In den nachvedischen Texten Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad (BĀU), Chāndogya Upaniṣad (ChU) und Aitareya Āraṇyaka (AĀ), alle grob um 600 v. Chr. entstanden, wird die herausragende Stellung des Atems gegenüber anderen Lebensfunktionen (Hörsinn, Sehsinn, Verstand, …) auf verschiedene Weise und in Form kleiner Geschichten aufgezeigt. Alle diese Rangstreitfabeln sind unterhaltsam. Und einige von ihnen enthalten methodisches Wissen, das in neuem Gewand in den Schriften des Mathematikers und Ökonoms Lloyd Shapley (Wirtschafts-Nobelpreis 2012) und des Soziologen Richard Emerson wieder auftaucht.
Zwei kleine Rangstreitfabeln
Schon kurz nachdem die Lebensfunktionen, nämlich die Sprache, der Hörsinn, der Sehsinn und der Atem erschaffen waren, gerieten sie in einen Wettstreit darüber, wer von ihnen die wichtigste sei (BĀU 1.5.21). Dann jedoch packt der Tod die Sprache, den Gehörsinn und den Sehsinn und macht sie träge und müde. Nur den Atem kann der Tod nicht ergreifen und träge machen. Die anderen Lebensfunktionen erkennen daran, dass der Atem die beste unter ihnen ist. Vielleicht meint „Tod“ hier den Schlaf, der die Menschen übermannt, aber nicht am Atmen hindert?
Ganz explizit hat die zweite von mir ausgesuchte Begründung für die Wichtigkeit des Atems (ChU 4.3.3) mit dem Schlaf zu tun: Wenn ein Mensch schläft, geht seine Sprache in den Atem ein. Ebenso gehen der Sehsinn, der Hörsinn und der Verstand in den Atem ein. Somit ist der Schlaf der „Einsammler“.
Beide Begründungen sind interessant, aber nicht zu verallgemeinern. Mich als Ökonomen interessieren andere Fabeln, die einen gesellschaftlichen Bezug haben.
Rangstreitfabel mit reihenweisem Aus- oder Eintreten
Einige Rangstreitfabeln verwenden Methoden, die auch für andere Gebiete angewandt werden können. Wieder einmal (in AĀ 2.1.4) streiten sich die Lebensfunktionen um ihren Rang. Eine schreit: „Ich bin die Hymne“ (aham uktham asmi), was man mit „ich bin der Größte“ übersetzen kann. Daraufhin erwidert die andere: „Nein, ich“. Um ihren Streit in geordnete Bahnen zu lenken, verabreden sie sich, den Körper nacheinander zu verlassen. Die hervorragendste Funktion ist diejenige, bei deren Verlassen der Körper fällt. Zunächst tritt die Sprache aus, aber der Körper kann weiterhin sehen und hören, essen und trinken. Danach sind der Sehsinn, der Hörsinn und der Verstand an der Reihe. Schließlich verlässt der Atem den Körper. Und sofort fällt der Körper.
Eigentlich ist damit alles klar. Aber zur Sicherheit überprüfen die Lebensfunktionen die Eminenz des Atems noch einmal, diesmal durch reihenweises Eintreten in den Körper, in der gleichen Reihenfolge. Erst als der Atem als letzter eintritt, kann der Körper aufstehen.
Der Kommentator Sāyaṇa (ungefähr 14. Jahrhundert n. Chr.) schreibt, dass die Lebensfunktionen hier die Vereinbarung treffen, durch ein Experiment zu klären, welche die wichtigste ist. Lediglich zu behaupten, die Hymne zu sein, hilft eben nicht weiter.
