes aufgestellt und bemalt. Pinsel, Paletten und andere Malutensilien werden aus Blättern, Papierrinde und Zweigen gefertigt. Die Künstler verwenden Muster, die Eigentum der Familie des Verstorbenen sind und die sich auch in der Körper- und Korbmalerei, die mit der Pukamuni-Zeremonie zusammenhängt, wiederfindet. Die Pfähle sind bis zu 4 m hoch. Sie werden in Gruppen von 12 – 20 Pfählen in einer bestimmten Anordnung um das Grab herum aufgestellt. Wenn die Pfähle fertig sind, räumen die Arbeiter das Gebiet für die Tänzer. Auch sie erhalten Geschenke als „Bezahlung“ für ihre Arbeit. Außerdem wächst ihr Prestige durch eine eindrucksvolle Schnitzerei. Mit der Ausstattung der Zeremonie mit möglichst vielen Pfählen und exzellenter Bemalung kann die Familie des Verstorbenen ihr Prestige und ihre Autorität vorführen. Die Bemalungen erzählen die Lebensgeschichte des Verstorbenen und die seiner Vorfahren. Die Pfosten und auch alles andere Zubehör der Zeremonie, wie Rindentaschen, Zeremonialspeere, Schmuck etc. enthalten „imunga“ (Lebenskraft). Die Pfähle verkörpern menschliche Wesen, sie enthalten den „mopaditi“, den spirit des Verstorbenen. Dieser will sich wieder mit der Familie vereinen, was aber für die Überlebenden gefährlich ist. Der spirit beobachtet aufmerksam den weiteren Verlauf der Zeremonie.
Während die Pfosten aufgestellt werden, singen und tanzen die Schnitzer den Inhalt der Geschichten ihrer Malereien, so dass die Trauernden die verwendeten Symbole interpretieren können. Der Begräbnisplatz mit den Pukamuni-Pfosten ist für die nächsten zwölf Stunden der Mittelpunkt intensiver und dramatischer Aufführungen von Gesängen und Tänzen. Aufwändige Körper- und Gesichtsdekorationen sind fester Bestandteil dieser Zeremonie Die Tänzer bewegen sich um die einzelnen Grabpfosten. Sie stellen durch die Tänze Episoden aus dem Leben des Verstorbenen dar. Die Pfähle werden als Requisiten benutzt, wenn eine Geschichte, die auch auf den Grabpfahl gemalt ist, in Form eines Tanzes erzählt wird. Die Trauernden weinen, wehklagen und schlagen sich mit Stöcken, um ihrem Schmerz Ausdruck zu geben. Wenn die Zeremonie zu Ende ist und die Trauernden den Platz verlassen, ist der spirit des Toten zufrieden und geht ins Totenland.
Das Verbot für Fremde, diesen Platz zu betreten, wird aufgehoben, und die Pfosten werden dem Verwitterungsprozess des tropischen Buschs überlassen. Wie viele andere Kunstwerke der Ureinwohner haben sie, nachdem sie ihre rituellen Zwecke erfüllt haben, für ihre Schöpfer keinen Wert mehr.
Der Umgang mit dem Tod und den Toten ist bei den vielen Stämmen in Australien sehr unterschiedlich. Viele Handlungen sind heilig und geheim (sacred and secret), manche werden auch öffentlich vorgenommen. Viele Ureinwohner erhalten heute ein christliches Begräbnis, aber bestimmte zeremonielle Handlungen werden auch dann für die Verstorbenen ausgeführt. Wichtig ist, dass der Respekt vor dem Toten gezeigt und für seinen spirit der Weg ins Totenland geebnet wird – im Interesse der kommenden Generationen.
Ein Beitrag von Dr. Birgit Scheps-Bretschneider
Beitragsbild: Sharina Carter, Djomi, Maningrida, N.T.: Milky Way, 2008. Privatbesitz
Literaturhinweise:
Isaacs, Jennifer: Tiwi: Art – History – Culture– The Miegunyah Press, Melbourne University Publishing, 2012
Scheps, Birgit: Der Kontinent der Träume, Leipzig 2000.
Scheps, Birgit: Marayin – Die spirituelle Welt der Ureinwohner des Arnhemlands, Australien. Kleines Mythologisches Alphabet. Edition Hamouda: Leipzig, 2016.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.