Rangstreitfabel mit alternativem Aus- und Eintreten
Ein anderes Mal wenden sich die Lebensfunktionen an den Schöpfergott Brahma. Dieser schlägt ein etwas anderes Verfahren vor (BĀU 6.1). Zunächst verlässt die Sprache den Körper. Sie bleibt ein Jahr weg und kehrt dann zurück. Nach ihrer Rückkehr fragt sie die Zurückgebliebenen, wie es ihnen ergangen sei. Sie sagen: „Wir konnten zwar nicht sprechen, aber wir konnten mit dem Atem atmen, mit dem Auge sehen, mit dem Ohr hören, mit dem Verstand denken und mit dem Samen uns fortpflanzen.“
In ähnlicher Weise verlassen Sehsinn, Hörsinn, Verstand und Samen den Körper jeweils für ein Jahr und kehren zurück, bevor dann die nächste Lebensfunktion den Körper verlässt. Schließlich ist der Atem an der Reihe. Die anderen merken, dass sie den drohenden Austritt des Atems nicht einmal als Experiment riskieren dürfen, und bitten den Atem, er möge bleiben.
Der Atem lässt sich überreden zu bleiben, aber er verlangt einen Tribut, den die anderen ihm sofort zusagen. Jede Funktion gibt nach ihrem Vermögen. So bietet Samen als Tribut an: „Da ich die Fruchtbarkeit bin, wirst Du die Fruchtbarkeit sein.“ Offenbar hat die Austrittsdrohung des Atems ein viel höheres Gewicht als die Austrittsdrohungen der anderen Lebensfunktionen.
Durch dieses alternative Aus- und Eintreten klären die Funktionen ihren Rangstreit. Śaṅkara (ungefähr 700 n. Chr.) betont, dass dieses Verfahren eine Methode ist, die man lehren kann, die also auch auf andere Sachverhalte Anwendung finden könnte. In der Tat.
Die Shapley-Formel
Die Methode des Aus- und Eintretens ist so genial, dass sie viel später nochmals erfunden wurde. Der Mathematiker und Ökonom Lloyd Shapley hat 1953 die so genannte Shapley-Lösung eingeführt. Ohne die Shapley-Lösung zu kennen, hat der Soziologe Richard Emerson 1962 seine vielbeachtete Theorie der Abhängigkeit präsentiert. Diese neuzeitlichen Autoren haben Grundideen entwickelt, die bereits in den mehr als 2500 Jahre alten indischen Texten enthalten sind.
Beide Autoren beziehen sich auf „individuelle Wirkungen“. Was bewirkt eine Lebensfunktion, die den Körper verlässt bzw. in ihn eintritt? Was bewirkt ein Staat, der die Europäische Union verlässt, zum Beispiel in Bezug auf die Nettopositionen der übrigen Staaten? Was bewirkt eine Frau, die ihren Mann verlässt?
Bei der Shapley-Lösung betrachtet man für eine Reihenfolge die individuellen Wirkungen aller Beteiligten, seien es Menschen, Staaten oder Lebensfunktionen. Beispielsweise könnte man überlegen, welche Wirkung es hat, wenn zunächst Großbritannien, dann Frankreich und so weiter die EU verließen, der Reihe nach. Die individuelle Wirkung der jeweils die EU verlassenden Länder könnte man diesen zurechnen. Bei der Shapley-Lösung betrachtet man nicht nur eine oder zwei Reihenfolgen, sondern alle möglichen. Und dann rechnet man den einzelnen Ländern den Durchschnitt ihrer individuellen Wirkungen zu. Die Shapley-Lösung findet unter anderem Anwendung bei der Berechnung des Preises auf Märkten oder bei der Bestimmung der Macht von Parteien in Parlamenten. Numerische Berechnungen finden sich dagegen nicht in der Aitareya Āraṇyaka, in dem die Methode des reihenweisen Aus- oder Eintretens viel früher beschrieben wird.
Emersons Theorie der Abhängigkeit
Der Soziologe Richard Emerson stellt das zunächst erstaunende Postulat auf, dass Abhängigkeiten zwischen Personen A und B oder zwischen Lebenskräften A und B (nicht sein Beispiel natürlich!) symmetrisch sind. A ist von B genauso abhängig wie B von A. Wie kann das sein? Ist der Gehörsinn nicht vom Atem abhängiger als der Atem vom Gehörsinn? Es geht doch dem Gehörsinn viel schlechter, wenn der Atem den Körper verlässt, als umgekehrt. Gerade dies hat uns doch die Fabel über das alternative Aus- und Eintreten gelehrt.
Ja, schon. Aber dann verlangt der Atem einen Tribut von den anderen. Und dieser Tribut entgeht dem Atem, wenn die anderen Lebensfunktionen ihn verlassen. Zudem sind die Tributzahlungen nicht mehr notwendig, wenn der Atem die anderen Lebensfunktionen verlässt. Aus der Sicht Emersons müssten die Tributzahlungen gerade so hoch sein, dass der Schaden, den der Atem durch Verlassen einer anderen Lebensfunktion zufügt, gerade so hoch ist wie umgekehrt.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung: D (eine Dame) und H (ein Herr) verbringen ihre Abende gerne mit Brettspielen. Ihr Lieblingsspiel ist “Dame”, das seinige “Halma”. Sie verwenden auf diese zwei Spiele etwa gleich viel Zeit. Wenn D den H nun nicht mehr zum Brettspielen trifft, geht es H schlechter als vorher. Spielen macht Spaß. Emerson würde sagen: H ist von D abhängig. Abhängigkeit besteht hier, weil D dem H entgegenhalten kann: „Wo wärst Du ohne mich?“ Aber, und das ist der Clou bei Emerson, die Abhängigkeit ist langfristig symmetrisch oder ausgewogen. Denn wenn umgekehrt H die D verlässt, geht es ihr ebenfalls schlechter. Stellen wir uns nun vor, dass der H einen weiteren Brettspielfreund G (dessen Lieblingsspiel “Go” ist) kennen lernt. H kann nun entweder mit D oder mit G zusammen einen Spielabend verbringen. In der Folge ist die Situation zwischen D und H nicht mehr ausgewogen. D würde mehr leiden, wenn sich H nicht mehr mit ihr trifft als umgekehrt. Um die Ausgewogenheit erneut herzustellen, spielen H und D zusammen in zwei Drittel der Zeit Halma, das Lieblingsspiel von H. Dadurch ist die „Wo wärst Du ohne mich?“-Drohung wieder ausgewogen.
Abhängig und unabhängig
Welche Beziehung besteht nun zwischen der Shapley-Lösung und der Ausgewogenheit im Sinne von Emerson? Die Shapley-Lösung ist ausgewogen. Sie hat die Eigenschaft, dass eine Lebensfunktion A (oder ein Staat oder eine Person) durch Zurückziehen eine andere Lebensfunktion B (einen Staat oder eine Person) genauso schädigt wie umgekehrt B, durch ihren Rückzug, A schädigen könnte. Also: Emerson beschreibt die Handlungen, die zur Ausgewogenheit führen, während die Shapley-Lösung diese Ausgewogenheit schon impliziert. Und beide Methoden sind in nachvedischen Texten bereits beschrieben. Frappierend ist die unabhängige Entdeckung dieser miteinander eng verwandten Ideen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten.
Eine Nutzanwendung zum Schluss. Abhängigkeit ist auf die Dauer symmetrisch. Denken Sie daran, wenn Ihr Partner Sie jemals mit „Wo wärst Du ohne mich?“ konfrontieren sollte. Vermutlich zahlen Sie ihm oder ihr schon lange hinreichend Tribut.
Ein Beitrag von Prof. Harald Wiese
Harald Wiese hat Indogermanistik, Volkswirtschaftslehre und Mathematik in Freiburg, Cork und Bayreuth studiert. Er ist seit 1994 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Seit mehr als zehn Jahren lernt er Sanskrit. Dabei hat ihm der Blick auf Sanskrit als eine indogermanische Sprache sehr geholfen. Sein Hauptinteresse gilt der Betrachtung von altindischen Texten aus dem Blickwinkel ökonomischer Theorien. Sein Aufsatz über die Rangstreitfabeln ist frei zugänglich unter doi:10.1017/S0041977X22000817.
Literaturhinweis:
Patrick Olivelle: The early Upaniṣads. Annotated text and translation. New York: Oxford University Press 1988.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.